Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt
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Tsingtau
Deutsches Leben in China
Inhalt (Verlagstext): »Woher kommt eigentlich das Tsingtao-Bier, das wir uns heute in vielen Restaurants zum Essen bestellen können? Eine Reise nach Tsingtau, der heutigen Millionen- und Olympiastadt von 2008 Qingdao, ist ein Erlebnis, kann man dort in dem ›deutschen Viertel‹ eine Welt sehen mit prachtvollen Geschäftshäusern, Kirchen und Villen entlang einer von Bäumen gesäumten Straße, die man von zu Hause zu kennen glaubt. Und dennoch befindet man sich tief im alten Reich der Mitte, an der Küste des Gelben Meeres, wo uns so gut wie niemand versteht. Aber wie kommen diese in den letzten Jahrzehnten liebevoll restaurierten und instand gesetzten Häuser dorthin und wer ließ sie bauen? Die Antwort auf diese und viele andere Fragen gibt die Geschichte der Entstehung und Entwicklung dieser Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Deutschen für 17 Jahre die Bucht von Kiautschou in Besitz nahmen und dann von dem chinesischen Kaiserreich für 99 Jahre pachteten. Wie war das Leben der Deutschen und Chinesen in diesem ›Schutzgebiet‹ und warum mussten die Deutschen diese ›Musterkolonie‹, in die sie mehr als hundert Millionen Goldmark investierten, aufgeben? Antworten hierauf gibt dieses sorgfältig recherchierte Buch, das die einzige neuere Darstellung der Kolonialgeschichte Tsingtaus ist.«
Autor: Ingo Becker-Kavan, Jurist, lebt in Hamburg.
Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2018. Taschenbuch. 204 Seiten. ISBN 978-3-8260-6438-8. 19,00 €.
1. Inhalt und Kernaussage
Der Autor greift thematisch deutlich weiter aus, als der Untertitel vermuten lässt:
Zur Gewichtung: Der versprochene Schwerpunkt »Deutsches Leben in China« (siehe Untertitel) kommt erheblich zu kurz, der zentrale Abschnitt »Aufbau der Musterkolonie« macht nur etwa ein Drittel des Textes aus. Viele wichtige Aspekte fallen dadurch zwangsläufig weg oder werden eher beiläufig erwähnt (Besiedlung der Stadt und des Landgebiets, Baugeschichte, Militärorganisation bzw. Garnison, Werft, Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Berufsstruktur usw.). Hingegen nehmen Marginalien wie etwa die Figur des Pu Yi, der mit »den Deutschen in China« überhaupt nichts zu tun hat, relativ breiten Raum ein.
Das besondere Interesse des Autors gehört daneben (stattdessen?) der allgemeinen Geschichte Chinas. Positiv zu vermerken ist, dass er dem Land viel Verständnis und Empathie entgegenbringt – bis hin zur (aktuellen) Frage, ob man ein Land wie dieses überhaupt mit »der Elle der westlichen Welt« messen dürfe.
Die »Schurken« im Geschichts-Stück sind vorwiegend die Europäer, am meisten die Engländer – auch hiergegen ist nichts einzuwenden. Die Deutschen kommen relativ gut weg bei der Darstellung, vielleicht zu gut.
2. Quellen/Sekundärliteratur
Der Autor schöpft ganz überwiegend aus einer einzigen Quelle, nämlich aus dem Reprint des 1908 erschienenen »Kiautschou«-Buchs von Marinepfarrer Hans Weicker. Zitate, teils seitenlang, finden sich auf 40 Textseiten (S. 26, 53, 67, 70, 71, 74, 75, 79-81, 112, 118, 143-154, 156, 157, 159, 161, 162, 164, 170-177, 188, 190).
Problem: Wenn man Weicker als »Chronist von Tsingtau« (S. 170) würdigt, dann gilt das natürlich nur für die Zeit bis zum Abschluss des Manuskripts (Ende 1907?). Ein weiteres Problem ist, dass bisweilen Weickers Wortlaut verändert wird und Auslassungen nicht vollständig angezeigt werden (siehe unten).
Die wenigen anderen »Literaturhinweise« erscheinen eher als »Garnierung« und tragen relativ wenig zur Darstellung bei. Vertiefende kritische und aktuelle Literatur, gerade was die eigentliche Geschichte des Pachtgebiets betrifft, fehlt fast ganz.
3. Anmerkungen zum Inhalt
Die Darstellung weist eine Reihe von offensichtlichen Mängeln auf, die ein aufmerksamer Lektor hätte aufzeigen müssen.
