Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Zweite Heimat Tsingtau«

Qingdao (1897–1914) im Spiegel deutscher Selbstzeugnisse. Von Sabina Groeneveld.
 

GroeneveldInhaltsangabe (auf der 4. Umschlagseite): »Der vorliegende Band beschäftigt sich mit den bislang wenig berücksichtigten mentalgeschichtlichen Dimensionen der Alltagserfahrungen deutscher Kolonisten in Tsingtau (Qingdao). Ausgehend von der Hypothese, dass über Prozesse der Heimatetablierung auf verschiedenen Ebenen informelle Beherrschungsstrategien zum Ausdruck kamen, werden die diesbezüglichen in veröffentlichten und unveröffentlichten Selbstzeugnissen (Briefe, Tagebücher, Erinnerungen und Reiseberichte) festgehaltenen Erfahrungen deutscher Kolonisten hinsichtlich ihrer Darstellung des kolonialen Raumes, ihrer Lebensgewohnheiten (Ess- und Trinkgewohnheiten, Kleidung, Freizeitverhalten etc.) sowie der chinesischen ›Anderen‹ hin untersucht.«

Autorin: »Sabina Groeneveld lehrt International Studies (German Major) an der University of Technology Sydney.«

St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2019. Fester Einband. 323 Seiten. Mit 6 Abbildungen im Anhang. ISBN 978-3-86110-739-2. 46,00 €.


1. Kernaussagen und Inhalt

Die folgenden Passagen aus den »Schlussbetrachtungen« der Autorin mögen als Resümee dienen: Viele deutsche Kolonisten zeigten »eine hohe Bereitschaft ..., Qingdao als eine persönliche ›Heimat‹ zu begreifen, welche sie zudem als ›deutsch‹ identifizierten«, mit Kernbegriffen wie ›Sauberkeit‹ und ›Ordnung‹ verbanden und zu der sie »eine emotionale Anhaftung entwickelten«. Es entstand »ein lebendiges deutsches Gesellschaftsleben, welches ... vorwiegend auf vertraute Muster zurückgriff«, vertraut auch insoweit, als die deutsche Oberschicht bemüht war, sich gegen Vertreter der Mittelschicht abzugrenzen. Wenngleich sie sich im Laufe der Jahre relativierte, blieb die Abgrenzung von der übergroßen [90 %igen] chinesischen Bevölkerungsmehrheit das beherrschende Merkmal: »China und die chinesische Kultur (blieben) vielen Deutschen auch nach mehreren Jahren in Qingdao fremd... Doch die Selbstzeugnisse der Qingdao-Deutschen zeigen auch, dass es den Chinesen – ganz unabhängig von den offiziellen Entwicklungen – gelang, sich innerhalb des kolonialen Alltags Handlungsfreiräume zu erschaffen.«

Das Buch ist in folgende Kapitel gegliedert:


2. Quellen und Sekundärliteratur

Wie im Untertitel angegeben, besteht der Kern der Untersuchung aus Selbstzeugnissen der Tsingtau-Deutschen bzw. deren Zusammenstellung und Interpretation. Entscheidende Bedeutung kommt deshalb der Auswahl der Quellen zu; über die Entstehung dieser Stichprobe wird freilich nichts weiter gesagt. Jedenfalls wurde die Autorin insbesondere im Archiv des StuDeO, in den Nachlässen von Neukamp und Matzat und im Bundesarchiv fündig.

Die Urheberschaft der 32 wichtigsten Berichte – hier definiert als diejenigen, die fünfmal oder öfter im Personenregister genannt sind, jedoch ohne solche, die sich niemals im »deutschen Tsingtau« aufhielten (Kaiser Wilhelm, Admiral Tirpitz) oder nur tageweise (Prinz Heinrich) – setzt sich wie folgt zusammen:

Dass ein Bericht umso ergiebiger ist, je länger der Urheber sich vor Ort aufgehalten hat, taugt als Faustregel nur bedingt. Das vorliegende Spektrum reicht von Personen, die 10 Jahre oder länger in Tsingtau lebten (z.B. die Missionare Voskamp und Wilhelm, Frau Kroebel, Richter Crusen, Veterinär Pfeiffer) bis zu solchen, die »nur« durchreisten oder für kurze Zeit ansässig waren (z.B. Hauptmann Maercker, Frau Wiesendt). Ob es gerechtfertigt war, 8-mal den Flieger Plüschow zu zitieren, der sich nur ein paar Wochen (ohne Kriegszeit) in Tsingtau aufgehalten ist, mag dahinstehen. Das Gleiche gilt für die Frage, ob die ausgewerteten Berichterstatter repräsentativ für die Tsingtau-Deutschen sind.

Dass sich hinsichtlich der Zeiten/Jahre, über welche bzw. in denen die Zeitzeugen berichten, keine gleichmäßige Verteilung ergibt, ist nur natürlich. Immerhin befanden sich zwischen 1901 und 1910, d.h. in der Aufbauzeit, jeweils bis zu 14 Berichterstatter vor Ort, deren Beobachtungen auch in vielem übereinstimmen. Die letzten Jahre fallen demgegenüber ein wenig ab, was deswegen schade ist, weil sich just in dieser Zeit einige interessante Entwicklungen vollzogen, insbesondere auch eine Verminderung der eingangs erwähnten Schranken zwischen Deutschen und Chinesen.

Von besagten Quellen abgesehen, dominieren bei der Sekundärliteratur solche Titel, die sich mit Kolonialismus und Ostasien sowie mit »Heimat« im Allgemeinen beschäftigen: Von insgesamt 223 Nachweisen (Monographien, Sammelwerke, Zeitschriftenbeiträge) beziehen sich 63 speziell auf Tsingtau/Kiautschou, wobei insbesondere die Beiträge im Buch zur DHM-Ausstellung 1998 ausgewertet wurden.


3. Anmerkungen zum Inhalt

Der Rezensent hat die Zitate aus Quellen und Sekundärliteratur stichprobenartig überprüft und nichts gefunden, was zur Skepsis mahnen würde. Auch die Interpretationen der Autorin sind durchweg nachvollziehbar. Insgesamt ergibt sich ein wahrheitsgemäßes Zeitbild, welches dem Stand der Wissenschaft entspricht und zugleich, wie die Autorin schreibt (S. 286 f.), zu weiteren Studien anregt.

Sachliche Fehler sind sehr selten (z.B. S. 109: »Marineattachement« statt »Marinedetachement«, S. 177: »Otto von Goldberg« statt »Otto von Gottberg«, S. 254: »August 1914« statt »November 1914«); das Gleiche gilt für die anderswo häufigen Anachronismen (hier nur S. 174: »Dr. Pfeiffer«, der aber erst 1920 promoviert wurde). Auch über das Fehlen einiger Personen im Register darf getrost hinweggesehen werden.
 

4. Anmerkungen zur Form

Die Sprache ist klar und verständlich. Die Zahl der Druckfehler hält sich in den Grenzen des Tolerierbaren.
 

Nachbemerkung

Das vorliegende Werk entstand am Lehrstuhl von Frau Dr. Yizu Lü, Germanistik-Professorin an der Universität Sydney, und wurde dankenswerterweise von einem Verleger aus dem Saarland verlegt. Die Welt wird halt immer kleiner...
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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