Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»In japanischer Kriegsgefangenschaft«

Von Franz Tiefensee
 

Vorbemerkung des Redakteurs

Der Ostpreuße Franz Tiefensee kam vermutlich 1910 nach China und war zuletzt an der Deutsch-Chinesischen Hochschule in Tsingtau tätig. In Gefangenschaft geriet er als einfacher Landsturmmann und gehörte zu den Älteren im Lager.

Sein kurzer Bericht über die Zeit der Gefangenschaft, insbesondere in Bando, ist sichtlich von dem Bemühen um Objektivität getragen, stellt aber – wie andere auch – heraus, dass z.B. die Ernährung nur deshalb genügend war, weil die Gefangenen vieles selbst bezahlten.

Der folgende Text erschien im Frühjahr 1920 in der vierten Ausgabe der neuen Zeitschrift »Ostasiatische Rundschau« und wurde dem Redakteur von Adi Meyerhofer zur Verfügung gestellt.

Der Redakteur hat Abkürzungen aufgelöst und Anmerkungen als Fußnoten hinzugesetzt.
 

Text des Berichtes

Den deutschen Zeitungslesern wird schon während des Krieges die Verschiedenfarbigkeit der Berichte über die Gefangenenlager in Japan aufgefallen sein. Diese Varianten beruhen zunächst auf verschiedener Veranlagung und Auffassungsweise der Schreiber: Mancher hat es nie so gut gehabt wie in der Gefangenschaft, ein anderer nirgends so schlecht wie dort. Während der eine unter der auferzwungenen Arbeitslosigkeit schwer leidet, bekommt dem andern eine fünfjährige Ferienzeit ausgezeichnet. Entbehrungen in der Nahrung, der Kleidung oder der Behausung, Härten der Behandlung werden verschieden schwer empfunden; Fehlen der Weiblichkeit bedeutet für den einen ein Leiden, den andern eine Erlösung, usw., kurz mit Schopenhauer sprechend: »Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer andern Welt.«

Im Ganzen sind mehr der rosenfarbenen Berichte, die glatt durch die Zensur gingen, nach Deutschland gelangt. In der Beschaffenheit der Lager und in der Behandlung der Kriegsgefangenen hat es Unterschiede gegeben. Die nachfolgende Schilderung knüpft an Beobachtungen in Matsuyama und Bando an.

Das Lager in Bando ist deutscherseits teils mit Recht als das »Musterlager« Japans aufgefasst worden. Aeusserlich hatte es vor andern Lagern kaum etwas voraus; kahl und steif standen seine zehn scheunenähnlichen Baracken da. Nebengebäude: zwei Küchen, eine Kantine, zwei Verwaltungsgebäude, ein Arrestlokal, das oft so besetzt war, dass die Anwärter mehrere Tage warten mussten. Beim ersten Anblick der langweiligen Bauten entrang sich wohl mancher Brust ein Seufzer. In diesem Lager hatten die Japaner fünf kleinere Lager zu je 200 Mann zusammengezogen1, für die Japaner eine Ersparnis an Verwaltungskosten, für die Kriegsgefangenen der Vorteil, in dem größeren Gelände, das 15 Minuten im Umfang maß, seltener einen gewehrtragenden Posten zu sehen. Eine Wasserleitung aus Tonröhren und Bambus lieferte — oft kein Wasser; dann halfen zwei Bewässerungsteiche innerhalb des Lagers aus, auf denen sonst Enten und selbstgebaute Boote herumschwammen. Elektrisches Licht wurde vorwiegend gegen Bezahlung geliefert; es brannte dürftig und versagte oft.

Seine Vorzugsrolle verdankte das Lager hauptsächlich dem japanischen Kommandanten [Matsue], der sich bemühte, den Gefangenen das Los nicht zu erschweren, sondern zu erleichtern; er vermied überflüssiges Dazwischenkommandieren, Abzählen und Revidieren und überließ die Gefangenen möglichst sich selber. So entwickelte sich zwischen den Baracken bald ein Stück deutschen Kleinstadtlebens. Mancherlei muss die nächste Umgebung dem Kriegsgefangenen zur Unterhaltung liefern: Eine Spinne oder eine Herrgottsanbeterin wird mit einer Gründlichkeit betrachtet, wie man sie seit der Jugendzeit nicht mehr aufgewendet hat; die Wolke bekommt wieder Gesichter usw. Zwar ist von den Gefangenen auch viel »Sport« getrieben worden, vom damenhaften Tennis bis zum kniebrechenden Treibball, das Heilsamste ist aber die Arbeit gewesen.

