Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Das Schutzgebiet Tsingtau [Auszug]

von Alfred Meyer-Waldeck
 

Vorbemerkungen des Redakteurs

Der seit 1911 in Kiautschou amtierende Gouverneur Alfred Meyer-Waldeck gehörte zu den überzeugten Vertretern des Kolonialgedankens im Deutschen Reich. Im Herbst 1914 wurde er durch die Leitung der Verteidigung zum "Helden"; als "neuer Leonidas" gar wurde er in den Medien bezeichnet. Aus heutiger Sicht bestand freilich sein größtes Verdienst darin, rechtzeitig zu erkennen, ab wann die Verteidigung sinnlos wurde.

Wie andere hohe Offiziere setzte sich Meyer-Waldeck auch in den 1920er Jahren weiter für den Koloniengedanken ein. Als das Vorkriegs-Standardwerk "Die Deutschen Kolonien" 1925 als "Jubiläumsausgabe" neu erschien, lag es deshalb nahe, ihn um die Abfassung des Kiautschou-Kapitels zu bitten.1

Den größten Teil seines Beitrags widmete Meyer-Waldeck der Entstehung bzw. dem Aufbau des Pachtgebiets, wohingegen er sich über die letzte Phase (Krieg) und seine eigene Gefangenschaft nur knapp auslies. Für Zwecke unseres Projekts sind natürlich gerade die letzten, kurzgefaßten Teilbereiche (Seite 341-344) von Interesse, weshalb sie hier abgedruckt werden. Im Übrigen hat der Ex-Gouverneur sich zu diesem Thema – im Gegensatz etwa zu Vollerthun und anderen – auffällig selten geäußert.

Der Text wird unverändert übernommen, jedoch mit Zwischenüberschriften versehen. Anmerkungen des Redakteurs sind in [ ] oder als Fußnoten hinzugesetzt.
 

Inhalt

   
 

Krieg

So schien unser Schutzgebiet die auf seine Entwicklung gesetzten Hoffnungen in weitgehendem Maße erfüllen zu wollen, als [1914] der Weltkrieg ausbrach und die Kolonie vor die letzte schwere Aufgabe, die Selbstverteidigung, gestellt wurde.

Die Friedensbesatzungsstärke des Schutzgebietes betrug nur rund 2400 Mann und setzte sich aus dem dritten Seebataillon und der Matrosenartillerie zusammen. Hinzu kam noch das ostasiatische Marinedetachement von rund 500 Köpfen, das in Peking und Tientsin stationiert war.

Aber alles was sich an wehrfähigen Deutschen im fernen Osten befand, wollte es sich nicht nehmen lassen, das Stückchen deutscher Erde dort verteidigen zu helfen. Der Zustrom an Reservisten überstieg die kühnsten Erwartungen. Nach und nach kamen, zum Teil nach Überwindung der größten Schwierigkeiten, 75 Offiziere, und 1400 Mann, also 50 % der Friedensbesatzung. Die blühende Kolonie war mit einem Male in ein großes Militärlager verwandelt worden.

Die Armierung des Schutzgebietes mit Geschützen und Munition war recht dürftig. Tsingtau war kein Port Arthur und sollte auch keines werden.2 Der Ausbau der Befestigungen war aber vor Kriegsausbruch zu einem gewissen Abschluß gekommen, namentlich durch die Fertigstellung von fünf Infanteriewerken, die sich im Abstande von 5 bis 6 km von der Stadt nach Nordosten hin im Halbkreise um das Stadtgebiet herumlegten. Die Verteidigung, die erst nur gegen chinesische Unruhen gedacht war, konnte jetzt auch gegen jede europäische Macht solange durchgehalten werden, bis zu Hause die Entscheidung gefallen war.3 Nur Japan konnte gefährlich werden und Japan dem Schutzgebiete vom Hals zu halten, wäre die Aufgabe und Pflicht der Diplomatie gewesen.4

Über die Haltung Japans sollte man in Tsingtau nicht lange im Zweifel bleiben. Am 16. August kam die Kunde von jenem berüchtigten Ultimatum Japans, wonach das gesamte Pachtgebiet Kiautschou bedingungslos und ohne Entschädigung bis zum 15. September an Japan ausgeliefert werden sollte. Diese nach Form und Inhalt gleich unerhörte Forderung konnte in der Kolonie nur einen Sturm der Entrüstung auslösen.5 Im Schutzgebiet gab es für die Beantwortung des Ultimatums nur eine Meinung: Tsingtau kampflos preiszugebe, wäre des Grab unserer Ehre im fernen Osten geworden. Kein Deutscher hätte sich in Ostasien wieder blicken lassen können. Tsingtau auf die Dauer gegen Japan mit seinen Tsingtau gegenüber unerschöpflichen Hilfsquellen zu halten, war ein Ding der Unmöglichkeit. Mußte es fallen, so durfte es nur in Ehren fallen! Um dieser Stimmung der Kolonie Ausdruck zu verleihen, wurde am 18. August ein Telegramm an den Kaiser geschickt: "Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten."

