Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Tsingtau

von Matthäus Storf
 

Der Verfasser hat seine Aufzeichnungen 1945 in Argentinien niedergeschrieben. Der Text wurde freundlicherweise vom Enkel Daniel Egner zur Verfügung gestellt. Es handelt sich um die Abschrift aus einem Jahrbuch, welches der Deutsche Schulverein in Villa Ballester, Buenos Aires, im Jahr 1945 herausgegeben hat; darin wurden verschiedene Berichte von Einwanderern geschrieben.
 

Welchen aufgeweckten Jungen hätte in seiner Jugend noch nicht die Sehnsucht erfasst, die aus den Erzählungen von Erwachsenen gehörten oder in Büchern gelesenen Schilderungen von fremden Ländern, Sitten und Gebräuchen aus eigener Anschaung kennen zu lernen. Auch ich machte davon keine Ausnahme, und so begrüßte ich es mit großer Freude, dass durch Ableistung meiner Militärpflicht in Tsingtau, unserem ehemaligen Mandatsgebiet in China, mein langgehegter Wunsch zur Wirklichkeit werden sollte.

Nach etwa einhalbjähriger Ausbildungszeit in Cuxhaven wurden wir auf einem Spezialtruppentransportdampfer "Patricia" (16.000 Tonnen) eingeschifft, um als Ablösung für die in Tsingtau ihrer Dienstpflicht ledigen Marinebesatzung auszulaufen. Bis hinauf in die höchste Mastspitze hatten sich unsere blauen Jungen gewagt, um von dort aus der immer kleiner werdenden deutschen Küste unter den Klängen unserer Militärmusik "Muss ich denn, muss ich denn zum Städele hinaus" die letzten Abschiedsgrüße zuzuwinken.

Um Heimweh zu kriegen, hatten wir wenig Zeit, da der tägliche Dienst und vor allem die Eindrücke unserer Fahrt auf dem Meere alles andere verdrängten. Von der Nordsee ging es durch den Ärmelkanal, zwischen den steil aufragenden Kreidefelsen von Dover und der französischen Küste mit dem Hafen von Calais hindurch in den Atlantischen Ozean, an der spanischen Küste entlang durch den Golf von Biskaya, wo wir zum ersten Mal einen wirklichen Begriff von der Macht der Meereswellen bekamen. Oft hatte es den Anschein, als ob dieselben unser Schiff zu begraben drohten, und es war wirklich ein unvergessliches Erlebnis, wenn dann eine andere Welle uns wieder emporhob. Vom Golf gelangten wir dann in das Mittelländische Meer, und auffallend war der Kontrast in der Färbung des Wassers. Dort ein schmutziges graues Grün, hier ein sattes tiefes Blau.

Bald liefen wir den ersten Hafen, nämlich die Insel Malta an. Malta, von alters her das heiss umstrittene Bollwerk zur Beherrschung des Mittelmeeres und früher im Besitz des Malteser Ritterordens, nach dem die Insel noch heute ihren Namen trägt. Noch jetzt kann man auf Malta diese wunderbaren alten Malteser Paläste bewundern. Eigenartig ist die Kleidung der eingeborenen Frauen, die außer der üblichen kleidsamen Landestracht noch einen langen, schleierartigen Überwurf bei ihren Ausgängen tragen. Dieses gibt ihnen im Verein mit ihrer natürlichen Anmut in Gang und Haltung ein, man möchte sagen, fast aristokratisches Aussehen. Was uns noch besonders auffiel, waren die sogenannten wandernden Milchgeschäfte, nämlich kleine Ziegenherden, die von ihren Besitzern durch die Straßen getrieben wurden. Einzelne Tiere wurden, je nach Bedarf, bis in die höchsten Stockwerke hinauf getrieben, um so den Kunden aus erster Quelle das dort begehrte Getränk im frischen Zustand zu verabreichen.

Nach Verlassen des Hafens von Malta kamen wir durch den Suezkanal in das Rote Meer, das seinen Namen den kleinen Meerestierchen von rötlicher Farbe verdankt, die dort an einigen Stellen in großen Mengen vorkommen. Durch den Golf von Aden kamen wir in den Indischen Ozean. Hier sahen wir dann Delphinherden, Tiere von respektabler Größe, in spielerischem Wettrennen vor dem Bug unseres Schiffes sich tummeln, ein Bild, dem man nicht müde wurde zuzusehen. Außerdem konnten wir hier auch Scharen von fliegenden Fischen beobachten.

