Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Meine Heimreise 1914/15

von Max Pechstein
 

Der berühmte Maler Max Pechstein ist nicht in Tsingtau und auch nur kurz in japanischer Gefangenschaft gewesen. In seinen 1945/46 geschriebenen Lebenserinnerungen schildert er jedoch sehr plastisch seinen Weg aus der Südsee (Herbst 1914) über Japan, die Philippinen, die USA bis zum Eintreffen in Deutschland (Herbst 1915).
Quelle: Max Pechstein: Erinnerungen. Mit 105 Zeichnungen des Künstlers. Herausgegeben von L. Reidemeister. Wiesbaden: Limes Verlag 1960, Seite 90-100.
 

[...] Wieder sind wir auf Madelai angekommen. Von nun an verrinnen meine Tage in stetem Gleichmaß. Alles ist wohlgeordnet. Ich arbeite. Nicht nur, daß ich schnitze - ich male, vollende einige Bilder, bespreche mit dem Stationsvorsteher meinen Plan, nun auch ein eigenes Haus auf eigenem Land zu erbauen. Er ist mir behilflich. Von Eibedul erwerbe ich ein Eiland, nicht weit von Modulai, mit einer wunderschönen, kleinen halbrunden Bucht; Süßwasser ist auch darauf, Fruchtbäume, Tarofelder, wilde Ziegen und Schweine. Geflügel und Fische gibt es ja sowieso, so daß ich nicht mehr noch der Ernährung zu fragen brauche, deren Beschaffung ich jetzt vollkommen in die Hände Auchells lege. Er bekommt meinen Zwilling, um, wenn nötig, das frische Fleisch zu schießen, was er ausgezeichnet besorgt. Nur muß ich damit rechnen, daß er dann den langen Tag über fernbleibt und erst abends mit Beute beladen zurückkehrt. Bäume werden geschlagen und Matten geflochten. Ich bereite mich vor, mein eigenes Haus zu bauen. Hin und wieder weilte ich bei dem Stationsleiter, der immer unruhiger wurde und mir einmal gestand, er vermisse seit einem Vierteljahr die amtliche Post von Yap, wo der Sitz des Bezirksamtmanns war. Eines Tages erschien er aufgeregt bei mir und sagte, es sei Krieg in Europa. Ich möge mich auf den Weg machen und hinunter noch Angaur segeln, woselbst ich sicher Bestimmteres erfahren werde. Diese Ungewißheit drückte uns. Wir konnten uns freilich nicht denken, daß wir auf Palau, in diesem abgelegenen Winkel der Erde, in Mitleidenschaft gezogen würden. Jedoch, wer kann das wissen?

Ich machte mich mit dem großen Boot auf. Wir übernachteten auf Peliliou vor der sogenannten Palau-Enge, in der eine gefährliche, reißende Strömung von Osten noch Westen vorherrschte. Unruhig war die Nacht, bis wir früh losschlugen und dort herumkreuzten, um vor Angaur die Landestelle zu gewinnen.

Es war so, es war Krieg. Mit klopfendem Herzen vernehme ich auf Angaur von dem Grauen, das über die Heimat gekommen ist. Die Funkverbindung von Angaur nach Yap ist nur behelfsmäßig ersetzt. Mit dieser Kunde nehme ich den Weg zurück, und wir horchen weiter, der Stationsleiter und ich, traurig über dies Geschehen. Bald erschien auch als ein greifbares Zeichen der Zeit der "[Prinz] Eitel Friedrich", der zum Hilfsschiff der Kriegsmarine geworden war, und ankerte oben bei uns, um die Kohlen zu übernehmen, die bei meiner Ankunft der japanische Kohlendampfer dorthin gebracht hatte.

Im Oktober ist mein Traum ausgeträumt. Die Japaner kommen in den Archipel, um von ihm Besitz zu ergreifen. Ich bin plätzlich ein Feind geworden, der sich vor einer gegnerischen Kriegsmacht sieht. Ich werde in meinem Haus gefangengehalten und schließlich wieder freigelassen, kann mich aber nur mit japanischer Begleitung bewegen. Im ganzen werde ich nicht schlecht behandelt, aber mit Arbeit und Ruhe, mit Schauen und Schaffen ist es vorbei. Diese Mischung von persönlichem Schmerz und Erschütterung über das Schicksal der Heimat, von der keine Nachricht herüberdringt, ist nicht zu ermessen. Nun beginnen zum Uberdruß auch noch äußere Schwierigkeiten sich aufzutürmen, die meinen glücklichen Erlebnissen im Paradies ein Ende bereiten.