Es sind nur wenige als bezahlte Arbeiter von den Japanern herangeholt worden (Viehpfleger, Gärtner, Kesselschmiede), aber gern wandten viele als freiwillige Holzfäller und Brückenbauer für einige Stunden dem Lager den Rücken. Wer arbeiten wollte, fand auch innerhalb des Lagers Beschäftigung als Koch oder Bäcker, Putzer oder Wäscher, Schneider oder Schuhmacher, Tischler oder Schlosser, Barbier oder Photograph. Es gab auch zwei Schlächtereien, eine Konditorei und mehrere Durstlöschstellen. Auf gepachteten Teilen des Schießplatzes wurde Gemüse gebaut und Kleinviehzucht getrieben (nach einer Viehzählung 1425 Stück Federvieh). Im Lager fehlten auch nicht eine Müllabfuhrgesellschaft, eine Transportgesellschaft mit zwei richtig gehenden Pferden und ein Arbeitsnachweis. Lagergeld, das von einem Kriegsgefangenen herausgegeben wurde, und Lagerpostmarken zeugen von Handel und Wandel innerhalb der Drahtumspinnung. Allmählich entstanden im Lagergebiet drei Stadtteile von kleinen Holzbuden, in denen genäht und gehämmert, gemalt und geschnitzt, gegeigt und studiert wurde. Saß man in Matsuyama anfangs auf dem Fußboden, und war der Besitz einer leeren Bierkiste, die als Stuhl, Tisch und Schrank diente, schon ein neiderregender Luxus, so entstanden in Bando aus Bambus, Papier und Brettern gemütlichere Einrichtungen. Da auf den einzelnen Mann nur eine Stätte von 90 mal 200 cm zum Wohnen, Essen und Schlafen entfiel, wohnten die meisten unter ihrem gestelzten Bette.

Geistige Nahrung kam vielfach von Deutschland herein; es sei nochmals allen gedankt, die zum Entstehen der Bücherei beigetragen haben. Missmut erweckten oft die Zeitungen aus der Heimat; welch trauriger Inhalt: Einbruch, Raub und Mord, Wucher und Vergnügungen, der Rest Parteigezänk! Zum Donnerwetter, gibt es denn nichts Gutes in der Welt mehr? Steht den Zeitungsschreibern kein Wort zur Verfügung, das die Herzen emporreisst? Haben die Zeitungen nicht die Verpflichtung gefühlt, das Vaterland verteidigen zu helfen? Wie anders wirkte da die fremde Zeitung, wenn man sie neben die deutsche legte! Alles haut da in eine Kerbe zu dem einen Ziele, dem Siege, mag auch die Methode nicht nachahmenswert sein. Ferner erfährt man aus der durchschnittlichen deutschen Zeitung kaum, dass es ein Ausland gibt; »hinter Berlin ist alles Wasser«.

Da der Verkehr mit der Heimat oft ganz unterbunden war, bildete die Gründung der Lagerdruckerei und einer Lagerzeitung ein bedeutsames Ereignis im Leben der Kriegsgefangenen. Der »Tägliche Telegrammdienst« brachte Uebersetzungen aus japanischen Zeitungen über die Kriegsgeschehnisse, und die Lagerbewohner waren darüber wohl besser orientiert als durchschnittlich die Angehörigen in Deutschland. Zwar riss die Zensur oft Löcher in die Zeitung, aber das Fehlende ist anderswo beschafft worden.

Als Wochenschrift erschien die »Baracke«, als Wiederdruck das »Lagerfeuer« (Matsuyama). Eine Zahl von Büchern wurde im Lager verfasst und gedruckt (Geographie Japans, Uebersetzung zu den japanischen Fibeln, Wegweiser durch die chinesischen Höflichkeitsformen, Ausweisung der Deutschen aus China, Geschäftsgründung in China, Heimaterde und Ahnenblut, Plaudereien über Kunst u.a.). Je ein Exemplar der Druckwerke ist an die Städte Hamburg und Berlin und an die Preußische Staatsbibliothek gesandt worden; das Rote Kreuz in Frankfurt am Main hat mehrere Exemplare erworben und gibt an Interessenten wohl noch einiges ab. Beim Scheiden aus Bando wurde die Gründung einer »Ostasiatischen Monatsschrift« geplant, deren Verlag die Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens in Tokyo übernehmen wollte; wegen der ungünstigen Markvaluta und weil nach dem Erscheinen der »Ostasiatischen Rundschau« eine geringere Dringlichkeit für die Herausgabe besteht, wird wohl vorläufig der Plan aufgegeben werden müssen.

