Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Japans Eintritt in den Krieg 1914

Dass sich das japanische und das deutsche Kaiserreich 1914 als Kriegsgegner gegenüberstehen würden, war für die meisten Deutschen, die sich zu dieser Zeit in Ostasien aufhielten, eher unwahrscheinlich, zumal die beiderseitigen Beziehungen während der gesamten Meiji-Ära (1868-1912) als kooperativ, bis 1895 sogar als herzlich zu bezeichnen waren. Aus der Perspektive der Spitzen von Politik und Militär galt das freilich nicht, dort rechnete man mit dem Eingreifen Japans.

Die folgende Darstellung der entscheidenden Wochen im August 1914 ist der Dissertation von Elmar Peter "Die Bedeutung Chinas in der deutschen Ostasienpolitik" (Hamburg 1965) entnommen; für die Genehmigung zum Abdruck bedankt sich der Redakteur sehr herzlich beim Autor. Am Text wurden lediglich kleine Anpassungen vorgenommen (z. B. "Tsingtau" statt "Ts'ingtao"), die meisten Fußnoten weggelassen und die verbleibenden in den Text integriert; ferner wurden Erläuterungen – siehe die Statuszeile am unteren Bildrand –, Zwischenüberschriften in [...] und Absatznummern eingefügt.

Kapitelübersicht der Dissertation von Elmar Peter:
A) Deutschland und die großen Mächte in China (1894-1911) [Seite 1-33]
B) Deutschland und China vom Ausbruch der chinesischen Revolution bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges 1911-1914 [Seite 34-133]
C) Die deutsch-chinesischen Beziehungen im ersten Weltkrieg [Seite 134-250]
     1. Der Kriegsausbruch in Fernost bis zur japanischen Kriegserklärung an Deutschland (23.8.1914) [S. 136-162]
     2. Der Kriegseintritt Japans, der Verlust Tsingtaus und der deutschen Konzessionen in Shantung [Seite 163-172]
     3. Die Lage der Deutschen in den ersten Kriegsjahren [Seite 173-182]
     4. Die deutsche Ostasienpolitik in den ersten Kriegsjahren [Seite 183-250]
D) Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen China und Deutschland [Seite 251-279]
E) Die deutsche Fernostpolitik von 1911 bis 1917: Ziele – Methoden – Ergebnisse [Seite 280-287]

Inhalt der hier abgedruckten Abschnitte C.1 und C.2 (mit Zwischenüberschriften):
A. Das politische Kräftefeld in Ostasien bei Kriegsausbruch
A.1 Interesse Chinas und Deutschlands am Status quo (Abs. 1-4)
A.2 Deutsches Angebot zur Rückgabe Kiautschous an China (Abs. 5-7)
A.3 Erzwungene Zurückweisung des Angebots (Abs. 8-10)
A.4 Verhältnis der USA zu Japan (Abs. 11-13)
A.5 Verhältnis Großbritanniens zu Japan (Abs. 14-15)
A.6 Verhältnis Rußlands zu Japan (Abs. 16-19)
B. Chronologie der diplomatischen Bemühungen
B.1 Deutsche Vorbereitungen zur Selbstverteidigung (Abs. 20-22)
B.2 Chinesische Neutralitätserklärung (Abs. 23-26)
B.3 Japan Berufung auf Bündnis mit Großbritannien (Abs. 27-29)
B.4 Unentschlossenheit der britischen Regierung (Abs. 30-34)
B.5 Eingeschränktes britisches Hilfeersuchen an Japan (Abs. 35-36)
B.6 Taktieren Japans gegenüber Deutschland (Abs. 37-40)
B.7 Japans Entscheidung zum Kriegseintritt (Abs. 41-45)
B.8 Deutlichwerden der japanisch-britischen Interessengegensätze (Abs. 46-50)
B.9 Japanisches Ultimatum an Deutschland am 15.8. (Abs. 51-53)
B.10 Ohnmacht Chinas, Duldung durch die USA (Abs. 54-56)
B.11 Deutsches Entgegenkommen gegenüber Japan (Abs. 57-59)
B.12 Deutsche Grundsatzentscheidung zur Verteidigung Kiautschous (Abs. 60)
B.13 Fortdauerndes britisches Unbehagen gegenüber Japan (Abs. 61-62)
C. Der Kriegseintritt Japans, der Verlust Tsingtaus und der deutschen Konzessionen in Shantung
C.1 Geringe deutsche Verteidigungskräfte (Abs. 63)
C.2 Japanischer Vormarsch über chinesisches Gebiet (Abs. 64)
C.3 Fruchtlose chinesische Beschwerde (Abs. 65-66)
C.4 Fruchtloser deutscher Druck auf China (Abs. 67-70)
C.5 Scharfer, aber erfolgloser Protest gegen japanische Besetzungen (Abs. 71-73)
C.6 Empörung in China gegen England und Japan (Abs. 74)
C.7 Kein Eingreifen der USA (Abs. 75)
C.8 Deutschland vermeidet den Bruch mit China (Abs. 76)
C.9 Japan besetzt weitere Gebiete und enteignet die Shantung-Eisenbahn (Abs. 77-78)
C.10 Kapitulation Kiautschous (Abs. 79)
 

[A.  Das politische Kräftefeld in Ostasien bei Kriegsausbruch]

[A.1  Interesse Chinas und Deutschlands am Status quo]

1 Sowohl Berlin als auch Peking mußte nach dem Ausbruch des Krieges in Europa daran gelegen sein, den politischen Status quo auf dem ostasiatischen Festlande zu erhalten. Den Deutschen ging es dabei um die Sicherung ihrer Konzessionen in China vor feindlichen Übergriffen, den Chinesen um die Erhaltung ihrer staatlichen Souveränität und Integrität. Wichtige Voraussetzung dafür war eine von allen Mächten gleichermaßen respektierte Neutralität Chinas.

2 Besonders die junge, noch um ihre politische Existenz ringende chinesische Republik brauchte Ruhe für ihre innerstaatliche Entwicklung. Die chinesische Revolution war keineswegs beendet, die innere Stabilität keineswegs wiederhergestellt. Im Gegenteil – die Beseitigung des Parlamentarismus und die Ausschaltung der Kuomintang durch Yüan Shi-k'ai sowie die angekündigte Verwaltungsreform leiteten die permanente Revolution ein, die teils untergründig weiterschwelte, teils in kleinen Rebellionen sichtbar wurde. Gefahr drohte in besonderem Maße von Japan, das ein starkes Interesse am Fortbestehen irregulärer innenpolitischer Zustände in China hatte. Yüan kennzeichnete die fatale Lage Chinas 1914 wie folgt: England wünsche Handel mit China zu treiben, Rußland wolle Gebiet, Japan beides!

3 Zwar erkannte die chinesische Regierung, daß sie Japan gegenüber nicht eine Politik latenter Opposition führen konnte, sondern – gestützt auf die um ihre Interessen besorgten übrigen Staaten – ein friedliches und möglichst spannungsfreies Nebeneinander mit der insularen Großmacht suchen mußte. Was aber würde geschehen, wenn die europäischen Mächte – mit all ihren Kräften in Europa gebunden – den Japanern ein macht- und wirtschaftspolitisches Vakuum in China hinterließen, in das sie unter Berufung auf bündnismäßige Verpflichtungen oder auf die eigene Sicherheit hineinstoßen konnten? Wer würde sie hindern, sich durch die Eroberung Tsingtaus etwa eine weitere günstige Ausgangsposition für die Beherrschung Ostasiens zu verschaffen? Tsingtau, durch Eisenbahnen mit Tsinanfu und Tientsin verbunden, war für die Japaner neben Dairen und Port Arthur ein neuer, direkt gegen Peking gerichteter Stützpunkt. Yüan Shi-k'ai mußte also sowohl im staatlichen als auch im persönlichen Interesse bemüht sein, jede militärische Aktion Japans in China zu vereiteln. Da aber die militärische Abwehr einer japanischen Invasion in Shantung ohne fremde Unterstützung für Peking unmöglich war, mußte die chinesische Regierung versuchen, eine von allen Seiten anerkannte Neutralität zu erreichen.

4 Strikte Neutralität Chinas war auch für Deutschland am vorteilhaftesten. Da nicht zu erwarten war, daß China – wenn überhaupt – an der Seite Deutschlands in den Krieg eintreten würde, waren die deutschen Interessen im Lande, seine Konzessionen, Investitionen, seine Schulen, Krankenhäuser, Missionsanstalten und industriellen Unternehmungen dem Zugriff der Feindmächte am besten in einem neutralen China entzogen. Wurde China – gedrängt durch die Feinde des Reiches – hingegen zur kriegführenden Macht gegen Deutschland, so ergab sich daraus für Peking das Recht zur Beschlagnahme deutschen Eigentums, das allein im Bereich der Regierungsanleihen bei Kriegsausbruch 18,3 % der gesamten deutschen Auslandsinvestitionen betrug.

[A.2  Deutsches Angebot zur Rückgabe Kiautschou an China]

5 Da die Verlockungen für Peking, durch eine Kriegserklärung gegen Deutschland schnell und billig in den Genuß so großer Reichtümer zu gelangen, stark sein mußte, hat es die deutsche Diplomatie an Bemühungen, den Neutralitätswillen der chinesischen Regierung bei Kriegsausbruch zu stärken, nicht fehlen lassen. In den Krisentagen vor dem japanischen Ultimatum an Deutschland unterbreitete der deutsche Geschäftsträger in Peking, Legationsrat v. Maltzan, der chinesischen Regierung sogar den Vorschlag, das Pachtgebiet Kiautschou an China zurückzugeben, um auf diese Weise eine bewaffnete japanische Intervention zu verhindern und gegen Preisgabe Kiautschous den übrigen Besitz des Reiches in China umso sicherer zu erhalten.

6 Am 23.8.1914 berichtete er darüber Bethmann: Da die Verteidigung Tsingtaus gegen einen japanischen Angriff aussichtslos sei, habe er "bei den ersten Anzeichen des europäischen Konflikts mangels drahtlicher Verbindung mit Berlin selbständig alles versucht, Tsingtau auf friedlichem Wege Deutschland oder wenigstens dem deutschen Einfluß zu erhalten." Zunächst sei an eine Neutralisierung Ostasiens und der ostasiatischen Gewässer durch gemeinsame Vermittlung Japans und der Vereinigten Staaten gedacht worden. Gleichzeitig habe er das Waichiaopu wissen lassen, daß Deutschland bereit sei, Kiautschou "durch einen vordatierten Vertrag ... unter weitgehenden Vorbehalten, insbesondere unter Sicherung der wirtschaftlichen Vormachtstellung an China" zurückzugeben.

7 Wäre diese Transaktion zustande gekommen, so hätte ein nach dem Kriegseintritt Englands allgemein erwarteter Angriff Japans auf Tsingtau als Völkerrechtsverletzung gebrandmarkt werden können, was möglicherweise nicht ohne Rückwirkung auf die kühle Reaktion der Amerikaner auf das Geschehen in Ostasien nach Kriegsausbruch geblieben wäre.

