Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Die Ärztin von Tsingtau

Rezension eines »historischen Romans«
 

SpindlerInhaltstext (im Vortitel): »Im Jahre 1910 reist die 24-jährige Marie Hildebrand nach Abschluss ihres Medizinstudiums von Berlin nach Tsingtau, der Hauptstadt der deutschen Kolonie in China, um Zeit mit ihrem Vater zu verbringen, der dort lebt. Schnell wird ihr klar, dass es unter der idyllischen Oberfläche Tsingtaus brodelt: In China herrschen Chaos, Armut und revolutionäre Unruhe, die in die deutsche Kolonie eindringt. Als moderne Frau nimmt Marie das Angebot des Hospitalleiters an, eine Frauenstation aufzubauen, doch ihre undamenhaften Aktivitäten sorgen für Aufregung und Empörung in der Kolonie. Auch privat sind es für Marie aufwühlende Zeiten: Philipp von Heyden, ein deutscher Marinearchitekt, umwirbt sie – doch sie verliebt sich ausgerechnet in Du Xündi, einen chinesischen Revolutionär.«

Autorin: Sibylle Spindler wohnt in Flensburg. Sie »studierte Sinologie in München und Taipei und arbeitet heute freiberuflich als Lektorin, Dramaturgin und Übersetzerin für internationale Filmfirmen«. Die »Ärztin« ist ihr erster Roman.

Berlin: Aufbau-Verlag 2015. Taschenbuch, 494 Seiten. ISBN 978-3-7466-3092-2. 12,99 €.


Vorweg: Ich bin kein Fachmann für Belletristik im Allgemeinen und »historische Romane« im Besonderen. Warum also diese Rezension? Weil ich (fast) alles lese, was mit Tsingtau zu tun hat, und dazu gehören auch ortsbezogene Romane, von denen es ja bereits eine größere Zahl gibt.1

Ein »historischer Roman« wird definiert als eine »umfang- und figurenreiche Prosadichtung, die historisch authentische Vorfälle und Gestalten behandelt oder in historisch beglaubigter Umgebung spielt und auf einem bestimmten Geschichtsbild beruht«.2 Fiktionales (Erfundenes) und faktisch Geschehenes sind miteinander verwoben, beider Anteile können unterschiedlich groß sein.

Was kann von diesem historischen Roman erwartet werden, wie ist er zu bewerten? Zunächst gelten die allgemeinen Kriterien für Romane, z.B. in Bezug auf

  1. Figuren — Die Titelfigur »Marie« und die anderen Protagonisten werden glaubhaft dargestellt samt ihren durchaus unterschiedlichen Mentalitäten. Das gilt sowohl für die deutschen ›Besatzer‹ mit ihren positiven und negativen Eigenschaften als auch für die Einheimischen; die kulturelle Differenz wird thematisiert, aber nicht ausgeschlachtet.
  2. Handlung — Die Handlung ist figurenreich und komplex. Sie ist als Frauen-, Vater-Tochter- und Liebesgeschichte, auch als Kolonial- und Gesellschaftsgeschichte zugleich angelegt mit allem, was dazugehört, Geburt, Krankheit und (gewaltsamer) Tod eingeschlossen.3 Der Einstieg ist einfach, der rote Faden gerät niemals außer Sicht, das – vorläufige? – Ende ist plausibel.
  3. Dialoge — Es wird viel gesprochen; die wörtliche Rede dominiert und ist durchweg belangvoll, kein bloßes Geplauder.
  4. Sprache und Stil — Das Buch ist in einem sehr guten und verständlichen Deutsch verfasst ohne irgendwelche Manierismen oder überflüssige fremdsprachige Einsprengsel (und ohne hochstaplerisches »Denglisch«); vorbildliche Rechtschreibung (hat heutzutage Seltenheitswert!).

Auch für die historische Komponente lassen sich Kriterien formulieren, z.B. in Bezug auf

  1. Historische Verortung — Der Roman spielt in der relativ kurzen Zeit von Oktober 1910 bis Sommer 1911 (bis nach der Abreise des Gouverneurs Truppel am 14.05.1911). Der Zeitraum ist günstig gewählt: Die Tsingtauer Gesellschaft hat sich ›formiert‹, aber das Menetekel, China betreffend, steht bereits an der Wand.4
  2. Relation zum Fiktionalen — Die Eigenheiten der Situation im Pachtgebiet und darüber hinaus dienen nicht lediglich als Kulisse, sondern werden sorgfältig integriert; das gilt auch für Natur und Landschaft, Kultur und Religion. Bei der politischen Bewertung hält sich die Autorin zurück.
  3. Behandlung historischer Figuren — Es gilt das von Walter Scott, einem Mitbegründer des Genres, entwickelte Muster: Historische Nebenpersonen werden zu Hauptpersonen gemacht. Bei der ›Verschlüsselung‹ geht die Autorin einen Mittelweg: Es tauchen einige wenige Klarnamen auf (von den Protagonisten: Walter Uthemann, Richard und Salome Wilhelm, Richard Wunsch, Manfred Zimmermann), manche Personen erhalten lediglich einen anderen Vornamen (»Adele« statt »Helene« Luther), viele werden unbenannt. Ein Kriterium hierfür ist nicht erkennbar, was sich auf das Verständnis insgesamt aber nicht auswirkt. Im Übrigen ist es für einen Roman konstitutiv bzw. legitim, erfundene Personen (Marie, Philipp) einzufügen.
  4. Hintergrundrecherche — Die Autorin hat sich mit dem Schauplatz gründlich vertraut gemacht; man kann »Marie« gut folgen, wenn sie durch die Straßen geht. Zur Recherche gehörten sowohl ein Besuch im heutigen Qingdao als auch die Durcharbeitung der 1904-1914 erschienenen »Tsingtauer Neuesten Nachrichten«.

Und das in der Definition eingangs erwähnte Geschichtsbild? »Marie« steht für universelle Menschenrechte und tätige Mitmenschlichkeit über die Grenzen von Gebieten, Völkern und Klassen hinweg. Das geht weit über bloße Toleranz hinaus und unterscheidet sich auch insofern von der älteren Literatur.
 

Anmerkungen

1.  Siehe aus der Gründungszeit die vielgelesenen Bücher von Paul Lindenberg (»Fritz Vogelsang. Die Abenteuer eines deutschen Schiffsjungen in Kiautschou«) und Ernst Neumann (»Die Flüchtlinge aus Kiautschou und Kulturgeschichtliches aus China«), aus dem Weltkrieg die Romane von Dietrich Darenberg (»Im Kampf um Tsingtau« und Fritz Reck-Malleczewen (»Aus Tsingtau entkommen«) sowie aus jüngster Zeit Petra Gabriel (»Die Konkubine«) und Victoria Lundt (»Das Jade-Medaillon«).

2.  So Meyers Enzyklopädisches Lexikon (9. Auflage, Band 12 [1974}, S. 80) – eine von vielen Definitionen.

3.  Es wird auch geküsst, aber damit hat es sich – ein »jugendfreies« Buch also.

4.  Eine Fortsetzung im zeitlichen Anschluss wäre durchaus möglich.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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