Die künstlerisch ausgeführten Schablonendrucke von Theater-, Konzertzetteln und dergleichen haben in Deutschland vielfach Anerkennung gefunden. Sehr ist durch die Druckerei auch der Unterricht gefördert worden, indem sie die fehlenden Lehrschriftcn herstellte. Für Vorträge, Andachten und Theater stand der halbe Raum einer Baracke zur Verfügung. Das Vorhandensein von zwei Militärkapellen, zwei Streichmusikkapellen und drei Gesangsvereinen beweist schon den regen Wetteifer auf dem Gebiet der Musik.

Welch beneidenswertes Dasein! Dieser Ausruf wird vielleicht manchem Leser entschlüpfen, der die Schattenseite des Gefangenenlebens nicht kennen gelernt hat. Nun, das ist wohl wahr, im ganzen ließ sich das Los der Kriegsgefangenschaft in Japan, zumal in Bando, ertragen, aber mit dem gleichen Atemzuge muss gesagt werden, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. In den Etat war für unsere Hünen nicht mehr eingesetzt als für den kleinen japanischen Soldaten, der mit den steigenden Preisen und immer kleiner werdenden Rationen auch mehr und mehr über die unzureichende Verpflegung klagte. Verschiedentlich von den Kriegsgefangenen vorgetragene Bitten um Aufbesserungen sind erfolglos gewesen; so haben die Gefangenen einen großen Teil der Lebensmittel selber gekauft. Die Kleidung war in Matsuyama dürftig, in Bando reichlicher bemessen, die ärztliche Fürsorge schlecht.

Also, um es nochmals zu sagen: Die Kriegsgefangenen sind durchschnittlich gut über die Zeit von fünf langen Jahren hinweggekommen; doch das ist deutschem Gelde zu verdanken, das teils von Begüterten aus China, Deutschland usw. herübergezogen, teils von Deutschen gestiftet worden ist. Damit haben auch Aktive die Möglichkeit gehabt, sich einen bessern Unterhalt zu verdienen. Zwar wurde den Kriegsgefangenen in den letzten Jahren so ziemlich alles geliefert, was sie wünschten, aber gegen gute Bezahlung. Ohne die Beträge aus dem deutschen Säckel hätte in den japanischen Gefangenenlagern wohl ziemliche Not geherrscht.

Hart waren manche Bestrafungen, die über Kriegsgefangene verhängt wurden, z.B. für Fluchtversuch, und mit Befremden lasen diese, dass ein Vergehen, das in Japan mit einem Jahr Zuchthaus (japanisches!) bestraft worden war, in Deutschland nur mit einem Monat Gefängnis geahndet wurde.

Nach ihrer Ankunft in Japan im November 1914 glaubten die Gefangenen, dass zu Weihnachten der Kampf erledigt sein werde, der Abtransport könne sich höchstens bis zum Frühjahr hinziehen. Das hätte man den Tsingtaukämpfern damals erzählen sollen, dass sie noch fünf Jahre hinter dem Stacheldraht sitzen müssten! Aber wie auch die Zeit vorrückte, man harrte geduldig des Lohnes für die Wartezeit und wurde von jeder guten Botschaft aus der Heimat beseelt wie die Fliege von der Sonnenwärme. Und dann das Ende. Eine wirkliche Leidenszeit begann mit dem Zusammenbruch Deutschlands, die Zeit ruhelosen Wartens. Dazu jagte eine Hiobspost die andere: Liquidation des Vermögens, Ausweisung aus China; es regnete Entlassungsbriefe herein.

Zwar ein Hoffnungsstern trat aus all dem Leid deutlicher hervor: die Heimkehr; aber Woche um Woche schlich ereignislos hin. Durch die Unsicherheit der Zukunft beeinflusst, hatte der zielgerechte Lerneifer abgenommen. Die Unrast der ersten Revolution versuchte auch in das Lager einzudringen; denn neue Ideen wirken ansteckend und machen an Grenzen und Stacheldrähten nicht halt. Zum Glück fand sich rasch die Einsicht, dass man nicht alles nachzumachen brauche, was draußen vorgemacht werde. Die Grippe hielt ihren Einzug in die Gefangenenlager und raffte noch manchen dahin, der sich schon ganz lebhaft das Wiedersehen in der Heimat ausmalte. Monate schwanden; Elsass-Lothringer und Polen zogen davon, der Rest saß fest. Listen über Listen wurden aufgemacht, ohne dass Weiteres darauf erfolgte. Eine Zeitlang versuchte man den Kriegsgefangenen weißzumachen, die deutsche Regierung wäre an der Verzögerung schuld, bis es sich nur schlecht vertuschen ließ, dass sich Japan in der Frage der Gefangenenauslieferung an die Alliierten gebunden hatte.2

Ein Segen war es, dass in dieser öden Warteperiode etwas mehr Freiheit gestattet wurde. Häufigere Spaziergänge machten die Kriegsgefangenen mit dem Leben der japanischen Bauern und Fischer bekannt und erstreckten sich bis zur See. Mit der Bevölkerung haben die Gefangenen auf gutem Fuße gestanden, und in der Umgegend von Bando wird man noch jahrelang die deutschen Grüße »Guten Morgen«, »Guten Tag«, »Hummel, Hummel« aus dem Munde der gesamten Schuljugend hören können. Hatten die Japaner schon vordem die gefangenen Vögel im Käfig und bei der Ausstellung gehörig studiert, so konnten sie nun ihre Gäste in halber Freiheit beobachten; Turner und Schauspieler mussten wiederholt ihre Leistungen vorführen.