[A.3  Erzwungene Zurückweisung des Angebots]

8 Der britische Gesandte in Peking kündigte jedoch an, daß die britische Regierung einer Rückgabe Tsingtaus an China nicht zustimmen könne. Auch Tokio protestierte und riet Peking, das deutsche Angebot zurückzuweisen. Dabei handelte Maltzan durchaus in Übereinstimmung mit dem Pachtvertrag von 1898, in dem die vorzeitige Rückgabe Tsingtaus – allerdings gegen die Überlassung eines anderen Gebietes – als Möglichkeit vorgesehen war.  London und Tokio kümmerte das wenig. Für sie war das deutsche Angebot kein Zeichen des Wohlwollens gegenüber China, sondern ein taktischer Schachzug, um die Stellung des Reiches in China zu erhalten und den Japanern die schon sicher geglaubte Beute zu entreißen. Würde Peking darauf eingehen, so sähen sie darin "eine indirekte Unterstützung, ... die China Deutschland gewähre," und einen Verstoß gegen seine Neutralität. Die russische und französische Regierung teilten den Standpunkt ihrer Bundesgenossen.

9 Für die chinesische Regierung aber war das deutsche Angebot doppelt vorteilhaft. Die Möglichkeit, Kiautschou zurückzuerhalten und damit einem japanischen Angriff zuvorzukommen, war in greifbare Nähe gerückt. Es ist daher verständlich, daß Peking angesichts des alliierten Mißvergnügens nach einem Ausweg suchte, das deutsche Angebot annehmen zu können, ohne eine alliierte Intervention auszulösen. So erging an Washington die Bitte, sich alle von Deutschland erworbenen Rechte in Kiautschou und Shantung übertragen zu lassen und diese dann sogleich an China weiterzugeben. Nur so könne ein japanischer Angriff verhindert werden, nur so sei ein japanischer Anschlag auf die Unabhängigkeit Chinas zu vermeiden. Der amerikanische Staatssekretär Bryan lehnte ab mit dem Bemerken, daß durch den chinesischen Vorschlag ein bewaffneter Konflikt in Ostasien eher provoziert als verhindert werde. So mußte die chinesische Regierung das Angebot Maltzans zurückweisen.

10 Die Absicht Yüan Shi-k'ais, Deutschland den Krieg zu erklären, um Tsingtau zurückzuerobern, war mehr ultima ratio, um dem drohend näherrückenden japanischen Angriff zuvorzukommen, als ein bewußt feindlicher Akt gegen Deutschland. Den Chinesen war die deutsche Flagge über Tsingtau angenehmer – weil ungefährlicher – als die Anwesenheit japanischer Truppen in Shantung und damit vor den Toren Pekings. Die europäischen Alliierten lehnten aber das chinesische Angebot mit der Begründung ab, daß ein chinesischer Kriegseintritt wahrscheinlich zu Verwicklungen mit einer "gewissen Macht" führen würde. Besonders Japan hatte einen triftigen Grund, sich einem Kriegseintritt Chinas zu widersetzen. Ein kriegführendes China hätte Sitz und Stimme auf einer späteren Friedenskonferenz beanspruchen können und damit die Möglichkeit erhalten, seine Rechte nachdrücklich gegen Japan verteidigen zu können.

[A.4  Verhältnis der USA zu Japan]

11 Auch die Vereinigten Staaten befürworteten die Erhaltung des Friedens und des status quo in Ostasien. Sie waren aber nicht bereit, sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden politischen und militärischen Mitteln dafür einzusetzen. Das japanische Ultimatum an Deutschland beunruhigte den Kongreß zwar stark. Wilson beschwichtigte jedoch die aufkommenden Besorgnisse durch eine mildernde, das japanische Vorgehen beinahe entschuldigende Erklärung. Die Japaner – so meinte er – handelten in Übereinstimmung mit ihren vertraglichen Verpflichtungen und würden die Souveränität und die Integrität Chinas achten.

12 Dennoch wurde im Kongreß gefordert, die amerikanische Regierung möge gegen eine Besetzung des deutschen Pachtgebietes durch japanische Truppen protestieren. Dahinter stand die echte Besorgnis amerikanischer Politiker, daß eine völlige Vertreibung Deutschlands aus Ostasien und dem Pazifik und die Übertragung seiner Rechte an Japan dem ostasiatischen Kaiserreich einen einseitigen, den amerikanischen Interessen zuwiderlaufenden Machtzuwachs einbringen könnte. Guthrie äußerte gleichfalls dem Grafen Rex gegenüber seine Bedenken gegen eine völlige "Vertreibung" Deutschlands aus Ostasien.

13 Tokio zeigte wenig Respekt, zumal Bryan dem japanischen Botschafter – russischen Berichten zufolge – mitteilte, daß die Kongreßresolution nur formaler Natur sei und keinerlei Folgen haben werde. Mag auch die Berichterstattung des russischen Botschafters in Washington vom eigenen Wunschdenken entstellt und demgemäß die Nachgiebigkeit der Amerikaner gegenüber japanischen Wünschen übertrieben worden sein; Tatsache ist, daß die Politik der "Offenen Tür", die stets lautstark von Washington als politisches Prinzip verkündet worden war und die indirekt die Wahrung der staatlichen Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit Chinas einbezog, selbst in Amerika als "antiquiert" und als "eine Politik ohne Zukunft" empfunden wurde. Wilson schätzte die Lage in Fernost ebenso nüchtern ein wie sechs Jahre zuvor Roosevelt, und ebensowenig wie dieser war er bereit, eines überholten politischen Prinzips wegen irgendwelche Risiken einzugehen, obwohl eine Inbesitznahme der deutschen Besitzungen in der Südsee durch Japan auch die Philippinen in das Blickfeld japanischer Begehrlichkeiten rücken konnten.

[A.5  Verhältnis Großbritanniens zu Japan]

14 Auch Engländer, Franzosen und Russen, die ihre gesamte wirtschaftliche und militärische Kraft auf dem europäischen Kriegsschauplatz konzentrieren mußten, konnten eine einseitige Änderung des Status quo in Ostasien zugunsten Japans nicht ohne Besorgnis hinnehmen. Eine Konzentration der japanischen Interessen in Shantung konnte zwar für Rußland von Vorteil sein, wenn damit der japanische Druck in der Manchurei und der Inneren Mongolei gemildert wurde. Wer hätte das prophezeien und demgemäß einer weiteren Vergrößerung des japanischen Einflusses in China leichten Herzens zustimmen können? Den Engländern wiederum war an einer Minderung des deutschen Wirtschaftseinflusses in China gelegen. Sie hätten demgemäß eine Wegnahme Tsingtaus durch die Japaner ohne Vorbehalte befürworten können, wenn damit nicht die viel größere Gefahr einer politischen und wirtschaftlichen Rivalität Japans in China heraufbeschworen wurde. Deutschland hatte sich zwar als nicht immer bequemer, aber – wie die Zusammenarbeit im Syndikat gezeigt hatte – letztlich doch als manipulierbarer und auf Kooperation bedachter Konkurrent in China gezeigt.

15 Würde Japan in ähnlicher Weise lenkbar sein? Wer garantierte dafür, daß nicht plötzlich der an europäischen Vorbildern orientierte japanische Imperialismus in Anlehnung an die "Kulturbund"-Pläne der Jahrhundertwende in einen ostasiatischen Nationalismus umschlug, der an die Stelle der europäischen die ausschließlich japanisch-chinesische Beherrschung Ostasiens ersetzte? Noch schweigen die britischen und französischen Archive, so daß nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden kann, ob die englische und französische Diplomatie die vorwärtsdrängende Kraft Japans in Richtung auf das Festland und auf die Inselwelt der Südsee unterschätzt und geglaubt hat, sie jederzeit unter Kontrolle halten zu können. Wenn Grey dem amerikanischen Botschafter bekannte (11.8.1914), daß England die Erhaltung des Status quo in China wünsche, so war das ehrlich gemeint. Das Foreign Office wünschte keine grundlegende Machtverschiebung in China – von einer Schwächung Deutschlands abgesehen. Die Schmälerung oder völlige Beseitigung des deutschen Einflusses in China wollte England aber sich selbst und nicht Japan vorbehalten.

[A.6  Verhältnis Rußlands zu Japan]

16 Groß war bei Kriegsausbruch auch in Petersburg die Furcht, Japan könne den europäischen Konflikt dazu benutzen, sich in Ostasien einseitige Vorteile zu verschaffen. Die russische Regierung regte daher sogleich den Abschluß eines zweiseitigen Besitzgarantievertrages zwischen Rußland und Japan an. Beide Regierungen sollten "die Verträge, Abkommen und Übereinkünfte, die zwischen ihnen abgeschlossen und gegenwärtig in Geltung" waren, bestätigen. Die russische Regierung erreichte jedoch lediglich ein Sonderabkommen mit England und Frankreich (5.9.1914), in welchem sich die drei Mächte verpflichteten, "im Laufe des jetzigen Krieges keinen Sonderfrieden zu schließen."

17 Kato sicherte jedoch nur mündlich zu, keinen Sonderfrieden mit Deutschland abzuschließen (9.9.1914). Außerdem erklärte der japanische Militärattache in Petersburg, Rußland könne seine ostasiatischen Grenzen ohne Furcht von Truppen entblößen "und wegen der Ordnung in China ruhig sein." Gerade diese japanische Garantie gab in Petersburg Anlaß zu verstärktem Mißtrauen. Welche Ordnung meinte Tokio, eine Ordnung im Interesse aller oder nur eine zum eigenen Vorteil? Den Einsatz eines japanischen Hilfskorps an der russischen Westfront, den Grey angeregt hatte, lehnte der russische Generalstabschef Januschkewitsch mit dem Hinweis ab, daß es "nicht ungefährlich" sei, ein japanisches Expeditionskorps durch ein von russischen Truppen entblößtes Sibirien zu transportieren, "da man den Japanern nicht völlig trauen dürfe."

18 Die Japaner dachten jedoch gar nicht daran, sich militärisch zu verzetteln und Truppen und Seestreitkräfte nach Europa zu entsenden. Malewski-Malewitsch teilte aus Tokio mit, daß sowohl die japanische Oppositionspartei Seiyukai als auch die Regierung "die Entsendung eines japanischen Hilfskorps ...anscheinend überhaupt nicht in Erwägung" zögen. Im Dezember 1914 stellte Kato kategorisch fest, daß Japan "im gegenwärtigen Augenblick" keine Truppen nach Europa entsenden werde, weil damit der Sicherheit Japans und seinen Interessen nicht gedient sei. Diese Äußerung – bereits nach der Eroberung Tsingtaus getan – zeigte, wie wenig die Entente mit einer aktiven Militärhilfe Japans rechnen konnte.

19 Die Japaner hatten ihr Ziel fest im Auge: "Jetzt bietet sich für Japan der günstige Augenblick", so lautete ein Aufruf der patriotischen Vereinigung "Schwarzer Drachen" (August 1914), "um die Chinafrage zu lösen. Eine gleich günstige Situation wird sich vielleicht erst wieder in 1000 Jahren ergeben." Die "Chinafrage lösen" hieß für Japan, die Hegemonie in Ostasien errichten. Je mehr sich die offizielle japanische Politik mit diesen hegemonialen Zielen nationalistischer Bünde identifizierte, desto stärker wandte sie sich gegen die Ostasienpolitik ihrer europäischen Alliierten.