Japan erhielt, wie man in Tsingtau gehofft hatte, als einzige richtige Antwort, keine Antwort.

Am 15. August erschien vor der Bucht die japanische Blockadeflotte.6 Von da ab blieb Tsingtau bis zum Schluß der Belagerung von See her hermetisch abgeschlossen.

Am 2. September erfolgte die Landung der japanischen Truppen an der Nordküste Schantungs. Bis zum 28. September währten die Kämpfe im Vorgelände, das von den braven Truppen zäh verteidigt wurde. Am 28. September war auch von Land her die völlige Einschließung vollzogen und die Außentruppen mußten hinter die schon erwähnten fünf Infanteriewerke zurückgenommen werden. Während des Oktober trafen die Japaner alle Vorbereitungen für einen planmäßigen Festungsangriff und stellte ihre Belagerungsartillerie auf, die sich aus 165 modernen Geschützen bis zum 28-Zentimeter-Kaliber zusammensetzte.

Am 29. Oktober begann die allgemeine Beschießung von See und von Land aus, die mit nur kurzen Pausen neun Tage lang ununterbrochen bis zum Fall von Tsingtau andauerte. Die feindlichen Laufgräben waren bis an die fünf Infanteriewerke herangeführt. Nachdem mehrere Sturmversuche abgewiesen waren, setzte in der Nacht vom 6. zum 7. November der allgemeine Sturm ein. Tsingtaus Verteidigungsmittel waren erschöpft. Als der Durchbruch der Japaner erfolgte, waren unsere letzten Granaten verschossen, unsere letzten Geschütze gesprengt. Um weiteres unnützes Blutvergießen zu vermeiden, vor allem auch, um den Kampf mit den dann unübersehbaren Folgen nicht in das Innere der Stadt zu tragen, wurde am 7. November morgens auf Signalstation und Observatorium die weiße Fahne gesetzt. Tsingtau war in japanischen Händen!
 

Exkurs: Zusammenfassung der Kriegshandlungen durch Leutwein7

Für Kiautschou erwies es sich als gegeben, alle Streitkräfte in der befestigten Hauptstadt Tsingtau zu vereinigen. Von hier aus wurden bis zur Einschließung des Platzes Vorfstöße gegen die vorrückenden Japaner unternommen. Die Einschließung zu Lande erfolgte durch japanische Truppen, die zur See durch ein vereinigtes japanisch-englisches Geschwader. Ein allgemeiner Sturm der Belagerer zu Lande am 21. September prallte vollständig ab unter Verlust von 2500 Mann.8 Selbstverständlich konnte der Widerstand Tsingtaus nur von kurzer Dauer sein, zumal der Feind seine Angriffe mit Energie betrieb und auf eine schnelle Entscheidung drängte. Es muß als ein Wunder angesehen werden und stellt dem Geist der Verteidiger unter dem Gouverneur Meyer-Waldeck, einer kernigen Seemannsnatur, das beste Zeugnis aus, daß sich Tsingtau bis Anfang November hielt. Besonders litten die Verteidiger unter dem Bombardement von der See her mit schweren Schiffsgeschützen. Endlich am 7. November 1914 gelang es den Japanern, den gesamten Verteidigungsring zu durchbrechen. Auf Befehl des Kaisers, den der Gouverneur telefonisch anfragte, entschloß sich Meyer-Waldeck zur Übergabe.9
 

Besatzungszeit

Die ganze Besatzung wurde in japanische Kriegsgefangenschaft abtransportiert und ist dort über fünf lange Jahre in verschiedenen Lagern der Willkür untergeordneter Stellen ausgesetzt gewesen. Von "ritterlicher Behandlung" wußten nur die deutschen Zeitungen zu erwählen. Die Berichte der Gefangenen klingen ganz anders.10

Aber nicht nur alles, was sich nur irgendwie am Kampfe beteiligt hat, wurde nach Japan gebracht; nach und nach wurden auch noch die wenigen übrig gebliebenen Deutschen bis auf einen kleinen Rest entweder aus Tsingtau ausgewiesen oder nach Japan verschleppt. Auf diese Weise wurde man lästige Augenzeugen los. Alles deutsche Gouvernementseigentum wurde beschlagnahmt, und es wurde von den Japanern bestimmt, was als solches abzusehen war! So wurden Privathäuser, in denen Gouvernementsbeamte gewohnt hatten, einschließlich deren Möbel, ebenso Privathäuser, in denen die Reservisten im Privatquartier gelegen hatten, durch japanisches Dekret [als] fiskalisch erklärt und beschlagnahmt. Nicht besser erging es dem Privateigentum der Schantung-Eisenbahn und Bergbaugesellschaft-Aktiengesellschaft. Wo eine Beschlagnahme nicht möglich war, versuchten die Japaner möglichst viel deutsches Grundeigentum, namentlich in den wertvollen Stadtteilen, durch Zwangsversteigerungen zu billigen Preisen in ihren Privatbesitz zu bekommen. Hafen und Stadtanlagen wurden während der Kriegsjahre in gutem Zustande erhalten. Für den japanischen Zustrom wurden viele japanische Wohnungen erbaut, auch japanische Fabriken wurden errichtet. Der Handel aber beschränkte sich nur auf den Verkehr mit Japan und wollte auch nach dem Friedensschluß nicht wieder aufleben. Der chinesische Kaufmann war vom Japaner verdrängt, der auch gegenüber den Europäern und Amerikanern Erleichterungen und Bevorzugungen im Handel genoß.

