Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Japanische Lager (Allgemeines)

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Fluchtversuche von Tsingtau-Verteidigern aus japanischem Gewahrsam im Ersten Weltkrieg

von Adolf Meller, Leonberg

Inhalt

1. Einführung
2. Gründe der Flucht
3. Die fünf abenteuerlichsten Fluchtversuche
4. Geldquellen
5. Weitere Fluchtversuche
6. Die Auswirkung der Fluchtversuche in den Lagern
7. »Einer kam bis nach Deutschland«
 

Vorwort

Als mein Vater vor 40 Jahren starb, hinterließ er Familiendokumente, Schriftstücke aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, aus der Zeit zwischen den Kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Briefe, die er schrieb, sind zum Teil durch Kopien erhalten geblieben, weil er die Schreibmaschine benutzte und die Durchschläge verwahrte.

Es ist erstaunlich, dass alles die vielen Jahrzehnte überdauert hat. Die Zeit eines ruhigen Friedens in China und auch in Shanghai, wo ich aufgewachsen bin, wurde immer wieder unterbrochen durch Revolution und kriegerische Ereignisse. Weil wir meistens am Stadtrand wohnten, mußten wir mehrmals in aller Eile das Haus verlassen, um innerhalb der Internationalen Niederlassung unterzukommen. Im Oktober 1937 wurde unser Haus durch japanische Fliegerbomben zerstört. Als meine Eltern dreizehn Jahre später China verlassen konnten, mußte überlegt werden, was wichtig zum Mitnehmen war. Meine Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft Anfang 1950 erleichterte meinen Eltern die »Heimkehr« nach den damaligen Verordnungen über die »Familienzusammenführung«. Es war damals nicht einfach, im zerstörten Deutschland mit Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen eine Bleibe zu finden.

Nach diesen Turbulenzen in unserem Leben bin ich froh, viele Erinnerungen schriftlicher Art im Nachlaß meines Vaters zu finden.

Erst vor zwei Jahren nahm ich seine Tagebücher aus der japanischen Kriegsgefangenschaft nochmals zur Hand und fing diesmal an, darin zu lesen. Sie sind in der »deutschen Schrift« geschrieben worden wie vor hundert Jahren. Ich kann sie mühelos lesen, weil ich die Schrift aus meiner Schulzeit kenne. Hieraus entstand meine Arbeit »Das Schicksal der Verteidiger von Tsingtau im Ersten Weltkrieg«.

Mit Erstaunen stellte ich fest, dass dieses scheinbar längst vergessene Thema in den letzten Jahren auch von anderen aufgegriffen wurde.

Dabei kam mir im vorigen Jahr ein Artikel in die Hände, in dem in einer Fußnote der Name Heinrich Unkel genannt wurde, der einen Fluchtversuch unternommen hatte. Ich las den kurzen Text mit großer Überraschung, denn Herrn Unkel kannte ich seit meiner Kindheit. Er war ein langjähriger Freund meines Vaters.

So wurde "Fluchtversuche" für mich zu einem neuen Thema, und ich begann zu recherchieren. Das Ergebnis habe ich versucht, hier darzustellen.

Leonberg, im August 2002

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1. Einführung

Die zwischenstaatlichen Spannungen im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts führten zwangsläufig zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die tödlichen Pistolenschüsse auf das österreichische Thronfolgerpaar am 28. 6. 1914 in Sarajewo zündeten die Lunte am europäischen Pulverfass. Nach abgewiesenen Ultimaten folgten gegenseitige Kriegserklärungen. Aber warum stellte sich Japan auf die Seite der Alliierten?

Zwischen Deutschland und Japan herrschten im allgemeinen gute Beziehungen. Seit 1861 hatte Japan mit Preußen einen Freundschafts- und Schiffahrtsvertrag, dem ein Handelsvertrag zu Grunde lag. Seit jener Zeit waren deutsche Ärzte, Militärberater und Fachleute in Japan tätig.

Andererseits verfolgte Japan das Ziel, seinen Einfluß in China zu vergrößern. Im Krieg 1894/95 erlitt China eine verheerende Niederlage gegen Japan, das sein Einflußgebiet in Nordchina nun ausweiten konnte. Im Süden besetzte es Formosa, das bis 1945 in japanischer Hand blieb. Die »Drei-Mächte-Intervention« von Rußland, Frankreich und Deutschland verhinderte, dass Japan sich weiter in China ausdehnen konnte. Man kann annehmen, daß die Beteiligung Deutschlands dabei Japan besonders verärgerte. In Rußland sah Japan jedoch die größere Bedrohung. Das Zarenreich war dabei, sich in der Mandschurei einzurichten. Bei den herrschenden Rivalitäten ist es erstaunlich, daß der Boxeraufstand 1900/01 in Nordchina die Großmächte vereint auf dem Marsch nach Peking sah.

Im Jahre 1902 schloß Japan mit England ein Schutzbündnis. Nach dieser Absicherung ging Japan gegen Rußland vor. Es zwang die russische Besatzung von Port Arthur zur Kapitulation, und nach dem in die Geschichte eingegangenen Russisch-japanischen Krieg 1904/05 bekam das siegreiche Japan im Frieden von Portsmouth (USA) das Protektorat über Korea und die Südmandschurei zugesprochen. Von da ab wurde Japan als Großmacht anerkannt.