[B.  Chronologie der diplomatischen Bemühungen]

[B.1  Deutsche Vorbereitungen zur Selbstverteidigung]

20 Wer brachte den Krieg nach Ostasien? Es ist verständlich, daß die deutsche Regierung, nachdem in Europa die ersten Schüsse gefallen waren, in Ostasien alle notwendigen Vorbereitungen zur Selbstverteidigung traf. Alle in China stehenden deutschen Truppenverbände wurden in Tsingtau konzentriert. Sämtliche in Ostasien befindlichen Reservisten erhielten Befehl, sich dort einzufinden (1.8.1914) [Fußnote: Selbst die deutsche Gesandschaftsschutzwache in Peking rückte in Stärke von 6 Offizieren und 110 Mann nach Tsingtau ab. Lediglich 10 Mann verblieben in Peking. [Quelle: Die britischen amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1898-1914, Ausbruch des Krieges II, Nr. 414.]

21 Nach der britischen Kriegserklärung an Deutschland erging am 4.8.1914 an die in Tsingtau ansässigen britischen Staatsangehörigen die Ausweisungsanordnung. Dem britischen Konsul in Tsinanfu wurde aber mitgeteilt, daß man ihnen "reichlich Zeit und Erleichterung" gewähren werde. Das war eine von den deutschen Behörden bewußt gezeigte versöhnliche Geste, um die durch den Ausbruch der Feindseligkeiten in Europa hervorgerufenen Spannungen im diplomatischen Korps in Peking zu mildern und die Beziehungen zwischen Deutschen und Engländern im neutralen China nicht unnötig zu belasten. Der eigenwillige und kühle Realpolitiker Maltzan vertrat nämlich die Meinung, daß die Gesandtschaftskonferenzen in Peking, die nach wie vor zur Behandlung wichtiger Fragen von allgemeiner Bedeutung einberufen wurden, in Anbetracht der vielen gleichgerichteten Interessen selbst unter den kriegführenden Mächten ebenso weitergeführt werden müßten wie die offiziellen Beziehungen der diplomatischen Vertretungen in Peking untereinander.

22 Zweifellos war hier deutscherseits der Gedanke mit im Spiel, durch besondere Betonung gemeinsamer Anliegen (in der Anleihepolitik beispielsweise) Gegensätze zu verschleiern oder in ihren Folgewirkungen zu mildern. Erwies sich dieser Plan einer weiteren konstruktiven Zusammenarbeit als nicht durchführbar, so sollten dem deutschen Gesandten wenigstens Sitz und Stimme in der Gesandtschaftskonferenz erhalten bleiben, um der chinesischen Regierung auch weiterhin die volle Gleichberechtigung des Reiches im Konzert der großen Mächte zu demonstrieren und sie vor einer übereilten Option für den nach dem Kriegseintritt Japans überlegen erscheinenden Viererblock zu warnen.

[B.2  Chinesische Neutralitätserklärung]

23 Vorerst jedoch unterließ die chinesische Regierung jede offene Parteinahme. Am 4.8.1914 telegraphierte Maltzan, Yüan Shi-k'ai wolle die Neutralisierung aller Pachtgebiete beantragen. Er (Maltzan) habe darauf geantwortet, "Deutschland würde (dem) Vorschlag nur nähertreten, falls alle interessierten Mächte zustimmten und (die) Garantie für (eine) wirksame Durchführung der Neutralisierung" geben würden. Am 6.8. erließ Yüan Shik'ai eine Neutralitätserklärung, in der den kriegführenden Mächten untersagt wurde, "irgendeinen Teil chinesischen Gebietes oder chinesischer Gewässer zu besetzen oder militärische Stützpunkte zu errichten" oder Truppenbewegungen durchzuführen. Was war damit gewonnen? Nichts – solange der Wunsch Pekings, neutral zu bleiben, von den kriegführenden Parteien nicht respektiert wurde und die chinesische Regierung die Beachtung ihres Neutralitätsverlangens nicht erzwingen konnte.

24 So ersuchte das Waichiaopu die Vereinigten Staaten (3.8.), die bereits im Kriege befindlichen Mächte zu veranlassen, die Kampfhandlungen nicht "auf chinesisches Staatsgebiet und auf die chinesischen Hoheitsgewässer sowie auf die anliegenden Pachtgebiete" auszudehnen. Die amerikanische Antwort muß in Peking die Wirkung einer kalten Dusche gehabt haben. Washington pflichtete der chinesischen Regierung zwar darin bei, daß das chinesische Staatsgebiet und alle fremden Niederlassungen neutralisiert werden sollten, nicht jedoch die Pachtgebiete. Damit konnten also die Pachtgebiete Dairen (japanisch), Weihaiwei (britisch), Kiautschou (deutsch) und Kuangchou (französisch) in die Kriegshandlungen einbezogen werden, ohne daß dadurch auch nur eine diplomatische Intervention der Vereinigten Staaten ausgelöst worden wäre. So bedurfte es bei Kriegsausbruch keiner großen Prophetie, um vorauszusagen, wo – wenn überhaupt – ein Neutralitätsbruch durch Angriff auf chinesisches Staatsgebiet erfolgen würde, dort nämlich, wohin das japanische Interesse zielte und wo in der Kette dieser Pachtgebiete die schwächste Stelle war. Das war Kiautschou!

25 Freilich durften die Rückwirkungen einer amerikanischen Intervention auf ein kriegsbereites Japan nicht überschätzt werden. Die dem Kompromiß zugeneigte platonische Chinapolitik der Vereinigten Staaten erwies sich auch in dieser kritischen Phase China gegenüber wieder einmal lediglich "wohlwollend" nicht aber "wohltuend". Zwar sondierte das State Department alle interessierten Mächte (11.8.) auf ihre Bereitschaft, einer Neutralisierung des Pazifik und der Erhaltung des Status quo in Fernost zuzustimmen. Nur die deutsche Regierung war in vollem Umfange dazu bereit. Sie teilte mit (14.8.), daß 1. Deutschland keinen Krieg mit Japan suche, daß es 2. bereit sei, auf Gegenseitigkeit in Ostasien nichts gegen englische Besitzungen, Kriegsschiffe und Handelsbeziehungen zu unternehmen und 3. die Neutralisierung des gesamten Gebietes zwischen dem 90. Längengrad (Ost) und Kap Horn anzuerkennen.

26 Außerdem habe das deutsche Ostasiengeschwader Befehl, sich jeder feindseligen Handlung in Ostasien zu enthalten, falls Japan neutral bleibe. [Fußnote: ... Die amerikanische Regierung gab die deutsche Antwort am 15.8. nach Tokio weiter.] Der Forderung auf Gegenseitigkeit hätten die Engländer umso unbeschwerter zustimmen können, weil sie nicht mehr als eine Prestigeklausel war, um nach außen hin die volle Gleichberechtigung und Gleichgewichtigkeit Deutschlands in Ostasien sichtbar zu machen. Der seebeherrschenden britischen Flotte wäre es ohne große Schwierigkeiten möglich gewesen, den deutschen Ostasienhandel völlig lahmzulegen, ohne deswegen zu militärischen Operationen in fernöstlichen Gewässern schreiten zu müssen. Die Entscheidung über Krieg und Frieden mußte also, nachdem die Aktion Maltzans, das Kiautschougebiet an China zurückzugeben, gescheitert war, in London oder Tokio fallen. Sie fiel in Tokio! Die japanische Regierung hatte sich inzwischen soweit emanzipiert, daß sie ihre Maßnahmen ohne Rücksicht auf den europäischen Verbündeten treffen konnte.

[B.3  Japans Berufung auf das Bündnis mit Großbritannien]

27 Verfolgen wir nun den chronologischen Ablauf der Ereignisse in Fernost vom Kriegsausbruch in Europa bis zum Kriegseintritt Japans (23.8.1914). Solange England sich noch nicht im Kriege befand, betrachtete die japanische Regierung den Konflikt als eine rein europäische Auseinandersetzung. Sie beschloß, neutral zu bleiben. Diese Haltung änderte sich schlagartig mit der britischen Kriegserklärung. Fesselung Englands und Rußlands in Europa war gleichbedeutend mit Handlungsfreiheit für Japan in Fernost. Als der Kriegseintritt Englands bekannt wurde, deutete das japanische Außenministerium an, daß Japan seine Maßnahmen auf Grund des britisch-japanischen Bündnisses treffen werde.

28 Das war keineswegs eine alarmierende Meldung für die Wilhelmstraße. Der englisch-japanische Vertrag war seinem Wesen nach ein Defensivbündnis. Er war damit die beste Garantie gegen einen japanischen Kriegseintritt gegen Deutschland. Laut Artikel 2 des Vertrages trat der casus foederis für Japan erst dann ein, wenn England "infolge eines nicht provozierten Angriffs ... in einen Krieg verwickelt wurde und dann auch nur zur "Verteidigung der in der Einleitung des Vertrages erwähnten territorialen Rechte und besonderen Interessen." Teil 1 der Bündnisverpflichtung entfiel für Japan durch die britische Kriegserklärung an Deutschland, die England, nicht Deutschland zum Angreifer machte, es sei denn, Tokio sah in dem deutschen Einmarsch in Belgien eine Provokation Englands, die London zum Kriegseintritt zwang. Ob Teil 2 zum Bündnisfall werden konnte, lag an der deutschen Regierung. Sie hatte es in der Hand, sofern Tokio strikt in Übereinstimmung mit dem Bündnistest handelte, den Japanern den Weg in den Krieg zu versperren. Solange deutsche Land- und Seestreitkräfte sich nicht hinreißen ließen, britische Besitzungen in dem vom Vertrag umschriebenen Raum anzugreifen, und solange das deutsche Ostasiengeschwader den Stützpunkt Tsingtau nicht als Kohlestation und Reparaturbasis in Anspruch nahm, um von dort aus aggressive Handlungen vorzunehmen, fehlte der japanischen Regierung vertraglich jeder Grund zu militärischer Intervention in Ostasien.

29 Die japanische Presse, die bei entscheidenden politischen Ereignissen in ihrer Meinungsbildung stets stark von offizieller Seite inspiriert wurde, nahm in ihren heftigen deutschfeindlichen Ausschreitungen die Entscheidung der japanischen Regierung vorweg. Sie erinnerte an Form und Umfang der deutschen Teilnahme an der Intervention gegen den Vertrag von Shimonoseki (23.4.1895); sie wies auf die vertraglichen Bindungen zu Großbritannien, Frankreich und Rußland hin. Das deutsche Ostasiengeschwader – so wurde weiter argumentiert – bedrohe die Schiffahrt der Neutralen im Pazifik, und die deutschen Kriegsvorbereitungen in Tsingtau gefährdeten den Frieden in Ostasien. Sie forderte schließlich den Kriegseintritt Japans auf Grund des Artikels 1 des britisch-japanischen Bündnisvertrages, worin beide Mächte sich zur "Befestigung und Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens in den Gebieten von Ostasien..." verpflichteten. – Noch hielt sich die japanische Regierung zurück. Sie wartete anscheinend auf einen Wink aus London, um aktiv eingreifen zu können.

[B.4  Unentschlossenheit der britischen Regierung]

30 Was tat die britische Regierung? Hier war der einzuschlagende Kurs keineswegs von vornherein klar. Die britischen Dokumente vermitteln einen Eindruck von der Geschäftigkeit, dem Zaudern, der Unentschlossenheit im Foreign Office in jenen entscheidenden Tagen, von dem sorgfältigen Abwägen von Vor- und Nachteilen, die ein Kriegseintritt Japans nach sich ziehen konnte; und doch wird nicht deutlich, daß London eine klare Konzeption, eine feste Vorstellung vom Ablauf des Geschehens in Fernost gehabt hätte, als die Würfel geworfen wurden. Wenn das Foreign Office den Japanern schließlich die Zügel freigab, so geschah das keineswegs ohne schwerwiegende Bedenken.