Im Oktober muß ich alles zurücklassen. Es wird mir gestattet, mit meinem eigenen Boot zu dem japanischen Transportdampfer zu segeln. Die Palauer mußten in der Zeit die Korallenblöcke vor dem Schiff beseitigen, um eine fahrbare Rinne von der Durchfahrt im Riff bis zur Insel frei zu machen. Rubasach, Eibedul und die anderen brachten mir Reiseproviant, Säcke voll Bananen, Ananas, Orangen. Auch ihren eigenen Dauerproviant in Bambusstungen, gestampfte Brotfrucht, vermischt mit Saft vom Zuckerrohr, ich nehme Abschied.

Auchell wird grau im Gesicht. Mir selbst, ich muß es gestehen, kommen die Tränen, als ich die Treppe zum Bootshaus hinuntergehe und zum letztenmal von der Mole abstoße.

Zum letztenmal in meinem eigenen Segelboot auf den Wassern der Südsee steuert mich Auchell durch das Riff zu dem auf offener Reede liegenden japanischen Transportdampfer. Ich klettere das Fallreep in die Höhe, Auchell bringt mir den Reiseproviant nach, und ich treffe die ebenfalls gefangengenommenen Stationsleiter und Heilgehilfen von Palau an. Mein Hab und Gut ist zusammengeschrumpft auf eine Reisetasche und einige Kisten mit Arbeitsmuterial. Alles andere mußte ich zurücklassen, auch die Tropenanzüge, die ich besaß. Nur den einen, den ich auf dem Leibe trug, kann ich behalten, nebst einem europäischen Anzug. Auchell klettert am Fallreep auf das Boot hinab und verschwindet; der Dampfer nimmt Fahrt auf, und mein Paradies liegt bald weit hinter mir.

Nördlich ist der Kurs. Vor Yap wird noch einmal Halt gemacht, und es werden die dort befindlichen Deutschen übernommen. Nun treten sie gemeinsam mit uns dreien, nebst meiner Frau, die Fahrt noch Nagasaki in japanische Gefangenschaft an. In Nagasaki angekommen, wurden wir human behandelt. Nur mir ging es etwas schlecht, weil ich kein Geld besaß und mein Bankguthaben in Hongkong dahin war. Rühmend muß ich den amerikanischen Konsul Deichmann erwühnen, der Interesse für mich zeigte und mich mit Geld unterstützte, obwohl es ungewiß war, ob ich es ihm jemals zurückerstatten könnte. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Internierung währte. Es war wohl im November, als diejenigen deutschen Zivilisten, die einen Neutrolitätseid leisteten, nicht gegen Japan zu kämpfen, wieder in Freiheit gesetzt wurden. Uber einen Monat lebten wir auf eigene Kosten gruppenweise zusammengefaßt in Hotels und konnten uns in einem gewissen Umkreis von Nagasaki frei bewegen, allerdings unter Aufsicht eines japanischen Polizeimannes, der aber in Zivil war und Tagesberichte über unser Verhalten abgab. Wir konnten Tempel besuchen, ebenso Kinos, konnten in den Badeanstalten heiße Bäder nehmen und je nach unseren Geldverhältnissen kleine Einkaufe tätigen. Dies alles wäre mir ohne die tatkräftige geldliche Hilfe des amerikanischen Konsuls unmöglich gewesen. Ich hätte im Camp interniert bleiben müssen.

Es lief ein amerikanischer Dampfer an, der uns aufnahm und nach unseren Wünschen entweder nach Shanghai oder Manila brachte. Ich entschied mich für Manila, da ich hoffte, von da aus leichtere Verbindung über das neutrale Spanien mit Deutschland zu erhalten. In Manila wurden wir von dem deutschen Konsul auf einige im Hafen liegende Dampfer der deutschen Hamburg-Australien-Linie verteilt. Ich selbst und meine Frau kamen vorerst auf den kleinen Personendampfer, der uns am Anfang meiner Reise von Hongkong noch Palau befördert hatte. Später ebenfalls auf einem Frachtdampfer untergekommen, lebte ich auf Kredit der Schiffahrtsgesellschaft, bis im Frühjahr 1915 endlich Geld für mich aus Europa anlangte und mir Bewegungsfreiheit gab. Schon vorher hatte sich nach und noch die Zahl der Deutschen um diejenigen verringert, die den Weg noch Europa zurück suchten oder auf den Philippinen Unterschlupf zu finden hofften. Wenn auch das Leben soweit ohne Sorge war, man sich ungehindert in und um Manila selbst bewegen und aufhalten und Bekanntschaften schließen konnte, so war das doch kein Zustand auf die Dauer. Noch dazu die Ungewißheit über das Schicksal der in der Heimat verbliebenen Eltern, Brüder und Schwestern.