Seite | Darstellung | Kommentar/Richtigstellung |
---|---|---|
Kontrafaktische Behauptungen | ||
6 | Kettelers Ermordung löst Boxeraufstand aus | Aufstand begann Monate früher; vgl. S. 110! |
29 | Ultimatum am 19.8.1914 | Richtig: am 15.8.; vgl. S. 30! |
36 | deutsche Verteidiger: 1.400+3.400+»zahlreiche« = 4.730, insgesamt »1.830« plus »4.481« | Die Zahlen sind sachlich wie arithmetisch nicht nachvollziehbar; vgl. S. 39: 4.900 |
36 | 3.400 ... aus Peking und Tientsin herangeführt | Allenfalls 700. |
38 | am 26./27.9. »rollende Sturmangriffe« | Falsche Datierung: solche Angriffe fanden zuerst Ende Oktober statt, von »schweren Verlusten« im September kann beiderseits keine Rede sein. |
43 | letztes Kanonenboot »Iltis« | Richtig: »Jaguar«. |
43,44 | Plüschow als einziger Deutscher entkommen | Uralt-Legende; es ist seit vielen Jahren bekannt, dass mehrere Dutzend Leute entkommen sind. |
44 | Botschaft in Shanghai | In S. war nur das Generalkonsulat. |
45 | Japaner hatten 1.800 Gefallene | Richtig sind: maximal 1.000 (einschließlich Marine). |
46 | mit der Übergabe ein Exodus | Der Exodus fand bereits im August statt, d.h. vor Kriegsausbruch. |
69,91 | Freiherr Alfred von Tirpitz | T. ist niemals Freiherr gewesen. |
82 | Buch »Der Krieg in China 1906-1909« von 1909 | Es muss 1900-1901 heißen; das Buch erschien auch bereits 1901. |
87,196 | Bevölkerungszahlen 143 Mio (1740), 401 Mio (1835), 200 Mio (Ende 18.Jh.) | Diese Zahlen passen nicht zueinander. |
150 | 590 Schiffe mit 126 Million[en] Tonnen Fracht | d.h. über 200.000 Tonnen je Schiff? |
163 | der Allgemeine Evangelische Missionsverein | Richtig ist »evangelisch-protetantische«. |
174 | 53.000 Chinesen im Pachtgebiet | Richtig: 187.000 (Volkszählung 1913). |
192 | USA mit 230 Mio Einwohnern | Stand 2018: 327 Mio. |
Anachronismen | ||
40 | 1914: Leutnant zur See Plüschow | P. war seit 1909 Oberleutnant |
73,141 | 1898: Admiral Diederichs | D. wurde erst 1902 Admiral; richtig auf S. 74. |
81 | 1896: Admiral von Tirpitz | T. wurde erst 1902 nobilitiert und erst 1903 Admiral. |
82 | 1898: Großadmiral Heinrich von Preußen | H. wurde erst 1909 Großadmiral. |
90,149 | 1898,1902: Vizeadmiral von Truppel | Wurde erst 1907 Vizeadmiral und erst 1911 nobilitiert. |
Unbelegte oder fragwürdige Darstellungen | ||
30 | Meyer-Waldeck ignorierte Ultimatum | M. erfuhr erst Tage später von dem Ultimatum. Die Entscheidung, es zu ignorieren, fiel selbstverständlich bei der Reichsleitung in Berlin; vgl. S. 31: »Befehl seiner Majestät«. |
30,33 | weiteres Ultimatum am 23.8. | Bis dato unbekannt. Quelle? |
34 | Graf Spee weitsichtig und klug | Die Abreise am 20.6. erfolgte im tiefsten Frieden – wie jedes Jahr! |
38 | Japaner konnten nicht in das Meer zurückgeworfen | Sinnfreie Aussage angesichts einer Kräfte-Relation von 1 zu 10 |
39 | starrten die Menschen gebannt; hofften auf ein Wunder | Nur wenige starrten auf den fernen Osten, die meisten verständlicherweise auf die kriegsentscheidende West- und Ostfront; ein »Wunder« hätte nur eintreten können, wenn dort eine Entscheidung gefallen wäre. |
120 | Boxerprotokoll als Blaupause für Versailler Vertrag | Wer hat jemals einen solchen Bezug hergestellt? |
Fehlende Informationen | ||
35 | versenkt sich der kleine Kreuzer Dresden | Ja, aber erst am am 14.3.1915. |
39 | Versenkung der Kanonenboote | »Tiger« fehlt, ebenso Torpedoboot »Taku«. |