31 Am 1.8.1914 teilte Grey dem britischen Botschafter in Tokio, Sir C. Greene, mit, daß die britische Regierung sich noch nicht entschieden hätte, was sie tun solle. Sollte England aber in den Krieg eingreifen, "dann würde das auf Seiten Frankreichs und Rußlands geschehen". Er glaube daher nicht, "daß die durch das britisch-japanische Bündnis umschriebenen Interessen in Mitleidenschaft gezogen würden und mithin japanische Bündnishilfe nicht benötigt werde." Kato antwortete (3.8.), daß "japanische Interessen durch einen europäischen Konflikt nicht berührt" würden. Er fügte aber hinzu, die britische Regierung könne damit rechnen, daß Japan sofort mit allen Kräften seinem Verbündeten zu Hilfe komme, wenn es dazu aufgefordert werde, Dabei solle es London "völlig überlassen bleiben, den Grund für und die Art der Hilfeleistung zu bestimmen."

32 Am Vorabend der britischen Kriegserklärung war Grey keineswegs mehr so sicher, ohne japanische Hilfe auskommen zu können, wie zwei Tage zuvor. Er beauftragte daher seinen Sekretär zu untersuchen, wann für Japan auf Grund des Bündnisses vom 13.7.1911 der Bündnisfall eintrete. Das Ergebnis lautete:

"Das Einzige, wodurch die Japaner (in den Krieg) hereingebracht werden könnten, wäre, wenn die Feindseligkeiten sich auf den Fernen Osten ausdehnten, z.B. durch einen deutschen Angriff auf Hongkong, oder wenn ein Aufstand in Indien ausbrechen sollte.
Es scheint kein Grund vorzuliegen, (den Japanern) etwas über Indien zu sagen; dagegen möchte es gut sein, die japanische Regierung wissen zu lassen, daß im Falle eines Krieges mit Deutschland die Möglichkeit eines Angriffe auf Hongkong oder Weihaiwei bestehen dürfte und wir dann ihre Unterstützung erwarten würden."

33 Diese kurze Denkschrift fand die Zustimmung Greys. Noch am 3.8. beauftragte er Greene, der japanischen Regierung mitzuteilen, daß Großbritannien auf japanische Unterstützung im Falle eines deutschen Angriffe auf britischen Besitz in Ostasien rechne. In ihrer Antwort vom 4.8. erklärte die japanische Regierung ihre Bereitschaft, England bei einem deutschen Angriff auf Weiheiwei oder Hongkong "sofort zu unterstützen...". Aus den Antworten der japanischen Regierung konnte Grey ersehen, daß Japan auch ohne einen einwandfrei durch den Bündnisvertrag gegebenen Grund zur Hilfeleistung bereit war. Welche Regierung, die den Krieg nicht sucht, ermächtigt den Bündnispartner, die Begründung für ihren Kriegseintritt selbst zu formulieren? Die Engländer mußten daher gewarnt sein, daß sie für die japanische Bündnishilfe einen hohen Preis zu zahlen haben würden.

34 Die sofortige Bereitschaft der Japaner, England Waffenhilfe zu gewähren, hat Grey offenbar nicht stutzig gemacht. In seinen Memoiren weist er zwar auf mögliche Rückwirkungen eines japanischen Kriegseintritts auf Australien und Neuseeland hin. Dort sei schon das Auftreten Deutschlands im Pazifik mißbilligt worden. Eine japanische Aktion würde daher "echte Alarmstimmung" erzeugen. Außerdem könnten die "Rückwirkungen auf die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten verheerend sein." Diese Überlegungen hätten ihn veranlaßt, dem japanischen Botschafter zu eröffnen (4.8.), daß er das japanische Bündnisangebot als einen ehrlichen Beweis guten Willens ansehe. Aber wie Japan während des russisch-japanischen Krieges von England nichts verlangt habe, was außerhalb der bestehenden Bündnisverpflichtungen gelegen habe, solle England nun – wenn möglich - vermeiden, "Japan irgendwelche Ungelegenheiten zu bereiten."

[B.5  Eingeschränktes britisches Hilfeersuchen an Japan]

35 Am 6.8. wurde jedoch der britischen Botschaft in Tokio folgende Weisung übermittelt: Der japanischen Regierung sei folgendes mitzuteilen:

"Da unsere Kriegsschiffe einige Zeit brauchen, um die deutschen Kriegsschiffe in den chinesischen Gewässern zu stellen und zu vernichten, ist es wesentlich, daß die Japaner die deutschen bewaffneten Handelskreuzer, die gegenwärtig unseren Handel angreifen, aufspüren und vernichten.
Wenn die japanische Regierung einige ihrer Kriegsschiffe in dieser Weise verwenden würde, wäre dies von allergrößtem Nutzen für uns. Es bedeutet natürlich eine kriegerische Handlung gegen Deutschland, wir wüßten indes nicht, wie sich dies vermeiden ließe."

36 Darin lag eine eindeutige Aufforderung des Foreign Office an Tokio, Waffenhilfe zu leisten. Aber es war nur ein räumlich begrenzter Auftrag an den Bundesgenossen, dessen Aktionen auf diese Weise unter Kontrolle gehalten werden sollten. Nur in "chinesischen Gewässern" und nur zur Aufbringung deutscher "bewaffneter Handelskreuzer" sollten die Japaner einige Kriegsschiffe zur Verfügung stellen. Sie wurden aber damit Kriegsteilnehmer, die auf einer späteren Friedenskonferenz ihre Forderungen für geleistete Hilfe anmelden konnten. Für den deutschen Besitz in China und für Tsingtau ergab sich daraus keine Gefahr.

[B.6  Taktieren Japans gegenüber Deutschland]

37 In Berlin wurden die Aussichten für eine Neutralisierung Ostasiens zunächst nicht ungünstig beurteilt, nachdem Kato dem Grafen Rex erklärt hatte (3.8.), Japan wolle solange wie möglich neutral bleiben. Es sei Deutschland wohlgesonnen. Die endgültigen Entschlüsse der japanischen Regierung würden jedoch von England mitbestimmt. Fordere London japanische Hilfe in Ostasien oder Indien, so müsse Japan eingreifen. Er (Kato) glaube aber nicht, daß Zusammenstöße auf offener See zwischen deutschen und britischen Einheiten eine japanische Intervention auslösen würden. Ein deutscher Angriff auf Hongkong sei allerdings casua foederis. Bleibe der Krieg auf Europa beschränkt, so werde Japan vermutlich neutral bleiben.

38 Die Darlegungen Katos waren letztlich aber doch in höchstem Maße zwielichtig. Rex erfuhr, daß der Frieden in Fernost erhalten bleiben konnte, wenn das Reich sich jeder militärischen Aktion gegen England in Ostasien enthielt und wenn ein britisches Hilfeersuchen an Japan unterblieb. Militärische Enthaltsamkeit des Reiches gegenüber England in Fernost lag auf der Hand, weil ein deutscher Angriff auf Hongkong oder Weihaiwei bei den geringen den Deutschen in China zur Verfügung stehenden Machtmitteln aussichtslos war. Unklar war aber, ob London selbst bei äußerster Zurückhaltung deutscherseits auf japanische Hilfe verzichten würde. - Kato hatte außerdem verschwiegen, daß er in seiner Antwort auf die britische Anfrage (3.8.) London geradezu ermuntert hatte, der japanischen Regierung einen einigermaßen begründeten casus foederis zu liefern.

39 Rex hatte bereits am 3.8. darauf hingewiesen, daß deutsche Streitkräfte auf keinen Fall britische Besitzungen in China angreifen würden. Das Auswärtige Amt unterstrich die Erklärungen des deutschen Botschafters durch eine Note an die japanische Regierung, in der mitgeteilt wurde, daß Deutschland bereit sei, "Ostasien und die ostasiatischen Gewässer zu neutralisieren, (wenn) unsere Gegner Gleiches tun." Am 12.8. wurde Rex angewiesen, in Tokio mitzuteilen, daß das deutsche Ostasiengeschwader Befehl habe, "feindselige Akte gegen England zu unterlassen." Da es außerdem bereits Ende Juni die Kiautchoubucht mit Kurs auf die Südsee verlassen hatte, schien deutscherseits alles getan, um den Engländern die Furcht vor einem Angriff auf ihre Besitzungen in Fernost und den Japanern den Grund für einen Kriegseintritt auf Grund des britisch-japanischen Bündnisses zu nehmen.

40 Rex war daher guten Mutes. Am 9.8. sandte er ein beruhigendes Telegramm nach Tsingtau. Der darin zum Ausdruck gebrachte Optimismus stützte sich offenbar auf das Fehlen eines hinreichenden Grundes für einen Kriegseintritt Japans gegen Deutschland und die – wie er glaubte - deutschfreundliche Stimmung in der japanischen Öffentlichkeit. Er konnte nicht ahnen, wie schnell sich die japanische Regierung über prodeutsche Sympathien im Lande – sofern diese in dem von Rex angenommenen Umfange überhaupt bestanden haben – hinwegsetzte.

[B.7  Japans Entscheidung zum Kriegseintritt]

41 Am 7.8. war die japanische Regierung im Besitz des britischen Hilfeersuchens. Noch am gleichen Tage konnte Greene seiner Regierung die Antwort Katos mitteilen. Er (Kato) werde sich in der Kabinettssitzung für die Annahme des britischen Ersuchens einsetzen. Japanische Kriegsschiffe würden, falls die Regierung zustimme, sofort gefechtsbereit sein." Das rascheste Verfahren zur Erledigung der Sache" - so fügte Kato vielsagend hinzu – wäre freilich ein Angriff auf Tsingtau. [Quelle: Die britischen amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1898-1914, 10/II,2 S. 1338.] Das war eine ziemlich offene Andeutung der japanischen Kriegsziele in Ostasien. Okuma gegenüber sprach Kato sich am gleichen Tage für einen Kriegseintritt aus; jedoch müsse die Operationsbasis über die von London gezogenen Grenzen hinaus erweitert und Tsingtau einbezogen werden. Okuma lehnte zunächst ab.

42 Vor dem Kabinett forderte Kato am Abend des 7.8. gleichfalls eine Beteiligung Japans am Kriege, nicht auf Grund vertraglicher Verpflichtungen – wie er zugeben mußte – sondern als Freundschaftsbeweis Großbritannien gegenüber im Geiste der gegenseitigen Allianz. Er forderte dabei erneut die Einbeziehung Tsingtaus in die militärischen Operationen. Die Deutschen sollten aus Tsingtau verdrängt und alle ihre Sonderrechte daselbst und in Shantung von Japan übernommen werden. Dennoch erhielt er in einer gemeinsamen Sitzung des japanischen Kabinetts mit den vier älteren Staatsmännern der Genro (8.8.) nicht die Zustimmung für einen sofortigen Kriegseintritt Japans. Es wurde vielmehr beschlossen, zunächst einmal zu versuchen, ohne Beteiligung am Kriege mittels eines Ultimatums an Deutschland zum Ziel zu kommen. Offenbar eigenmächtig teilte Kato der britischen Regierung am folgenden Tage mit (9.8.), daß Japan bereit sei, in den Krieg einzutreten, der vorgeschlagenen Begrenzung des Operationsgebietes aber nicht zustimmen könne.