Immer drückender wurde die Sehnsucht noch der Heimat, und trotz mancher freundschaftlich und ernstgemeinter Vorschläge von amerikanischen Gastfreunden, bei ihnen das Ende des Krieges abzuwarten, machte ich mich auf, den Rückweg über USA zu versuchen. Bei Cook, dem weltbekannten englischen Reisebüro, kaufte ich für meine Frau und mich Fahrkarten für einen kleineren amerikanischen Passagierdampfer, einen Schnelldampfer, der ehemals eine Jacht war. Es fiel keineswegs auf, als wir an Bord gingen. Wir passierten die Hafenbewachung vor der Dreimeilenzone, die dort patrouillierte, um das Entweichen der im Hafen liegenden deutschen Schiffe zu verhindern. Natürlich gab es für mich jetzt nicht wie bei meiner Ausreise nach der Südsee den Aufenthalt in Erster Kajüte, meine Frau und ich mußten im Zwischendeck den Platz mit Farbigen teilen. So lernte ich auch diese Welt kennen, und manches Geschehen ließ mich die Gebräuche der Inder, Chinesen und Malaien erleben. Ich spielte mit einem Inder Schach, und nie gelang es mir, ihn zu schlagen. Aber das Spiel half mir über die Zeit hinweg, die ich vielleicht sonst mit unnützem quälenden Grübeln verbracht hätte.

Einmal lehnte ich im Morgengrauen an der Reeling am Vorschiff, als mich der Dritte Schiffsoffizier deutsch ansprach. Ich erschrak, wurde mißtrauisch und zurückhaltend; er aber verscheuchte meine Bedenken und sagte, daß er bereits in Manila über meine Nationalität im Bilde gewesen sei und ich keine Angst zu haben brauchte. Er gab mir dann die Erlaubnis, in dem auf Deck angebrachten Schwimmbassin zu baden und zu schwimmen sowie die Sportgeräte zum Frühsport zu benutzen, wobei mich der Punching-Ball nach dem Bade am meisten in Bewegung brachte. Derart konnte ich mich körperlich frisch erhalten, um den Klimawechsel zu überwinden.

In Honolulu stoppten wir das erste und einzige Mal auf dem Wege noch San Franzisko. Ich ging an Land und sah das kleine deutsche Vermessungsschiff "Kondor" an der Pier liegen, mit dessen Kommandanten ich gemeinsam die Ausreise auf der "Koblenz" gemacht hatte. Untätig lag die Bemannung fest. Nach Austausch unserer Erlebnisse folgte ich ihrer ortskundigen Führung ins Innere von Honolulu und an den Waikiki-Strund. Ein für mich neuartiger Eindruck war das Eindringen europäischer Zivilisation in das Leben der Südseebewohner. Abgesehen von einigen Gebräuchen, die mich schmerzlich berührten (wenn sie auch schön waren), war dieses Schauspiel nur, ich möchte sagen, für den Export und für die Touristen berechnet. Das Verblüffendste, was ich sah, waren Sperlinge, die ich hier das erstemal wieder antraf. Das Komischste war ein Europäer, barfuß, in einen Kittel aus Sackleinwand gehüllt. Mit wollendem Haupt- und Barthaar schritt er, einen aus einem Strick gewundenen Kranz auf dem Haupt, sich wohl einen Christus dünkend, durch die Straßen und deren Wolkenkratzer. Er erinnerte mich an unseren einheimischen Deutschen Gustav Nagel. Und wie mich dessen exaltierte sektiererische Art bereits in Deutschland als unwahr angeekelt hatte, so ging es mir hier mit diesem sonderbaren Menschen, der die Menge, das Geräusch aufsuchte, statt, wie er durch sein einsiedlerisches Gewand betonen zu wollen schien, in der Einsamkeit einer herrlichen Natur zu verbleiben.