Zwar ist in dieser Zeit den Kriegsgefangenen eine große Zahl von Stellen von den Japanern angeboten worden, besonders von Betrieben, die noch von den Europäern zu lernen haben; so wurde eine Menge technischer Kräfte für einen großzügigen Schlachthausbetrieb in der Mandschurei mit Verwertung sämtlicher tierischen Produkte angefordert, zum Abschluss von Kontrakten ist es aber nur in wenigen Fällen gekommen (Ingenieure, Gerber, Brauer, Viehpfleger); meist scheiterten die Verhandlungen an den Gehaltsforderungen der Deutschen.

Viel ist es nicht, was die Kriegsgefangenen in die Heimat mitbringen, aber doch allerlei an Kenntnissen, besonders des Japanischen und Chinesischen, erworben in fünfjähriger Arbeit, allerlei an Beobachtungen über Natur und Kunst, Lebensführung und Technik, allerlei an Entschlüssen für neue Wege, die von der neuen Zeit geheischt werden. Möge vieles davon Früchte tragen, und mögen die Tüchtigen unter den Heimkehrern unter den neuen Verhältnissen an den richtigen Platz im geschäftlichen und politischen Leben gelangen. Dann wird man nicht die Frage zu hören bekommen: Was sollte eigentlich der ganze Vorstoß nach dem Fernen Osten? Wie die Kreuzfahrer haben wir zwar das ferne Land nicht zu behaupten vermocht; aber eine Fülle von Anregung floss von den Kreuzzügen in die Heimat, und so sollen die Heimkehrer, obgleich anscheinend in allen Winkeln Deutschlands verschwunden, als Ferment wirken, wodurch das Volksleben gehoben wird, und wäre es auch nur auf dem Gebiete des Familienlebens, auf dem wir noch so viel von den ostasiatischen Völkern zu lernen haben, oder wäre es bei der Arbeit: Freude am Schaffen, Treue in der Arbeit. Zusammengeschweisst durch die gemeinsame Not, bilden die heimgekehrten Kriegsgefangenen eine Arbeitsgemeinschaft von Kopf- und Handarbeitern, die das Heil nicht ausschließlich in der Münchhausenschen Lohnpolitik sieht, die sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpfe ziehen will, sondern die durch Mehrproduktion die Kaufkraft des Lohngeldes verbessern will. In diesem Sinne sei der Heimgekehrte, der mit der Feder oder am Schraubstock oder hinter dem Pfluge schafft, als Mitglied dieser Arbeitsgemeinschaft gegrüßt.

Geduld zur Lösung von Aufgaben bringen die Kriegsgefangenen genug mit; denn Geduld ist ja die Hauptwesensseite, die in der Gefangenschaft erprobt und gefestigt wird. Die meisten haben sich zu Goethes Erkenntnis durchgerungen: »Jedes Leben sei zu führen, wenn man sich nicht selbst vermisst.« Diese Geduld wird auch den Glauben an den guten Kern des Volkes nicht verlieren, so tief man in diesen Zeiten der Verwilderung auch danach schürfen muss. Möchte auch ein Abglanz des Kriegsgefangenenhumors in den jetzigen mürrischen Geschäftsbetrieb hineinfallen, jenes Humors, der die Wassersuppe in ein lukullisches Mahl, den Bretterverschlag in ein Himmelbett verwandelt, und der sich nicht verschnupfen lässt, dass man auf der Eisenbahn von Wilhelmshaven her noch den letzten Rest seiner Habe eingebüßt hat. »Haizuru« oder, wie es in Ostasien heisst: »Maskie«!
 

Anmerkungen

1. Diese Angabe mag sich daraus erklären, dass der Verfasser die drei Teile des Lagers Matsuyama zu Marugame und Tokushima addierte.

2. Richtig ist, dass Japan in ernsthafte Verhandlungen über den Rücktransport der Gefangenen erst einzutreten bereit war, nachdem am 28.06.1919 der Friedensvertrag unterschrieben war.
 

©  für diese Fassung: Hans-Joachim Schmidt.
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