Hierauf fuhren wir durch die Strasse von Malakka und gelangten in das Chinesische Meer. In Singapur, dem Hafen, wo sich uns das tropische Leben in seiner ganzen Eigenart zeigte, machten wir unseren letzten Halt. Schon die verschiedenen Menschentypen belehrten uns, dass wir uns in einer ganz anderen Welt befanden. Malayen und Neger, vom hellsten Braun bis ins tiefste Schwarz, wechselten ab mit den stolzen Gestalten des Inders und den kleinen beweglichen der Japaner und Chinesen. Viel Spaß machten im Hafen, übrigens einem der schönsten natürlichen Anlegeplätze der Welt, die kleinen singhalesischen Taucher, die jedes hineingeworfene Geldstück mit erstaunlicher Sicherheit im Sinken herausbrachten und es dann triumphierend dem Spender zeigten. An Land hatten wir dann Gelegenheit, Rikscha zu fahren. Es sind dies kleine zweirädrige Wagen, die Personen befördern und von Kulis gezogen werden. Wir ließen uns durch die Stadt fahren und staunten immer wieder über die fabelhafte Ausdauer dieser Menschen, die oft stundenlang im gleichmäßigen Trab bergauf, bergab durch die Straßen eilen. Nach unserer Ausfahrt aus dem Hafen von Singapur kamen wir später an der Insel Sumatra vorbei, die mit ihren Palmenhainen einen herrlichen Anblick bot.

Wir fuhren nun unserem Endziel, dem Hafen von Tsingtau, entgegen. Das Tsingtau von früher war, wie ich erfuhr, ein langgestrecktes, aus verwittertem Gestein bestehendes Gelände, das bei unserer Ankunft aber schon in jahrelanger, mühevoller Arbeit von den deutschen Forstleuten mit einem Gürtel von Akazien und einzelnen Fichtenarten bepflanzt war und so einen wunderbaren Anblick bot. Der Hafen selbst, mit echt deutscher Gründlichkeit und Sauberkeit angelegt, erinnerte uns so recht an unsere Heimat. Auch ein kleines Schwimmdock mit allem, was dazugehört, war vorhanden. Am Hafen selbst hatten sich außer dem Militär eine Menge Zuschauer eingefunden, die mit begeisterter Neugierde dem Empfang und der Landung unserer blauen Jungen beiwohnten.

Nachdem wir nun in die verschiedenen Kasernen verteilt waren, nahm das Leben seinen normalen Verlauf. Wir freundeten uns bald mit den Chinesen an und verständigten uns auch ganz gut mit der üblichen seemännischen Zeichensprache.

Aber nicht lange sollte das friedliche Leben dauern, denn schon nach ungefähr einem halben Jahr kam der schicksalsvolle 2. August 1914 heran und mit ihm die Kriegserklärung Englands und Frankreichs an Deutschland. Wenige Tage später dann die Kriegserklärung Japans und mit ihr der Beginn des Kampfes um Tsingtau. Unsere Besatzung, alles in allem, mit Reservisten, war ungefähr 4000 Mann, die wohl in der Lage war, einen eventuellen Aufstand im Mandatsgebiet niederzukämpfen, war jedoch nicht imstande, einem an Menschen und Material weit stärkeren Gegner standzuhalten.

Wir saßen sozusagen "wie die Maus in der Falle" und konnten weder vor- noch rückwärts und mussten uns, nachdem unsere Befestigungen und Artillerieforts zusammengeschossen waren, dem Feinde ergeben. Rührend war es anzusehen, wie die Chinesen beim Abtransport in der japanische Gefangenschaft an der Straße Spalier bildeten und die Zuversicht ausdrückten, dass wir in späterer Zeit wieder nach Tsingtau zurückkehren würden.