43 So sah sich das Foreign Office völlig überraschend in die Rolle des Zauberlehrlings gedrängt. Die Geister, die es durch sein Hilfeersuchen vom 6.8. gerufen hatte, waren schon nicht mehr zu bändigen, bevor sie überhaupt in Aktion getreten waren. In London wurde befürchtet, daß eine Ausdehnung der Kriegshandlungen auf chinesisches Staatsgebiet die britische Vormachtstellung in China ernstlich gefährden könnte. Um die politische Entwicklung in Ostasien fest im Griff zu behalten, ersuchte der britische Botschafter die japanische Regierung im Auftrage des Foreign Office (9.8.), eine Kriegserklärung an Deutschland "aufzuschieben", um Asien "nicht zu beunruhigen". Japan solle seine militärischen Aktionen "auf den Schutz der Handelsschiffahrt" (in den chinesischen Gewässern) beschränken.

44 Die Kriegspartei in Japan war indessen nicht bereit, ihren Standpunkt zu ändern. Kato versuchte, der britischen Regierung deutlich zu machen, daß gerade die Beseitigung des Flottenstützpunktes Tsingtau die beste Garantie für die ungestörte Fortführung des Chinahandels sei. Er versicherte ferner, daß Japan britische Handelsinteressen nicht verletzen werde. Es werde außerdem keine territorialen Ansprüche an China stellen. Grey wiederholte daraufhin noch einmal den Wunsch der britischen Regierung (11.8.), kriegerische Aktionen vom chinesischen Staatsgebiet fernzuhalten. Er erneuerte sein Ersuchen, den Kriegseintritt Japans – den die japanische Regierung direkt noch gar nicht vorgesehen hatte, mit dem Kato jedoch den Briten gegenüber in erpresserischer Absicht operierte – zu "verschieben". Kato, nicht minder zäh, führte an, daß die Revision des einmal gefaßten Entschlusses (1) und eine Verzögerung des japanischen Kriegseintritts die Regierung Okuma in innerpolitische Schwierigkeiten bringen würde.

45 Einen Sturz des britenfreundlichen Kabinetts Okuma wollte Grey durch Unnachgiebigkeit nicht provozieren. So stimmte er (13.8.) einem japanischen Kriegseintritt zu mit der Einschränkung allerdings, daß Japan seine militärischen Maßnahmen "auf den deutschen Stützpunkt und die benachbarten chinesischen Gewässer" beschränke. Wieder verweigerte Kato seine Zustimmung. Hatte er bisher die Einbeziehung Tsingtaus in den japanischen Operationsbereich gefordert, so lehnte er jetzt jede Einengung des militärischen Operationsgebietes als unzumutbar ab. Die deutschen Kriegsschiffe müßten überall bekämpft, die japanische Handelsschiffahrt im gesamten Pazifik geschützt werden.

[B.8  Deutlichwerden der japanisch-britischen Interessensgegensätze]

46 Hier bereits zeichnete sich der entscheidende Wendepunkt in den britisch-japanischen Beziehungen ab, weil erstmalig die prinzipiellen Gegensätze der beiden Bundesgenossen aufeinanderprallten. Erstrebten die Engländer die finanz- und wirtschaftspolitische Vormachtstellung in China, so verfolgten die Japaner vornehmlich machtpolitische Ziele; sie suchten Siedlungsraum auf dem Festland und dessen politische Beherrschung. Die britische Regierung hatte dem einstmals willkommenen Bundesgenossen gegen die russische Expansion in den Gebieten nördlich der grossen Mauer nach und nach ein beträchtliches Maß an Handlungsfreiheit eingeräumt. Die Japaner hatten Zeit und günstige Umstände genutzt und sich in Korea, der südlichen Manchurei und der östlichen Inneren Mongolei mit verblüffender Schnelligkeit und Gründlichkeit eine feste Plattform geschaffen, die räumlich und in ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung weit über die von den Engländern gewünschte Pufferzone zwischen ihrem und dem russischen Interessenbereich hinausging.

47 So verkehrte sich die Ursprungssituation des britisch-japanischen Bündnisses von 1902 mehr und mehr in ihr Gegenteil. Das russische Ausdehnungsbedürfnis war zwar keineswegs zum Stillstand gekommen; es wurde aber an Intensität allmählich von dem japanischen übertroffen, das in dem Augenblick, wo es nach Shantung übergriff, für die britischen Interessen im Jangtsetal gefährlicher wurde, als es russische und deutsche Unternehmungen vorher jemals gewesen waren. Bisher hatten beide Seiten mögliche Spannungen in den gegenseitigen Beziehungen durch Duldung oder Förderung der Wünsche des Partners vermeiden können, weil japanische und britische Interessen in China sich weder überschnitten noch berührten. Jetzt aber, mit dem Verlangen der Japaner, Tsingtau angreifen zu können, wurden blitzartig Mißtrauen und Rivalität sichtbar. Jeder durchschaute des Spiel des anderen: London den Plan Tokios, seinen Einfluß in China über das erträgliche Maß hinaus auszudehnen, Tokio das Bemühen Londons, die japanischen Absichten zu vereiteln und Japan im zweiten Glied zu halten.

48 Die britische Regierung vor allem befand sich in schwieriger Lage. Es war für sie nicht leicht, die eigenen Interessen in Fernost und Südostasien und die der Dominien auf japanische Ansprüche abzustimmen, die sich aus einem auf britische Anregung erfolgten Kriegseintritt Japans ergeben konnten. Die Schwierigkeiten wuchsen mit der Höhe der japanischen Wünsche, und so stellte sich nahezu von selbst die Frage, wie lange die britisch-japanische Allianz diesen steigenden Belastungen standhalten würde. Das Verlangen der Japaner, Tsingtau anzugreifen und deutsche Kriegsschiffe überall im Pazifik zu bekämpfen, konnte als der Beginn einer neuen Phase in ihrer kontinentalen und maritimen Expansionspolitik angesehen werden.

49 Viel folgenschwerer als die von den Engländern bereits mit Besorgnis vermerkte kontinentale Ausdehnung des japanischen Einflusses waren die maritimen Expansionstendenzen der Japaner. Der Einsatz japanischer Seestreitkräfte zur Bekämpfung deutscher Kriegsschiffe im Pazifik konnte nur erfolgreich sein, wenn den japanischen Einheiten in den weiten Räumen des Pazifik Stützpunkte zur Verfügung standen. Hierfür boten sich die deutschen Südseeinseln an, auf die Tokio auch sogleich sein Augenmerk richtete. Seitens der britischen Dominien und der Vereinigten Staaten war aber schärfster Widerspruch gegen eine Ausdehnung des japanischen Machtbereiches in die Südsee hinein zu erwarten. England benötigte die Waffenhilfe seiner Dominien und die Wirtschaftshilfe der Vereinigten Staaten dringender als japanische Unterstützung bei der Aufbringung der wenigen im Pazifik vorhandenen deutschen Kriegsschiffe. London selbst befürchtete sogar ein verstärktes Interesse Japans an Vorderindien. Die britische Regierung rechnete mit antibritischen Unruhen unter der mohammedanischen Bevölkerung Indiens als Folge des Kriegseintritts der Türkei, die wiederum keineswegs erwünschte japanische Interventionsangebote nach sich ziehen konnten. Das gesteigerte Interesse Japans an Indien gab in England seit langem Anlaß zur Beunruhigung.

50 Die zunächst lediglich unterschwellig vorhandenen aber doch spürbaren Spannungen zwischen England und Japan waren für die deutsche Ostasienpolitik insofern von Interesse, weil ein durch konsequente Gegnerschaft Londons mißgestimmtes Japan möglicherweise aus der alliierten Phalanx herausgebrochen oder – im umgekehrten Falle - die durch allzu bereitwilliges Eingehen der britischen Regierung auf japanische Wünsche alarmierten Amerikaner zu größerer Reserve in ihren Beziehungen zu England und zu wohlwollender Neutralität Deutschland gegenüber veranlaßt werden konnten.

[B.9  Japanisches Ultimatum an Deutschland vom 15.8.]

51 Am 15.8. richtete die japanische Regierung folgendes Ultimatum an Deutschland. Unter Hinweis auf die von ihr im britisch-japanischen Bündnis eingegangene Verpflichtung, den allgemeinen Frieden in Ostasien aufrechtzuerhalten und zu befestigen, wurde der deutschen Regierung der "Rat (erteilt),

1. sofort aus den japanischen und chinesischen Gewässern alle deutschen Kriegsschiffe und bewaffneten Schiffe aller Art zu entfernen und sofort solche Schiffe zu entwaffnen, die nicht entfernt werden können.
2. Bis spätestens zum 15.9.1914 den Kaiserlichen japanischen Behörden bedingungslos und ohne jede Entschädigung das gesamte Pachtgebiet Kiautschou zu übergeben mit der Aussicht, daß es gegebenenfalls an China zurückgegeben wird."

Das Ultimatum schloß mit der Mahnung, daß die japanische Regierung gezwungen sein werde, "alle in Anbetracht der gegebenen Lage notwendigen Maßnahmen zu treffen", wenn die deutsche Regierung nicht bis zum Mittag des 23.8. den japanischen Rat bedingungslos angenommen habe.

52 Die Präambel und Punkt 1 des Ultimatums waren deutscherseits bereits durch die Noten des Auswärtigen Amtes vom 10. und 12.8. und durch die inhaltlich ähnliche Erklärung, die die amerikanische Botschaft der japanischen Regierung am 15.8. überreichte, erfüllt. Die deutsche Regierung war bereit, Ostasien, die ostasiatischen Gewässer und den Pazifik zu neutralisieren, "(wenn) unsere Gegner Gleiches tun." Der Kern des Ultimatums steckte aber in seinem zweiten Punkt. Nur durch kampflose Übergabe Kiautschous hätte Japan aus dem Kriege herausgehalten werden können; denn in der Tat ging es den Japanern gar nicht primär um die Einhaltung einer faktisch nicht bestehenden Bündnisverpflichtung oder um die Beseitigung einer ohnehin kaum vorhandenen navalen Bedrohung durch das irgendwo im Pazifik operierende deutsche Geschwader. Ihr Augenmerk richtete sich auf Kiautschou.

53 Damit hielten sie sich zwar in den ihnen von London gesteckten Grenzen unter der Voraussetzung, daß Berlin das Ultimatum annahm. Erfolgte, was vorauszusehen war, eine Ablehnung, so behielt sich Tokio die volle Entscheidungsfreiheit über Ausmaß und Richtung seiner Kriegsführung vor, ohne die einschränkenden Wünsche des Bundesgenossen zu berücksichtigen. Mit dem Hinweis auf eine mögliche Rückgabe Kiautschous an China wollte die japanische Regierung lediglich die öffentliche Meinung in England und in den Vereinigten Staaten beruhigen. Ihre wirkliche Absicht, bei formaler Beteiligung am Krieg ohne risikoreiche Dauerbelastung durch den Krieg auf Kosten Deutschlands und Chinas, aber auch ihrer Verbündeten zu profitieren, blieb dennoch nicht verborgen. Mißtrauen und Unbehagen kennzeichneten daher das politische Klima in Washington und London gegenüber Tokio.