45 | 1914 Gefangene in Bando und 15 andere Lager | 1914 gab es 12 Lager; Bando gab es erst ab 1917. |
117 | 20.000 Mann starke Truppen | US-amerikanische Beteiligung wird nicht erwähnt. |
142 | fortschrittliche Bodenpolitik | Wilhelm Schrameier, der diese Politik für Tsingtau konzipiert und umgesetzt hat, wird gar nicht erwähnt. |
143 | eine berühmte Brauerei, über die noch zu reden ist | Taucht im Text aber überhaupt nicht mehr auf! |
168 | entstand die große St. Michaels-Kirche | Ja, aber erst zwanzig Jahre später! |
Überflüssige Informationen | ||
49 | Prinz Heinrich, der Kaiserbruder | Das H. ein Bruder Wilhelms II. war, wird auf den S. 73, 82, 85 (zweimal!) und 154 wiederholt. Ähnliches gilt bei Tirpitz für die Verbindung Großadmiral+Staatssekretär. |
Marinepfarrer usw. | Es erscheint auch überflüssig, den Autor Weicker im Text 12-mal als »Marinepfarrer«, 4-mal als »Pfarrer« und je einmal als »Geistlichen« bzw. »Marinegeistlichen« zu attribuieren. | |
170 | Lauschan-Gebirge | Lauschan=Gebirge, Lauschan-Gebirge ist demnach doppelt gemoppelt |
195 ff. | Zeittafel | Bei manchen Einträgen ist ein Bezug zum Thema nicht erkennbar bzw. fehlt jegliche Relevanz; Beispiel: »Einführung der Erdnüsse«. |
Quellen-/Literaturnachweise | ||
Zu Zitaten auf den folgenden Seiten ist keine Quelle angegeben:
74 Diederichs, 79 Rede von Bülow, 112 Depesche, 114 Bericht von Cordes, 122,123 Rede von Chun, 123,124 Rede Wilhelm II. | ||
Zitate aus Weicker | ||
54 | durch eine Stadt im Mittelalter zu gehen | Anschließender Nebensatz weggelassen (ohne Hinweis), dadurch Verständnisproblem. |
170 | blickt man über | blickt es über (falsch zitiert) |
171 | vernichtete ... auch den Wald. | Nächster Satz ausgelassen (ohne Hinweis). |
171 | sogar »elfmal am Tage« | »sogar einmal elf an einem Tage«; nur dieser Wortlaut macht Sinn |
172 | Plätze an der Küste | Nächster Satz ausgelassen (ohne Hinweis). |
172 | Die Freizeitkultur Tsingtau... | Dieser Satz steht weder auf S. 132 noch auf S. 133. |
190 | (...) Der reiche Süden ist sein Hinterland | Die Auslassung verfälscht den Sinngehalt: Gemeint ist Hongkong! |
4. Bemerkungen zur Form
Beinahe auf jeder Seite des Textes sind Formmängel vorhanden, was den Eindruck vermittelt, es habe vor Drucklegung keinen Korrekturdurchgang mehr gegeben.
Rechtschreibung (Tabelle: Seite / falsch / richtig) | |
29,36,49 / Japanische(n) / japanische(n) 32 / aus / auf 34 / Cacos / Cocos 35 / Caronel / Coronel 35 / Deutschlandmit / Deutschland mit 35 / Seemannglück / Seemannsglück 39 / europäischenWesten / europäischen Westen 39,111 / Artellerie / Artillerie 40 / Müllerskowsky / Müllerskowski 41 / erkannt / erkannte 42 / Takachinho / Takachio 45 / Narachino / Narashino 54 / dem / den 58 / politische / politischen 58 Fn. / das / (streichen) 64 / Refues / Rehfues 66 / 1987 / 1887 (?) 66 / er / der 69 / stimmt / stimmte 71 / Projekstionsfläche / Projektionsfläche 72,72,72,75,163,197 / Styler / Steyler 78 / dass / das 85 / Weihai / Weihaiwei 86 / und deren / und ließ deren 91 / Planer / Planern 92 / hat / hatte 112 / liegende / liegenden 112,126,157 / Batallions / Bataillons 116 / 27 Juli / 27. Juli 117 / 1904)) / 1904) 117 / har / hat 117 / "Boxer" / »Boxer« |