Auf japanischen Dampfern wurden wir dann nach Japan transportiert. Zu essen gab es an Bord nicht besonders viel, außer etwas Konserven, die noch von Tsingtau stammten, und zweimal am Tag gefärbtes Wasser, das die Japaner "Tee" nannten. Die Fahrt wäre, wenn man dieselbe als "Vergnügungsfahrt" betrachtet hätte, wirklich schön zu nennen gewesen. Mitten zwischen bewaldeten Bergen hindurch, an denen, wie ein Spielzeug, in der typischen Bauart des Landes die kleinen Teehäuser wie angeklebt aussahen, schlängelte sich unserer Dampfer in langsamer Fahrt seinem Ziele, Osaka, der zweitgrößten Stadt Japans, entgegen.

Außerhalb der Stadt, an einem Fluss, waren unsere Baracken aus Holz hergestellt, die mit Schiebetüren und Papierfenstern versehen waren. Der Mensch ist bekanntlich ein Gewohnheitstier, und wir Matrosen hatten es bald heraus, unsere Behausung nach unserm Geschmack einigermaßen behaglich zu gestalten. Das Leben verlief ziemlich eintönig, und so hatte man Muße genug, seine Gedanken nach dieser oder jener Richtung wandern zu lassen.

Von Drüben hörten wir durch die Zeitungen von unseren ersten Siegen, und so keimte in manchem der Wunsch, auch dabei sein zu können. Auch mir ließ der Gedanke keine Ruhe, und so beschloss ich, mit einem Landsmann, einem Bayern, Fischer vom Ammersee, einen Fluchtversuch zu wagen. Natürlich ist es in einem Land wie Japan bedeutend schwerer zu fliehen, da wir unseres europäischen Aussehens wegen uns von vornherein nicht sehen lassen durften, um nicht sofort verhaftet zu werden.

Wir schlichen uns nach der Abendmusterung aus dem Lager, warteten dann außerhalb im Graben, bis die Postenpatrouille vorbei war, und bemächtigten uns eines im Wasser liegenden Kahnes, den wir schon früher bei einen Ausflug gesehen hatten. Leider hatten wir das Pech, dass das kleine Boot, das wir im Auge hatten, nicht an Ort und Stelle lag, dafür aber ein Schleppkahn von ungefähr 3 Meter Breite und 8 Meter Länge. Unser Plan war, in den Hafen zu gelangen, um auf einem japanischen Dampfer, der, wie wir in einer englischen Zeitung gelesen hatten, am nächsten Tage nach Shanghai fuhr, hinten an der Ankerkette hinaufzuklettern, um so in das Innere des Schiffes zu gelangen. Wir haben deshalb einen japanischen Dampfer gewählt, da wir uns sagten, dass wir dort nicht so schnell gesucht würden wie auf einem neutralen Schiffe.

Mit Proviant hatten wir uns auf 3 Tage versehen. Nun machte uns aber dieses Monstrum von Kahn einen Strich durch die Rechnung. Solange wir uns in dem Flussarm befanden, konnten wir uns mit den Stechrudern, die bis auf den Grund gingen, noch ganz leidlich fortbewegen. Sobald wir aber hinaus in die Bucht ins tiefe Wasser kamen, waren unsere Anstrengungen zwecklos. Die herrschende Strömung trieb uns mit unwiderstehlicher Gewalt an das andere Ufer, und unserer "schöner Plan" war buchstäblich ins Wasser gefallen.

Inzwischen war im Lager unsere Flucht bekannt geworden, und es wurde alles benachrichtigt, um uns wieder einzufangen. In einem Teehaus, in dem wir nach zweitägigem Umherirren etwas Warmes genossen, wurden wir dann von einer Militaerpatrouille, die von dem Besitzer benachrichtigt war, wieder in das Lager zurückgebracht. Von dort wurden wir dann nach Osaka in das Militärgefängnis transportiert. Von dem Militärgericht wurden wir dann wegen Fluchtversuch zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Wir wurden dem Zivilgefängnis überwiesen und unterstanden nun den Anordnungen der Gefängnisverwaltung.