[B.10  Ohnmacht Chinas, Duldung durch die USA]

54 Die chinesische Regierung setzte alle Hoffnungen auf die Vereinigten Staaten. Sie waren die einzige Macht, die in China engagiert und bündnismäßig und durch den Krieg nicht gebunden und mithin allein in der Lage war, die Japaner im Zaum zu halten. Yüan Shi-k'ai hatte gewarnt, daß Japan den Krieg nutzen werde, "um die Kontrolle über China zu erlangen." Washington hatte aber schon vorher keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß es "in höchstem Maße absurd sei, die Vereinigten Staaten um der Erhaltung der chinesischen Integrität willen in internationale Schwierigkeiten" zu bringen. Die chinesische Regierung machte das State Department außerdem darauf aufmerksam, daß es auf Grund des Root-Takahira-Abkommens (27.11.08) erwarten könne, von Tokio zu einem Meinungsaustausch eingeladen zu werden, bevor die Japaner militärische Operationen gegen chinesisches Staatsgebiet begönnen.

55 In der Tat bezog sich die in Punkt 5 dieses Abkommens beschriebene Konsultativklausel auf eine Verletzung des Status quo und des Prinzips der "Offenen Tür" in China. Die Grundsätze der "Offenen Tür" waren aber durch das beabsichtigte Vorgehen der Japaner nicht beeinträchtigt; und wenn Washington das Kiautschougebiet durch den Pachtvertrag als nicht unmittelbar zu China gehörig betrachtete – und es schien das zu tun, wie die Ablehnung der von China beantragten Neutralisierung aller Pachtgebiete durch das State Department zeigte – so entfiel für Japan die Konsultationspflicht gegenüber Washington gem. Punkt 5 des Root-Takahira-Abkommens. - Dennoch hofften einflußreiche Kreise in China auf eine amerikanische Intervention. Das State Department teilte der japanischen Regierung aber lediglich mit, daß es die japanische Absicht begrüße, Kiautschou an China zurückzugeben und alle Maßnahmen im Sinne des britisch-japanischen Bündnisses zu treffen.

56 Die japanische Regierung hielt derweil mit beruhigenden Erklärungen nicht zurück. Premierminister Okuma bezeichnete es als das Ziel der japanischen Politik, den deutschen Einfluß in China zu beseitigen. Japans Kriegsmaßnahmen würden sich in den Grenzen halten, die notwendig seien, um dieses Ziel zu erreichen und die eigenen rechtmäßigen Interessen zu vertreten. "Die Kaiserliche Regierung zögert demgemäß nicht, vor der Welt zu erklären, daß sie keine Maßnahmen ergreifen wird, die irgendeiner dritten Macht Anlaß zu Besorgnis ... in Bezug auf die Sicherheit ihres Gebietes und (ihrer) Besitzungen geben könnten." Das war ohne Zweifel eine sehr beruhigende Erklärung für alle, wenn erwartet werden konnte, daß die japanische Regierung auch China in der eben umschriebenen Weise als "dritte Macht" anerkennen würde. Davon war aber keine Rede. Tokio teilte vielmehr der chinesischen Regierung kurz und bündig mit, daß das japanische Ultimatum an Deutschland China nichts anginge. Würden als Folge des japanischen Vorgehens gegen Tsingtau Unruhen in China ausbrechen, so würden Japan und England diese gemeinsam unterdrücken.

[B.11  Deutsches Entgegenkommen gegenüber Japan]

57 Auch nach Eingang des Ultimatums in Berlin versuchte die deutsche Regierung, den Frieden in Ostasien zu erhalten. Bernstorff erhielt am 16.8. den Auftrag, die japanische Regierung wissen zu lassen, daß das Ostasiengeschwader angewiesen sei, "feindliche Akte gegen England zu unterlassen, falls Japan neutral" bleibe. Der Weg über Bernstorff in Washington wurde deutscherseits offenbar gewählt, um Sicherheit darüber zu haben, daß das japanische Kabinett das deutsche Angebot auch erhielt. Am 17.8. wurde Gerard über das japanische Ultimatum informiert und ersucht, seine Regierung zu bitten, "auf Beschleunigung der (japanischen) Antwort auf den deutschen Vorschlag, den Fernen Osten zu neutralisieren, hinzuwirken. (Der) Befehl an Ostasiengeschwader, nicht gegen England vorzugehen, bleibt bestehen." Gerard war am 18.8. noch ohne Nachricht vom State Department. Dieses bekundete aber mit seiner Zustimmung – wenn auch unter Vorbehalten – zu den von Japan beabsichtigten Maßnahmen (19.8.) sein Desinteresse an der ihm von Berlin zugedachten Vermittlerrolle.

58 Als Dr. Yen, der chinesische Gesandte in Berlin, am 20.8. mitteilte, daß seine Regierung aus Furcht vor Japan keine Verhandlungen mit Tokio über die Neutralisierung des Pachtgebiets führen werde, und als ferner dem japanischen Botschafter in Berlin nach Ablauf der gesetzten Frist gesagt wurde, daß die deutsche Regierung "auf die Forderungen Japans ... keinerlei Antwort zu geben habe," war das Schicksal Tsingtaus besiegelt. Fünfmal – durch Noten an die japanische Regierung vom 10. und 12.8., durch die Note an das State Department am 15.8., durch die Weisung an Bernstorff vom 16.8. und durch eine erneute Note an das State Department vom 17.8. – hatte das Auswärtige Amt durch das Zugeständnis der Neutralisierung des Pazifiks sowie des Nichtangriffs auf britische Besitzungen in Fernost versucht, den Kriegseintritt Japans zu verhindern. Der Erfolg blieb aus, weil die deutsche Regierung nur bis an die Grenze des Möglichen gegangen war, sich aber scheute, das Unmögliche – die Abtretung Tsingtaus an Japan – wahrzumachen.

59 Maltzan und Rex erkannten die einzige Gelegenheit, durch eine Preisgabe des Pachtgebietes eine aktive Intervention Japans zu vermeiden. Besonders Maltzan, der zunächst die Rückgabe des Kiautschougebietes an China betrieben hatte, schwenkte nach den scharfen Protesten Englands und Japans um und schlug – wie Graf Rex – vor, Tsingtau den Japanern zu übergeben. Eine militärische Niederlage, so führte er an, sei für Deutschland in Fernost folgenschwerer als ein Prestigeverlust durch freiwilligen Verzicht. Für beide war der Verlust Tsingtaus kein zu hoher Preis für ein neutrales Japan, das sicherer als alle anderen Aktionen die Neutralität Chinas und damit die Erhaltung der übrigen deutschen Konzessionen daselbst garantiert hätte. Ein neutrales Japan mußte ferner im Kalkül der britischen Ostasien- und Indienpolitik ein Unsicherheitsfaktor beachtlichen Ausmaßes sein, der England zur militärischen Absicherung seiner asiatischen Kolonialgebiete gezwungen und damit seine Handlungsfreiheit auf dem europäischen Kriegsschauplatz beträchtlich eingeengt hätte.

[B.12  Deutsche Grundsatzentscheidung zur Verteidigung Kiautschous]

60 Alle diese Kombinationen waren jedoch hinfällig durch die Entscheidung, die bereits am 17.8. im Großen Hauptquartier gefaßt war. Bethmann berichtete darüber: "Es ist hier beschlossen worden... Kiautschou so lange wie möglich zu halten, sowohl des moralischen Eindrucks wegen, als weil es nicht ausgeschlossen erscheint, daß die Ereignisse in Europa vor dem schließlichen Fall Kiautschous eine Änderung der Lage herbeiführen. Übergabe an Japan könnte ja keinesfalls in Frage kommen, auch die ebenfalls erwogene Rückgabe an China würde den definitiven Verlust bedeuten. Am 18.8. erhielt die deutsche Gesandtschaft in Peking die Weisung: "Kaiser befiehlt äußerste Verteidigung!" Am 23.8. erfolgte die japanische Kriegserklärung an Deutschland. Tokio teilte darin mit, daß Japan bemüht gewesen sei, neutral zu bleiben. Deutschland treffe aber in Tsingtau "kriegsähnliche Vorbereitungen" und bedrohe "unseren Handel und den unseres Alliierten." Japan und Großbritannien würden nach gemeinsamer Überprüfung alle die Maßnahmen ergreifen, die zum Schutze ihrer gemeinsamen Interessen nötig seien. Die Kriegserklärung Japans an Deutschland kam weder für die japanische noch für die Weltöffentlichkeit überraschend, weil niemand erwartet hatte, daB die deutsche Regierung zur Selbstamputation eines wichtigen Außenpostens bereit sein und den verletzenden Forderungen des japanischen Ultimatums wegen des damit verbundenen Prestigeverlusts in Fernost und vor der Welt zustimmen würde.

[B.13  Fortdauerndes britisches Unbehagen gegenüber Japan]

61 Der japanische Kriegseintritt richtete sich zwar offiziell gegen Deutschland und seine Stellung in Ostasien. Tatsächlich erfolgte er aber nicht einmal mehr im Geiste des britisch-japanischen Bündnisses, sondern genau genommen im Gegensatz dazu; denn nicht Aufrechterhaltung der territorialen Rechte der Vertragspartner – wie der Vertrag vorsah – sondern die einseitige Erweiterung der japanischen auf dem ostasiatischen Festland und in der Südsee war das Ziel der japanischen Politik. Dieser Machtzuwachs konnte sich morgen schon als gegen England und seine Dominien wie auch gegen die Vereinigten Staaten gerichtete Bastion erweisen. Der anspruchsvolle Waffenbruder, der sich anschickte, den britischen Einfluß zu schmälern, indem er vorgab, ihn zu schützen, erwies sich als aufdringlicher und maßloser Kumpan, weil er nunmehr unter dem Vorwand, den deutschen Einfluß in Fernost und in der Südsee zu eliminieren, in Räume eindringen konnte, die ihm bisher verschlossen waren.

62 Das britische Unbehagen über eine Entwicklung, die das Foreign Office durch sein Hilfeersuchen an Tokio (6.8.) selbst angebahnt hatte, blieb in Japan nicht verborgen. Und ebenso verfolgte die mögliche aktive Gegnerschaft der Vereinigten Staaten trotz aller Zurückhaltung Washingtons die japanischen Politiker während der ersten Kriegsjahre wie ein Alptraum. Das wiederum mußte Tokio veranlassen, die Beziehungen zu England nicht von vornherein bis zur Zerreißprobe zu strapazieren; konnte doch die japanische Regierung bei Fortsetzung ihrer Ausdehnungspolitik im Falle eines alliierten Sieges – mit dem die japanischen Politiker rechneten – eine britisch-amerikanische Nachkriegskoalition mit japanfeindlicher Tendenz spätestens nach Ablauf des britisch-japanischen Bündnisses (1921) befürchten. Erst dann – nicht früher – hätte die Tirpitz'sche Version, daß Deutschland im japanischen Kalkül als Gegengewicht gegen angloamerikanische Pressionen in Ostasien irgendwann einmal bedeutsam werden könne, relevant werden können.