120 / Unter-einader / unter-einander 123 / diese Wirren / diesen Wirren 123 / vergangen / vergangenen 130 / Boxer- / Boxer-Aufstand (?) 136 / japanisch / japanische 140 / was ihn / was ihm 140 / auch der neuen / auch mit der neuen 143 / Kolonien; / Kolonien, 143 / Tsdingtau / Tsingtau 149 / Mole I., II. / Mole I, II 150 / ausführen, auffüllen 150 / auszuführen, aufzufüllen 150 / Million / Millionen 150 Fn. / Diarien / Dairen 154,156 / Geadertz / Gaedertz 154 /wurden / wurde 155 / Pokon / Pukow? Pukau? 156 / Tsintau / Tsingtau 159 / Vufau, / ??? 161 / der Hauptsitz / Hauptsitz 162 / ethnische-kulturellen / ethnisch-kulturellen 164 / Land / Lande 164 / die chinesischen Jungen / der chinesische Junge 164 / mussten ... sie / musste ... er 166 / Keipel / Keiper 167 / Hakon / ??? 175 / Truppentransportern / Truppentransporten 175 / Übrigen / übrigen 189 / der ... Abriss / dem Abriss 190 / großen / größeren 190 / gewerbsfleißge / gewerbsfleißige 190 / Honkong / Hongkong |
Silbentrennung | |
10,56 war-en, 12 Sees-terne, 35 Panzerk-reuzer, Falklan-dinseln, 55 angest-rebt, 61 willkomm-enden, 65,197 Rich-thofen, deutsch-er, 82 Leuch-tturmwärter, 89 ausgest-reckt, 91 Zus-chuss, 92 unters-tützt, 106 Gegens-tand, 115 Ers-türmung, 137 beg-nadigt, 144 Chinese-neinwanderung, 145 Reich-stag, 187 unbeeinf-lusst,188 aufgez-wungenen, in-sgesamt, 190 beach-tlichen | |
Fehlende Bindestriche | |
29 Infanterie[]Division, 30,144 Kolonial[]Zeitung, 40 Etrich[]Tauben, 40 100[]PS[]Mercedes-Motoren, 86 Qing[]Dynastie, 92 Gouvernements[]Rat, 119 2000[]jährigen, 129 zwei[]jährigen, 138 neun[]jährigen, 144 Kolonial[]Gesellschaft, 150 Nord-West[]Winde, 150-Tonnen[]Kran, 184 Yamen[]Sitzung | |
Fehlende Kommata | |
(Abgrenzung gleichrangiger Wörter gem. Regelwerk § 71): Pest[,]Typhus (S. 173)
(Abgrenzung von Nebensätzen gem. Regelwerk § 74): ...Pressekampagne gestartet[,] nach der die wenigen... (S. 32); weitere Beispiele auf S. 35, 41, 42, 55, 57, 58, 62, 74, 107, 110, 112, 117, 121, 158, 165, 168, 188, 189, 191. (Abgrenzung von Infinitivgruppen gem. Regelwerk § 75): ... geglaubt[,] das große Los gezogen zu haben. (S. 40); weitere Beispiele auf S. 60, 153, 153, 161, 162, 163. | |
Falsch gesetzte Satzzeichen | |
Kommata zwischen nicht gleichrangigen Worten/Wortgruppen gem. Regelwerk § 71): ... England gegenüber Selbstbewusstsein, und Stärke signalisiert werden, ... (S. 140); weitere Beispiele auf S. 32, 39, 54, 72, 93, 141, 142, 158, 159, 160, 162, 166, 169, 169, 169, 173, 176, 187, 189, 192.
Im gesamten Text sind die meisten schließenden Anführungszeichen falsch gesetzt (Regelwerk § 89/90), angefangen mit S. 26: ... Schutzgebiet Kiautschou«. (Hier fehlt auch das eröffnende Anführungszeichen.) | |
Satzbau (Beispiele) | |
S. 66: ...Handelsfirmen im Jahr 1987, die Handel im Wert von... | Gemeint ist wohl: ...Handelsfirmen, die im Jahr 1887 Handel im Wert von... |
S. 105 f.: ...eine Rede, die [...] das Gesicht Deutschlands [...] nachhaltig in negativer Hinsicht bestimmte: der sogenannte Boxeraufstand. | Gemeint ist wohl: ...eine Rede zum sogenannten Boxeraufstand, die [...] das Gesicht [usw.] bestimmte. Die Rede selbst und ihre Resonanz wird auszugsweise erst auf S. 116 wiedergegeben. |
S. 164 Fn.: Von Nichtdeutschen besuchten die Anstalt (Engländer, Russen, Amerkaner, Portugiesen). | Die sinnfreien Klammern lassen vermuten, dass ein Zitierfehler vorliegt. |
© Hans-Joachim Schmidt
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