Bei gutem Wetter ging es weiter, und ohne Schwierigkeiten fuhren wir durch Golden Gate in San Franzisko ein. Die Landungsformalitäten waren bald erledigt, da wir aus amerikanischem Gebiet, von den Philippinen, kamen. Nicht lange will ich mich bei alledem aufhalten. Es drängte mich vorwärts. Mit den wenigen Mitteln, die ich besaß, mußte ich schnellstens noch New York gelangen, um von da aus zu versuchen, nach Europa durchzukommen.

In New York mietete ich mir im Eastend ein kleines Zimmer und bemühte mich gleich vielen anderen, in den verschiedensten Berufen meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, immer hoffend auf das zur letzten Fahrt über den Atlantik benötigte Geld. Ein halbes Jahr mußte ich noch durchhalten, bis ich so viel hatte, um mir falsche Papiere zu kaufen und einen Heuerboß zu bestechen, mir eine Stelle als Trimmer auf einem neutralen Dampfer zu beschaffen.

Endlich, im September, erhielt ich den telefonischen Anruf, mich in Battery-Park vor einem Tabakladen mit ihm zu besprochen. Wir hatten Kennzeichen ausgemacht, und ich folgte ihm. Wir gingen nach Hoboken. Schon längere Zeit vorher hatte ich mich mit Heizerkleidung, Seemannswäsche, Eßgeschirr, Kopfkissen, Schlafdecken ausgestattet und war äußerlich nicht zu unterscheiden von den an den Piers herumlungernden "Seelöwen". Unerkannt zu bleiben war das Wichtigste, denn manch einer wollte sich die auf einen Deutschen ausgesetzte Fangprämie verdienen.

Eine halbe Stunde vor Abgang des Schiffes war ich angemustert, in die Schiffsrolle eingetragen und vom Heuerboß durch die Sperre auf den Dampfer gebracht. Natürlich mußte ich ihm gleich anfangs für seine Gefälligkeit 150 Dollar in die Hand drücken.

An Bord wies mir der Feuermann meine Koje in einem der drei mit je vierundzwanzig Feuerleuten belegten Schlaf- und Aufenthaltsräume für Trimmer an. Zwei Reihen von kastenartigen Verschlägen, die eine über der anderen, zogen sich rings um die Wände hin. Die Lagerstätten waren so primitiv wie möglich, jede enthielt nur eine mit Trockenspänen gefüllte Matratze, die zwar sehr hart war, sich aber doch als sehr munter und lebendig erwies. Zwischen den Lagerstätten standen Pfeiler mit Fächern, in denen man seine paar Habseligkeiten verstauen und einschließen konnte. Den Schlüssel zu dem Vorlegeschloß mußte ich stets am Körper fragen, denn was irgendwie für die Herren Kollegen erreichbar war, verschwand mit absoluter Zuverlässigkeit.

Diese Kollegen selbst zögerten nicht, sich mir in den bei ihnen ortsüblichen Formen vorzustellen (oder besser vorzuführen), die mehr neu als anheimelnd und vertrauenerweckend wirkten. Der Beruf eines Trimmers am Schiff ist wohl einer der elendsten, die es gibt. Die Löhnung für die etwa vierzehn Tage dauernde Uberfahrt und eine unglaublich anstrengende Tätigkeit, die sich unter den gesundheitsschädlichsten Arbeitsbedingungen in einer glühendheißen, mit Kohlenstaub geschwängerten, nur von elektrischem Licht und Feuerschein erhellten Atmosphäre abspielt, diese vier Dollar sind - für amerikanische Wertberechnung - ein jämmerliches Entgelt. Verpflegung und Behandlung sind ebenso nichtswürdig, und es ist begreiflich, daß in Amerika für dieses Sklavendasein in der Regel nur Farbige oder gescheiterte und höchst zweifelhafte Existenzen sich anheuern lassen.

Doch auf all das war ich gefaßt. Der Posten eines Trimmers war der einzige am Schiff, der für mich zu haben war und bei dem man noch mit einiger Aussicht auf Erfolg die Uberfahrt antreten konnte. Ich hatte mich auch gründlich auf die mißtrauisch ausspionierenden Fragen vorbereitet, mit denen mich nun meine Arbeitsgefährten überschütteten. Vor allem bemühte ich mich, es ihnen in jeder Weise gleichzutun. Ihre Manieren waren zwar sehr ursprünglich, aber nicht so leicht nachzumachen. Ich mußte erst verschiedene hier sehr unpassende Vorurteile und Angewohnheiten, wie den Gebrauch eines Taschentuches, ablegen, an dessen Stelle die Benutzung der Finger zum guten Ton erforderlich war. Ich hatte auch das ebenso häufige wie unappetitliche Ausspucken zu lernen, was eine gewisse Geschicklichkeit verlangt, so, wenn man seinem Nachbar über den Kopf hinwegspuckt. Und was die Hauptsache ist, ich mußte mich daran gewöhnen, jedweden Ekel zu unterdrücken.