C.  Der Kriegseintritt Japans, der Verlust Tsingtaus und der deutschen Konzessionen in Shantung

[C.1  Geringe deutsche Verteidigungskräfte]

63 Japan befand sich also im Kriegszustand mit Deutschland. Damit war Tsingtau aufs schwerste gefährdet. Im Pachtgebiet lagen friedensmäßig das III. Seebataillon (31 Offiziere, 1269 Mann) und eine Marineartillerieabteilung (19 Offiziere, 755 Mann). Dazu kamen nach Kriegsausbruch das im Raum Peking-Tientsin stationierte ostasiatische Marinedetachement (18 Offiziere, 468 Mann) und Reservisten und Freiwillige in Stärke von 76 Offizieren und 1400 Mann. Rechnet man Werft-, Depot- und Sanitätspersonal hinzu, so befand sich Ende August in Tsingtau eine Streitmacht von 180 Offizieren und 4500 Mann. Der Platz war zwar verpflegungsmäßig ausreichend, mit Munition und Kriegsgerät jedoch nur ungenügend versorgt. Die Landfront war mit Infanteriewerken und Artilleriestellungen in Anlehnung an die über 1000 Meter aufsteigenden Höhenzüge gesichert. Es zeigte sich aber, daß die Werke schwerem Artilleriebeschuß nicht standhielten. Nach See hin war der Schutz durch Befestigungen ebenso unzureichend. Im Hafen von Tsingtau lagen nach dem Auslaufen des Ostasiengeschwaders (Ende Juni 1914) und des Kreuzers "Emden" (31.7.) bei Kriegseintritt Japans nur drei leichte Einheiten ohne großen Gefechtswert, der österreichische Kreuzer "Kaiserin Elisabeth", das deutsche Kanonenboot Jaguar und das deutsche Torpedoboot "S 90". Mit diesen Kräften konnte Tsingtau gegen einen japanischen Angriff nicht erfolgreich verteidigt werden.

[C.2  Japanischer Vormarsch über chinesisches Gebiet]

64 Wann und wo würde der japanische Angriff erfolgen? Wollten die Japaner diplomatische Verwicklungen mit China vermeiden, so mußten sie Tsingtau von der Seeseite her angreifen. Sie wollten aber mit voller Absicht einen politischen Feldzug führen und landeten daher mit Vorbedacht an der Nordküste der Shantunghalbinsel in Lungkou (2.9.) und später in Chifu, jeweils 150 Kilometer von Tsingtau entfernt, und richteten ihren Vormarsch nicht nur auf das Pachtgebiet, sondern auch auf Weihsien, 150 Kilometer von Tsingtau entfernt an der Bahnlinie nach Tsinanfu gelegen und zugleich Mittelpunkt eines der ergiebigsten Kohlenfelder in Shantung. Damit verletzten sie in gröblichster Weise die chinesische Neutralität und setzten sich mit der Wegnahme Weihsiens auch über den britischen Wunsch (13.8.) hinweg, die militärischen Operationen "auf den deutschen Stützpunkt und die benachbarten chinesischen Gewässer" zu beschränken. Erst am 19.9. landeten japanische Truppen in der Laoshan-Bucht, einem günstigen Ausschiffungsplatz innerhalb der Tsingtau umgebenden 50-Kilometerzone. Hier gingen am 23.9. auch zwei britische Bataillone an Land, um sich an der Eroberung Tsingtaus zu beteiligen.

[C.3  Fruchtlose chinesische Beschwerde gegen das japanische Vorgehen]

65 Durch das Vorgehen der Japaner geriet die chinesische Regierung in arge Verlegenheit. Sie hatte am 6.8. offiziell die Neutralität Chinas erklärt und mußte nun tatenlos zuschauen, daß die Japaner die Shantunghalbinsel nicht nur zur Operationsbasis gegen den deutschen Stützpunkt machten, sondern auch gegen die Shantungbahn und damit gegen unbestritten chinesisches Hoheitsgebiet vorgingen. Bereits am 28.8. hatte Dr. Yen dem Auswärtigen Amt vorsorglich eine Erklärung seiner Regierung übermittelt. Darin hieß es: England und Japan würden das Kiautschougebiet vermutlich von der Landseite her angreifen. Eine militärische Aktion Chinas gegen die zu erwartenden Truppenlandungen sei sinnlos, weil die eigenen Streitkräfte für eine erfolgreiche Abwehr zu schwach seien. In seiner Antwort teilte das Auswärtige Amt mit, daß es sich in Anbetracht der bestehenden Schwierigkeiten mit einem chinesischen Protest gegen eine Neutralitätsverletzung zufrieden gebe.

66 Die chinesische Beschwerde blieb in Tokio ohne Wirkung. Kato hatte dem russischen Botschafter schon vorher unter dem Siegel strengster Geheimhaltung mitgeteilt, daß Peking – nach beidseitiger Übereinkunft – nur einen förmlichen Protest einlegen werde. Die geplanten japanischen Maßnahmen würden dadurch nicht betroffen. Wenn tatsächlich Absprachen zwischen Tokio und Peking stattgefunden hatten, so war die am 3.9. vollzogene Einrichtung einer Kriegszone im Raume Lungkou-Laichou und um die Kiautschou-Bucht nichts weiter als ein formaler Akt zur Hervorhebung der chinesischen Neutralität. Zur näheren Erläuterung der chinesischen Maßnahmen sandte das Waichiaopu eine Note an das Auswärtige Amt (3.9.), worin - gleichsam die eigene Nachgiebigkeit mit der eigenen Schwäche entschuldigend – noch einmal darauf hingewiesen wurde, daß eine japanische Landung nicht abgewehrt werden konnte. Daher sei die chinesische Regierung bemüht, wie im russisch-japanischen Krieg den gegenwärtigen Konflikt "auf ein bestimmtes, möglichst kleines Gebiet zu lokalisieren." Dies Gebiet stehe den "kriegführenden Parteien zur Benutzung frei. " Die chinesische Regierung ging dabei, wie sie amtlich mitteilte, von der Tatsache aus, daß die Japaner, Engländer und Deutschen in gewissen Teilen Shantungs Kriegsvorbereitungen getroffen hätten. Daher sei sie gezwungen, Kiautschou, Lungkou und Laichou aus der Zone strenger Neutralität auszuklammern. Außerhalb dieser Zone werde sie aber weiterhin streng auf die Wahrung der chinesischen Neutralität achten.

[C.4  Fruchtloser deutscher Druck auf China]

67 Die Reaktion der chinesischen Regierung auf die japanischen Truppenlandungen in Shantung sowie Art und Umfang ihrer Maßnahmen gegen die militärischen Operationen auf chinesischem Hoheitsgebiet waren Gegenstand eines lebhaften Notenwechsels zwischen der deutschen Gesandtschaft in Peking und dem Waichiaopu. Maltzan versuchte dabei, die Chinesen zu mehr als nur papiernen Protesten zu drängen, wobei er es an Vorwürfen und Drohungen nicht fehlen ließ. Zunächst forderte er angesichts der japanischen Kriegserklärung die Sperrung Shantungs für Truppen der kriegführenden Parteien (20.8.). Sodann wies er den Vorwurf zurück, daß Deutschland die Neutralität Chinas durch Truppen- und Waffentransporte auf dem Landwege nach Tsingtau und durch die Aufbringung feindlicher Handelsschiffe in chinesischen Hoheitsgewässern zuerst verletzt habe (4.9.). Er warf seinerseits der chinesischen Regierung einseitige Parteinahme für Japan vor (3. und 4.9.). Sie habe nicht – wie vorgegeben – die Kriegszone in Shantung wie im russisch-japanischen Kriege nach geographischen Gesichtspunkten festgelegt, sondern sie den Operationsplänen der Japaner angepaßt. Er behielt sich namens der deutschen Regierung vor, Schadensersatzansprüche, die sich aus der "vorliegenden Neutralitätsverletzung und ihren Folgen für deutschen Besitz jetzt oder später..." ergeben könnten, in Peking zu stellen (3.9.).

68 Das chinesische Außenministerium und hier vor allem der keinesfalls deutschfeindliche Außenminister Sun Pao-chi bemühten sich um eine korrekte neutrale Haltung nach beiden Seiten. In den Antwortnoten auf die teilweise heftigen Anschuldigungen Maltzans wurde betont, daß China zu Japan, England und Deutschland "gleichzeitig im Verhältnis befreundeter Staaten" stehe (3.9.). Die chinesische Regierung habe, seitdem sie "ihre Neutralität öffentlich erklärt habe ..., jedesmal gegen eine etwaige Neutralitätsverletzung öffentlich Protest eingelegt (23.8., 3.9.)". Mit der Einrichtung der Kriegszone in Shantung habe sie "unter Berücksichtigung der z.Z. gegebenen Verhältnisse" die günstigste Lösung gefunden (9.9.). Sie müsse daher den Vorwurf der nachträglichen Einrichtung der Kriegszone zum Vorteil Japans zurückweisen. Sie werde daher auch keine Schadensersatzansprüche anerkennen können, weil sie alles in ihrer Macht stehende getan habe, um die Neutralisierung Shantungs zu sichern. Sie habe nachgeben müssen, um zu verhindern, "daß an anderer Stelle die chinesische Neutralität verletzt werde."

69 Der Hinweis der chinesischen Regierung, daß deutsche Truppen auf dem Landwege nach Tsingtau befördert worden seien und daß Deutschland damit die chinesische Neutralität zuerst verletzt habe, war berechtigt. Das ostasiatische Marinedetachement war bereits im August – also vor der Landung japanischer Truppen – aus dem Raume Peking-T'ientsin über die Tientsin-Pukow-Bahn und die Shantungbahn in das Pachtgebiet gebracht worden. Auf demselben Wege war Kriegsmaterial nach Tsingtau befördert worden. Peking hatte darauf nicht sogleich protestiert, sondern den unbestreitbaren Tatbestand lediglich als Rechtfertigung für die Einrichtung der Kriegszone Deutschland gegenüber angegeben.

70 Den Meinungsaustausch über Umfang und Wirksamkeit der chinesischen Neutralität führte Maltzan in eigener Initiative ohne Weisungen seitens des Auswärtigen Amtes. Vermutlich war die Nachrichtenverbindung zwischen der deutschen Gesandtschaft in Peking und dem Auswärtigen Amt weiter unterbunden. Es besteht aber wohl kein Zweifel darüber, daß der Kaiser, Jagow und Zimmermann, die stets darauf bedacht waren, den Ehren- und Rechtsstandpunkt selbst in der großen Politik kompromißlos zu verteidigen, die harte Sprache Maltzans den Chinesen gegenüber gebilligt hätten. Das Auswärtige Amt selbst griff in diesen unfruchtbaren Meinungsaustausch nur einmal mit einer Beschwerde an die chinesische Gesandtschaft in Berlin ein über die seitens der chinesischen Regierung ohne Protest hingenommene Besetzung der Orte Kiautschou und Tsimo, die "einwandfrei unter chinesischer Verwaltung" ständen.

[C.5  Scharfer, aber erfolgloser chinesischer Protest gegen japanische Besetzungen]

71 Mit scharfem Protest reagierte die chinesische Regierung dagegen auf die Besetzung Weihsiens durch die Japaner (27.9.). Weihsien lag bereits außerhalb der von der chinesischen Regierung für Kriegshandlungen freigegebenen Zone. Peking bezog sich dabei auf eine Note Tokios (7.9.), in welcher zugesichert war, daß den Chinesen Verwaltung und Betrieb der Shantungbahn belassen und Weihsien nicht von japanischen Truppen besetzt werden sollte. Die Shantungbahn gehöre einer gemischten deutsch-chinesischen Aktiengesellschaft. Es seien ferner niemals deutsche Truppen in Weihsien und längs der Bahnlinie stationiert gewesen. In einer weiteren Note (30.9.) wurde darauf verwiesen, daß es falsch sei, die Shantungbahn als Besitztum der deutschen Regierung zu bezeichnen. Eigentümer seien vielmehr deutsche und chinesische private Kapitalgeber.