Eine Order, die in der Zelle angebracht war, lautete: Der Gefangene darf weder während des Tages sitzen, liegen noch stehen, sondern er muss knien. Zum Glück waren wir von dieser Verordnung befreit. Wir bekamen einen Tisch und Stuhl und später aus dem Lager eigene Bücher zu lesen. Das Essen war schlecht und eintönig. Erst bekamen wir Gerste mit Reis gemischt, und als wir nach kurzer Zeit davon die Beri-Beri bekamen, wurde die "Karte" gewechselt. Der Speisezettel lautete nun auf etwa 5 Scheiben Brot zum Frühstück und als Getränk warmes Wasser. Zum Mittagessen 3 kleine Kartoffeln, etwas Brot; das Wasser, worin die Kartoffeln gekocht waren, diente zugleich als Suppe. Am Abend dasselbe wie beim Frühstück...

Man kann sich denken, dass wir bei solchem Essen nicht unter Fettsucht zu leiden hatten. Ausserdem musste man gewärtig sein, dass man, falls ein Wärter uns wegen irgend eines kleinen Vergehens meldete, die tägliche Ration, je nachdem auf fünf Tage oder mehr, auf den dritten Teil, also ein Brot, eine Kartoffel, reduziert wurde.

So kam das erste Weihnachten in Gefangenschaft heran. Aus der Heimat kam von meiner Mutter das erste und auch zugleich das letzte Liebesgabenpaket, da später keine mehr abgeschickt werden durften. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Das Paket wurde mir an die Zellentür gebracht, und ich konnte so richtig die schönen Esswaren, die darin waren, sehen, während mir das Wasser im Munde zusammenlief, wenn ich daran dachte, mich endlich nach langer Zeit wieder einmal richtig satt essen zu können. Aber wer beschreibt meine Wut, als mir in kurzen Worten bedeutet wurde, dass ich das Paket nicht ausgehändigt bekäme, sondern angeben sollte, wem ich die Sachen im Lager schenken möge.

Einmal hatte ich einem Wärter 5 Tage Dunkelarrest zu verdanken und dementsprechend ein Drittel Essen. Außerdem wurde mir ein breiter Ledergurt umgeschnallt, woran zwei bewegliche Handschellen befestigt waren, in denen die Handgelenke eingeschlossen wurden. Man muß sich so etwas vorstellen können, um zu begreifen, was es heisst, 5 Tage und Nächte in dieser Lage im verdunkelten Raum zu sein. Während dieser Zeit wurden die Fesseln weder beim Schlafen noch beim Essen, wo ich mich wie ein Igel zusammenkrümmen musste, um die Nahrung in den Mund zu bringen, abgenommen. Dann vergnügten sich manche Wärter damit, das Licht in der Zelle an- und auszuknipsen und freuten sich dann königlich, wenn der Gefangene nicht schlafen konnte und geblendet die Augen schließen musste.

Bei dieser Gelegenheit konnte ich auch sehen, wie ein Japaner bestraft wurde, weil derselbe aus Versehen in der Dunkelzelle eingeschlafen war. Demselben wurden die Hände vor dem Leib zusammengefesselt, dann musste er niederknien, und die gefesselten Hände wurden ihm an einem Strick über den Kopf gezogen, so dass derselbe zwischen den Armen hindurchsah, und das Ende des Strickes wurde dem Gefangenen in dieser knienden Lage nach rückwärts stramm heruntergezogen und an den Fußgelenken befestigt. Die Schmerzen waren in dieser Lage derart, dass es dem Gefangenen einfach unmöglich war, noch einmal einzuschlafen.

Zweimal täglich durfte ich ungefähr 10 Minuten unter Aufsicht des Wärters zwischen den Gefängnisbaracken auf- und abgehen, dabei hatte ich immer das zweifelhafte Vergnügen, den Galgen zu sehen.

Nachdem ich von meiner Gefängniszeit 28 Monate verbüßt hatte, wurde ich wieder in das Lager entlassen, wo wir dann bis zum Frühjahr 1920 blieben. Auch diese Zeit ging zu Ende, aber ein gutes Stück Lebenshumor ging in diesen Jahren für immer verloren.

1920 kam ich dann zur alten Heimat zurück und leider in die schlimmste Zeit hinein. Nachdem ich kein "sicheres Brot" finden konnte, sah ich mich genötigt, die Augen wieder in die Ferne zu richten. So lenkte ich denn mein "Lebensschifflein" nach Brasilien. Ein Jahr später kam ich nach Argentinien und habe nun über Lande und Meere hinweg in Villa Ballester meine Ruhe gefunden.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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