Es gab im Trimmerdienst drei Schichten, und jede von ihnen hatte täglich zwei Wachen in der Dienstzeit, eine Tag- und eine Nachtwoche von je vier Stunden. Ich gehörte zu der ersten Schicht. Die Wache ging von 5 bis 9 Uhr morgens und von 5 bis 9 Uhr abends. Um 5 Uhr nachmittags trat ich meinen Dienst an. Eine grobe Hose und ein ebensolches Hemd, das rasch durchgeschwitzt war und deshalb immer bald abgelegt wurde, ein großlöchriges Netztuch zum Abwischen des Schweißes, eine Kappe zum Schutze der Haare und ein paar schwere Holzschuhe, die die Füße gegen Hitze und Brandwunden schützten - das war meine Ausrüstung. Als ich zum erstenmal den Heizraum mit seinen sechsunddreißig Feuern betrat (das Schiff hatte zwei solcher Heizräume), fing mein Herz, der fürchterlichen Hitze, die mir entgegenschlug, ungewohnt, so heftig zu klopfen an, daß ich schwindlig wurde. Aber da gab es kein Besinnen und keinen Augenblick des Feierns. In meiner zweimal vierstündigen Arbeitszeit hatte ich mit einem Partner zusammen neun Feuer zu bedienen, daß heißt am Anfang der Wache die Feuerstelle zu klären, die Asche wegzufahren und dann unablässig neue Kohlen aus den Bunkern auf Karren zu laden, an die Feuerstelle zu bringen und dort aufzuhäufen. Als Neuling kam mir auch noch die Herbeischaffung des eisgekühlten Trinkwassers zu, das zum Ausgleich der Hitze und zum Herunterspülen des Kohlenstaubes in großen Mengen verbraucht wurde. Dazu mußte ich, schweißtriefend und nur mit einer Hose bekleidet, zwei- bis dreimal in der Stunde, den Eimer in der Hand, aus der glühendheißen Tiefe mehrere Etagen hoch auf meinen schweren Holzschuhen in die kalte, zugige Höhe mit größter Eile die schmalen Eisenleitern hinaufklettern und wieder herunterrasen. Die Leitern waren unten sengend heiß, weiter oben so glatt, daß sie immer nur mit Hilfe von Filzlappen angefaßt werden konnten. Das Dröhnen der Maschinen und das Gebrüll der Kommandorufe, das jenes zu übertönen suchte, gaben einen Lärm, der schon allein geeignet war, schwachnervige Menschen zu betäuben.

In fieberhafter Eile mußte gearbeitet werden. Ruhe gab es während der vierstündigen Wache keine Sekunde. War die Zeit endlich abgelaufen, so tappte alles mühselig, die Arme hängend, ganz erschöpft hinauf zu den Räumen, wo die Waschtröge, mit heißem Wasser gefüllt, stunden. Hatte man Schweiß und Ruß, so gut es ging, abgeseift, so wankte man nach dem Schlafraum, zog sich um, nahm seinen Napf und seinen Becher und ging noch der Messe, um sich aus den dort stehenden Bottichen sein Essen herauszuschöpfen.

Fast jeden Tag gab es Labskaus, ein Gemisch von zusammengestampften Kartoffeln mit Fleisch oder Fisch; nur am Donnerstag, dem sogenannten Fischersonntag, gab es als Festgericht grüne Bohnen und Rindfleisch. Als Getränk wurde schwarzer Kaffee - "mit ohne allem" - geliefert. Der einzige Genuß war zum Nachtisch eine Pfeife Tabak, die ich mir selbst spendieren mußte, und ein kurzer Blick auf das Deck, wo man jedoch nur ein paar Minuten geduldet wurde. Noch diesem Dessert ging ich wieder hinunter und warf mich in meine Koje, in der ich aber weniger die ersehnte Rost als Flöhe fand.