72 Die Japaner legten darauf ihre Karten offen auf den Tisch. Der japanische Botschafter in Washington teilte dem State Department mit (1.10.), daß die den Deutschen von Peking übertragene Bau- und Betriebskonzession der Shantungbahn ein Teil des Pachtvertrages vom 6.3.1898 sei und daß die Bahn selbst als ein "Teil" oder eine "Ausdehnung" des Pachtgebietes angesehen werden müsse. Nach Kriegsausbruch sei die Bahn überdies deutscherseite für militärische Zwecke verwendet worden. Es liege daher im allgemeinen Interesse, wenn Japan nicht nur ein Teilstück, sondern die ganze Bahnlinie besetze. Der chinesischen Regierung wurde mitgeteilt, daß das Ziel der japanischen Operation nicht nur die Eroberung Tsingtaus, sondern die "Eliminierung dieser Basis deutscher Aktivität in Fernost" sei (2.10.). Die deutsche Shantung-Eisenbahngesellschaft sei eine "rein deutsche Gesellschaft" und stehe "völlig unter Kontrolle der deutschen Regierung." Das war nun freilich eine zweckgerichtete Übertreibung, um die japanischen Annexions- und Liquidationsabsichten zu untermauern.

73 Juristisch war die deutsche Shantung-Eisenbahngesellschaft ohne Zweifel ein privates Unternehmen. Aber ihre Beziehungen zu offiziellen deutschen Stellen, das Mitspracherecht der deutschen Regierung und des Gouvernements Tsingtau bei der Besetzung der leitenden Stellen und der Betriebsleitung und ebenso der halbamtliche Status der Deutsch-Asiatischen Bank als einer ihrer Hauptaktionäre waren nicht zu leugnen. Die Alliierten akzeptierten – wenn auch nicht ohne Bedenken – die japanischen Argumente. Jedenfalls unterblieb ein von der chinesischen Regierung erhoffter britischer Protest gegen den durch das japanische Vorgehen auf Weihsien neuerlich verursachten Neutralitätsbruch. Krupenski teilte seiner Regierung mit (29.9.), daß die japanischen Aktionen den Engländern zwar "sehr unangenehm" seien, daB man jedoch "schwerlich einen ernsten Schritt ihrerseits in dieser Frage erwarten" dürfe.

[C.6  Empörung in China gegen Japan und England]

74 Es ist nicht verwunderlich, daß in jenen Wochen in China die Wogen der Empörung gegen Japan, ja selbst gegen England, das doch offensichtlich die japanischen Übergriffe in Shantung duldete, aufbrandeten. Die deutsche Gesandtschaft berichtete (5.10.), daß sich im Lande eine Boykottbewegung gegen japanische Waren ausbreite. Ein aktives Vorgehen der chinesischen Regierung gegen die Japaner würde der chinesischen Volksstimmung durchaus entsprechen. Die Stimmung der chinesischen Bevölkerung sei "aufs äußerste deutschfreundlich und gegen Japan erbittert und gereizt." Dieser Bericht gab die in den politisch einflußreichen Kreisen Chinas vorherrschende Meinung, wenn auch übertrieben, so doch im Kern richtig wieder. Selbst amerikanische Geschichtsschreiber kommen zu dem Ergebnis, daß in den ersten Kriegstagen die Masse der informierten Chinesen mehr mit Deutschland als mit seinen Feinden sympathisiert habe. Das sei auch ganz natürlich gewesen; denn die Alliierten hätten wenig getan, um Chinas Zuneigung zu gewinnen. Der Kriegseintritt Japans und seine Übergriffe in Shantung hätte noch mehr Erbitterung gegen die Ententemächte erzeugt, weil sich keine Hand gerührt habe, um die Neutralität Chinas zu schützen. So sei es nicht verwunderlich, daß einflußreiche Kreise in China gewünscht hätten, Deutschland möge in Europa siegen, um hernach Japan, das ihnen zwanzig Jahre lang Kummer bereitet habe, bestrafen zu können.

[C.7  Kein Eingreifen der USA]

75 Die chinesische Regierung hatte ihre Hoffnung auf eine amerikanische Intervention gegen den japanischen Vormarsch längs der Shantungbahn - also außerhalb des von den Chinesen zur Kriegszone proklamierten Gebietes – nicht aufgegeben. Yüan hatte sogar im September einen Sondergesandten nach Washington gesandt. Peking wurde aber bitter enttäuscht. Der amtierende Staatssekretär Lansing teilte dem amerikanischen Gesandten Anfang November mit: "Die Vereinigten Staaten wünschen, daß China die Echtheit der amerikanischen Freundschaft spürt und daß es sicher ist, daß Washington gern seinen ganzen Einfluß aufbieten wird, um mit friedlichen Mitteln die Wohlfahrt des chinesischen Volkes zu fördern. Das State Department ist jedoch der Meinung, daß es äußerst absurd wäre, die Vereinigten Staaten wegen der territorialen Integrität Chinas in internationale Konflikte zu stürzen." Das war erneut eine klare Absage an China, die, wenn sie in dieser grundsätzlichen Formulierung in Tokio bekannt geworden wäre, ohne Zweifel der japanischen Expansionspolitik auf dem asiatischen Festlande neue Antriebe gegeben haben würde. Auch der Abschluß eines chinesisch-amerikanischen Schiedsgerichtsvertrages (15.9.) war in der derzeitigen politischen Lage für Peking bedeutungslos, weil er ohnehin nur bestätigte, was hinreichend bekannt war, die nichtaggressiven Absichten der Vereinigten Staaten gegenüber China.

[C.8  Deutschland vermeidet den Bruch mit China]

76 Was nützten daher den Deutschen in China alle offenen Sympathien der chinesischen Bevölkerung, wenn die chinesische Regierung, selbst von Washington im Stich gelassen, unfähig war, die Japaner in die Schranken zu weisen? Es mußte deutscherseits unter diesen Umständen sogar befürchtet werden, daß, sobald in Europa das Kriegsglück sich den Alliierten zuwenden würde, China durch Drohung oder Lockung der Entente zur Aufgabe seiner Neutralität veranlaßt werden könnte. Zunächst waren jedoch die chinesischen Behörden, von den deutschen Siegen in Europa beeindruckt, bemüht, sich korrekt zu verhalten und dem Drängen der Alliierten auf Repressalien gegen deutsche Staatsbürger nach Möglichkeit nicht nachzugeben. Sieht man einmal von den scharfen Demarchen Maltzans gegen die Einrichtung einer Kriegszone in Shantung und von der Unnachgiebigkeit der deutschen Regierung in der Frage der Aufhebung oder Stundung der Boxerindemnitätszahlungen ab, so war auch die Wilhelmstraße darauf bedacht, die schwierige Zage Pekings zu berücksichtigen und einen offenen Bruch mit China zu vermeiden. Die deutsche Regierung unterließ daher alles, was Mißstimmung in Peking verursachen konnte, wohl wissend, daß nur in einer völlig entspannten Atmosphäre das Wohlwollen Chinas und seine Neutralität erhalten werden konnten.

[C.9  Japan besetzt weitere Gebiete und enteignet die Shantung-Eisenbahngesellschaft]

77 Am 14.10. besetzten die Japaner Tsinanfu. Damit hatten sie die gesamte Shantungbahn außerhalb des Pachtgebietes unter Kontrolle. Sie war nicht nicht zerstört worden. Ein Befehl der deutschen Gesandtschaft, den westlichen Teil der Bahn zu sprengen, um zu verhindern, daß das gesamte rollende Material von den Japanern für Truppen- und Materialtransporte nach Tsingtau benutzt würde, konnte nicht durchgeführt werden, weil es an Sprengstoff fehlte. Militärisch im Augenblick zwar nachteilig, war die Nichtzerstörung der Bahn für die deutsch-chinesischen Beziehungen insgesamt vorteilhaft. Die Chinesen hätten sicherlich eine Sprengung der Bahnlinie mit großer Erbitterung zur Kenntnis genommen. Mit einer Zerstörung der Bahn durch deutsche Truppen wären überdies die Interessen der chinesischen privaten Kapitalgeber an der Bahn gröblich verletzt worden. Mag der chinesische Kapitalanteil auch gering gewesen sein – im Augenblick war der von der chinesischen Regierung nachdrücklich erhobene Anspruch auf chinesische Besitzrechte an der Shantungbahn außerordentlich wichtig, um diese dem japanischen Zugriff womöglich zu entziehen. Rücksichtslose Sprengung hingegen hätte das japanische Argument, daß die Shantungbahn deutsches Staatseigentum sei, gestützt und damit ihre Beschlagnahme gerechtfertigt.

78 Am 13.10. beschlagnahmten die Japaner dennoch das gesamte Eigentum der Shantung-Eisenbahngesellschaft einschließlich der Bergbaukonzessionen, die sich seit der Auflösung der Shantung-Bergbaugesellschaft (13.3.1913) im Besitz der Eisenbahngesellschaft befanden. Kurz vor der Eroberung Tsingtaus versuchte der einfallsreiche Maltzan, die Japaner zur Rückgabe der deutschen Konzessionen in Shantung zu bewegen. Er sandte der amerikanischen Botschaft in Tokio in Telegramm mit der Bitte, bei der japanischen Regierung die Rückgabe der Shantungbahn, die ohne deutsches Staatskapital gebaut sei, und der Bergwerke – soweit mit militärischen Notwendigkeiten vereinbar – zu erwirken. Auf Anweisung des State Department wurde die deutsche Note der japanischen Regierung überreicht, ohne daß diese ihre Maßnahmen in Shantung revidierte. Über die Zukunft Tsingtaus und die deutschen Konzessionen werde, so ließ Tokio wissen, mit England und China nach Kriegsende verhandelt werden. Wenig später äußerte sich Kato (12.12.), ob Japan Kiautschou zurückgeben oder behalten werde, entscheide sich erst nach dem Kriege. Die Besetzung der Marianen, der Karolinen und der Marschallinseln (20.10.) und die Gründung der japanischen Südseegesellschaft (16.2.1915) rundeten das Bild einer kompromißlos vorgetragenen japanischen Expansion.

[C.10  Kapitulation Kiautschous]

79 Die Kapitulation Tsingtaus (7.11.1914), die Wilhelm II. noch am Tage zuvor energisch mit dem Bemerken zurückgewiesen hatte, "eine deutsche Festung werde grundsätzlich nicht übergeben, keineswegs aber an die gelbe Rasse" [Fußnote: Bericht Bethmanns an das Auswärtige Amt --> Dokumente des Auswärtigen Amtes, Weltkrieg 13, Band 5], beendete eine Epoche deutscher Chinapolitik, die, obwohl in den letzten Vorkriegsjahren zunehmend maßvoller geführt, sich letztlich doch durch übertriebene, vom imperialistischen und Prestigedenken beeinflußte Vorstellungen und Maßnahmen von vornherein selbst in Frage gestellt hatte.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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