Nach den Artikeln 156 bis 158 des Friedensdiktats von Versailles hat Deutschland auf alle durch den Kiautschou-Vertrag von China erworbenen Rechte zugunsten Japans zu verzichten. Alles deutsche Staatseigentum im Kiautschou-Gebiet, ebenso Eisenbahn und Bergwerke und die Unterseekabel werden japanisches Eigentum. Für diesen Raub wurde nicht einmal die Maske des Mandats für notwendig gehalten, wie bei den übrigen Kolonien. China aber protestierte gegen diese Schantung-Paragraphen und hat den Vertrag von Versailles nicht unterschrieben, ebensowenig wie Amerika, auf dessen Unterstützung China rechnete.
 

Ausblick

Auf der Konferenz von Washington im Januar 1922 mußte sich dann Japan dazu bequemen, mit China einen "Vertrag über Schantung" zu schließen. Nach diesem Vertrag gibt Japan das frühere deutsche Schutzgebiet Kiautschou einschließlich allen früheren deutschen staatlichen Eigentums kostenlos an China zurück. [...] Der Vertrag soll spätestens sechs Monate nach Schluß der Konferenz zur Ausführung gebracht werden.11

Die Zukunft wird zeigen, wie weit dieser, für China sehr günstige Vertrag von Japan loyal ausgeführt werden wird. Für Deutschland ist der Vertrag von großer Bedeutung, weil er wieder die Tätigkeit Deutscher in Tsingtau ermöglicht, sei es in selbständiger Betätigung, sei es im Dienste der chinesischen Verwaltung oder im Zusammenarbeiten mit Chinesen. [...] China hat im Schutzgebiet kennen gelernt, was Deutschland auf allen Gebieten zu leisten imstande ist; es hat such den Beweis gesehen, wie vorzüglich und verständnisvoll Deutsche und Chinesen zusammen wirken und arbeiten können. Es hat vor allen Dingen die Überzeugung gewonnen, daß die Interessen Deutschlands und Chinas Hand in Hand gehen. Und das ist der bleibende Wert unserer Arbeit im Schutzgebiet Kiautschou, die ihre reichen Früchte tragen wird, denn das Riesenreich China ist das Land der noch unbegrenzten Handels- und Wirtschaftsmöglichkeiten.12
 

Anmerkungen

1.  Herausgegeben von Kurd Schwabe und Paul Leutwein, Berlin: Carl Weller, S. 321–344. Die Kolonialpropaganda war auch in den 1920er Jahren noch weithin akzeptiert; sie galt keineswegs als "extrem", wie z.B. die Tatsache belegt, dass kein Geringerer als Konrad Adenauer 1931 bis 1933 Geschäftsführender Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft war. (Siehe aber Fußnote 12.)

2.  Die russische Garnison von Port Arthur wurde 1904/05 von etwa 50.000 Mann verteidigt.

3.  Eine Festungskriegsübung vom November 1913 war vom Fall Tsingtaus am 43./44. Tag einer Belagerung ausgegangen (Artelt, S. 216).

4.  Es ist unklar, gegen wen sich der hier herauszulesende Vorwurf richtet.

5.  Der Autor verdrängt hier, dass die "unerhörte" Form dem entsprach, was die deutsche Diplomatie 1895 gegenüber Japan praktiziert hatte.

6.  Richtig wäre: 27. August; es ist unklar, worauf dieser grobe Fehler beruht.

7.  Leutwein, Mitherausgebers des Werkes, fasst hier (Seite 2-3 des Originals) die Kriegshandlungen in Kiautschou zusammen.

8.  Auch hier ist das Datum grob falsch; die angegebene Verlustzahl beruhte auf Gerüchten.

9.  Einen "Befehl" des Kaisers hat es nicht gegeben, gar nicht zu reden von einer "telefonischen" Übermittlung.

10.  Der Autor fasst hier zusammen, was er von seinesgleichen, d.h. von den Offizieren, mitgeteilt bekam; die Berichte der einfachen Soldaten ergeben großenteils ein anderes, zumindest differenzierteres Bild.

11.  Die Formulierung deutet darauf hin, dass der Beitrag etwa 1922 geschrieben wurde, d.h. drei Jahre vor der Drucklegung.

12.  Meyer-Waldeck geht, was China betrifft, implizit von einer vollständigen Gleichberechtigung der Beziehungen aus. Später hat er das auch klargestellt: "Eine Restitution [Tsingtaus] kommt nicht in Frage. Tsingtau wird unter chinesischer Hoheit wiedererblühen" (in: Der Kolonialdeutsche, 7. Jg. [1927], Nr. 23, S. 377). Bemerkenswert ist ferner, dass er über die künftigen Beziehungen zu Japan kein Wort verliert.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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