Mir waren meine Trimmerkollegen von Anfang an aufsässig, weil sie in mir einen Eindringling und vor allem einen "Möff", einen Deutschen, vermuteten. Mit allen Mitteln versuchten sie mich auszuspionieren und durch unverhoffte Fragen, Anreden in deutscher Sprache, wüste Schimpfereien zur Preisgabe meines Geheimnisses zu verleiten. Hatte ich mich verraten, so würde jeder gern sein Mütchen an mir gekühlt und sich den Judaslohn verdient haben. Die Arbeit wurde mir in bösartiger Weise erschwert, und nicht einmal im Schlaf konnte ich vor dem Gesindel Ruhe finden.

Noch drei Tagen hatte ich die Gewißheit, daß ich trotz schmerzenden Gliedern, Blasen an den Händen und Brandwunden die erschöpfende Arbeit aushalten würde. Um mir ein Gegengewicht gegen die Scheußlichkeit dieser Lage zu schaffen und meinen Geist und meine Phantasie elastisch zu erhalten, suggerierte ich mir immer wieder eine Reihe von Bildern, die in stärkstem Gegensatz zu meiner Umgebung standen: ein Stückchen Wald, ein Stückchen Wiese, von der Sonne beschienen, Bilder, die - merkwürdig, aber doch bezeichnend - immer auf die grüne, glühende Grundfarbe eingestellt waren, die ich unverrückbar und mit greifbarer Deutlichkeit vor Augen sah und deren Vorstellung und Anschauung so lebhaft waren, daß sie mich den Schmerz des gequälten Körpers vergessen ließen.

Der Weg unseres Schiffes führte direkt in die Höhle des Löwen. Die erste britische Kontrolle mußten wir in einem kleinen englischen Hafen über uns ergehen lassen. Sie war ziemlich oberflächlich. Desto peinlicher war die Untersuchung in Dover. Mein Morgendienst war eben beendet, und ich lag vollkommen abgespannt und gleichgültig gegen alles, was da kommen konnte, in meiner Koje. Ohne mich vom Lager zu erheben, beantwortete ich alle Fragen mit vollkommener Gleichgültigkeit. Das trug vielleicht um meisten dazu bei, meine Angaben unverdächtig erscheinen zu lassen. Ich war auch damals in meinem Äußeren, in meinem Auftreten und allem so akklimatisiert, daß sogar meine Trimmerkollegen zum Teil an meine Echtheit zu glauben begannen. Dennoch waren mehrere unter ihnen, die mich den Engländern als Deutschen angeben wollten. Zum Glück verpaßten sie den richtigen Augenblick, ihre Denunziation anzubringen. Denn nach unserem Verhör wurde der Gang zu unseren Räumen mit einem Gitter abgesperrt. Nachdem die Untersuchung beendet und das Gitter entfernt war, ging ich an Deck und sah von da aus die englische Kontrolle vom Fallreep abstoßen und auf der Launch fünf andere Deutsche, die als Passagiere gefahren waren und in Gefangenschaft genommen wurden. Ich atmete auf, als das Schiff die Anker lichten durfte. Bald danach war ich auf neutralem Boden, in Rotterdam, in Sicherheit. Meinen Seesack auf der Schulter, ließ ich mich unter Vermeidung des Fallreeps an der Ankerkette auf den Kai hinunter, überkletterte den die Pier abschließenden Eisenzaun und war in Freiheit. Ich fuhr auf einem Fährboot an Land, suchte ein holländisches Seemannsheim auf, und noch langer Entbehrung hatte ich wieder einmal den Genuß eines Bades. Um drei Uhr nachmittags legte ich mich schlafen und wurde erst um nächsten Morgen in der zehnten Stunde wieder wach.

Am 10. September 1915 hatte ich Holland erreicht. Da ich keinerlei deutsche Ausweispapiere besaß, meldete ich mich auf dem Konsulat. Dort wurden meine Angaben überprüft. Es wurde wohl auch hin und zurück depeschiert; auf jeden Fall blieb ich nicht mehr ohne Überwachung, ständig war irgendein Geist um mich und paßte höllisch auf, daß ich nun ja den Weg nach Deutschland zurück nicht verpaßte. Denn als ich am zweiten Tag an der deutschen Grenze ankam, wurde ich daselbst in Empfang genommen, zwischen zwei Soldaten mit grauer Pickelhaube in die Kaserne nach Wesel verbracht und in einem Raum mit anderen eingesperrt. [...]
 


 

©  Hans-Joachim Schmidt
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