Port Arthur, an der mandschurischen Südspitze der Halbinsel Liaodong, ist ein Beispiel dafür, wie die Großmächte sich um Teile Chinas gestritten haben. Der Hafen erhielt seinen Namen nach dem englischen Kapitän Arthur, der als erster 1857 in den Hafen eindrang. 1894 wurde er von Japan besetzt, von 1898 bis 1905 russischer Militärhafen, der von 1905 bis 1945 wieder in japanischer Hand war. Von 1945 bis 1955 war die Hafenstadt unter sowjetisch-chinesischer Kontrolle, um danach mit dem Namen Lüshun chinesischer Marinehafen zu werden.

Als Tsingtau im November 1897 von der deutschen Marine besetzt und am 6. 3. 1898 mit China ein Pachtvertrag über das Kiautschou-Gebiet abgeschlossen wurde, machte fast zur gleichen Zeit England aus der alten chinesischen Seefestung Weihaiwei einen Flottenstützpunkt. Der Ort liegt an der Nordküste der Halbinsel Shantung, also in nächster Nähe zu Tsingtau an der Südküste der Halbinsel. Mögliche Überlegungen auf deutscher Seite, ob die Engländer von hier aus mit Unterstützung ihrer Flotte nach der Kriegserklärung Englands an Deutschland am 4. 8. 1914 Kiautschou angreifen würden, waren hinfällig, als am 15. 8. 1914 Gouverneur Meyer-Waldeck vom Befehlshaber einer japanischen Flotte vor Tsingtau ein Ultimatum zur sofortigen Übergabe des deutschen Pachtgebietes erhielt. Da eine Antwort ausblieb, erfolgte am 23. 8. 1914 die japanische Kriegserklärung.

Während in Afrika die deutschen Kolonien von England angegriffen wurden, hielt sich England bei Tsingtau zurück und ließ die Japaner den Kampf aufnehmen. Es schickte nur ein kleineres britisch-indisches Kontingent ins Feld. Die kleinen, verstreuten Inseln von Mikronesien in der Südsee, damals unter deutscher Verwaltung, waren für England nicht attraktiv. Sie wurden den Japanern überlassen. Tsingtau dagegen, die aufstrebende sogenannte Musterkolonie, hätte für England eine gut ausgebaute Niederlassung gegeben. Jedoch schien das Risiko eines verlustreichen Kampfes für England zu groß. Es überließ Japan den Vortritt mit der Zusicherung, Tsingtau nach der Einnahme behalten zu können.

Japan stellte ein Heer von 58 000 Mann auf, unterstützt von 36 Kriegsschiffen seiner Flotte, die von einigen englischen Kriegsschiffen unterstützt wurden. Aus sicherer Entfernung wurde Tsingtau mit schwerem Kaliber von See aus beschossen. Die deutschen Küstenbatterien hatten nicht die gleiche Reichweite.

China erklärte am 8. 8. 1914 seine Neutralität. Dessen ungeachtet landeten am 2. 9. 1914 die japanischen Truppen im chinesischen Hinterland nördlich von Kiautschou bei Longkou. Von hier gingen sie gegen Tsingtau vor, das von rd. 4000 Mann verteidigt wurde, darunter etwa 1400 Reservisten, Freiwillige und Ungediente aus China und anderen ostasiatischen Orten.

Der von Beginn an aussichtslose Kampf endete am 7. November 1914 mit Kapitulation und Abtransport der Verteidiger nach Japan. Den Engländern überließen die Japaner 75, meist schwerverwundete Deutsche, die erst nach Hongkong, dann Singapur und schließlich nach Australien gebracht wurden. Im dortigen Lager trafen sie einige der »Emden«-Besatzung. Der Kreuzer Emden gab am 9. November 1914 nach schwerem Seegefecht gegen einen überlegenen Gegner bei den Kokos-Inseln völlig zerschossen den verlustreichen Kampf auf. Reste der Besatzung gerieten in britisch-australische Gefangenschaft.

Das Dokument der Kapitulation Tsingtaus wurde vom Japaner Yamanashi Takashi und von Kapitän zur See Ludwig Saxer unterzeichnet. Die Briten wurden nicht zur Unterschrift herangezogen.

Am 10. November 1914 kam es auf Wunsch des Gouverneurs Meyer-Waldeck zu einem Treffen mit General Kamio, dem Oberbefehlshaber der japanischen Streitkräfte. Es war ein spannungsfreies Gespräch, in dem beide ihre Hoffnung ausdrückten, bald wieder so gut zusammen arbeiten zu können wie in der Vergangenheit. Kamio hatte früher seine militärische Ausbildung zum Teil von General Meckel erhalten und daher eine deutschfreundliche Einstellung. Bei dem Gespräch war auch der Engländer Calthrop zugegen, wurde aber nicht in die Unterhaltung einbezogen.

Nach Abgabe ihrer Waffen wurden die deutschen Kriegsgefangenen nach Japan gebracht. Es ist bemerkenswert, dass sie weder bei der Gefangennahme noch in Japan durchsucht wurden und ihre persönliche Habe in die Lager nehmen durften. Niemand wurde gefragt, wieviel Geld er bei sich trug. Mein Vater ging z. B. mit 200 China-Dollar in die Gefangenschaft.

Geld wird später bei eigenmächtigen Unternehmungen Einzelner eine wichtige Rolle spielen.

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2. Gründe der Flucht

Für einen Kriegsgefangenen ist es keine ehrenrührige Tat, einen Fluchtversuch zu wagen. Ein Wagnis ist es in jedem Fall. Je nach Situation kann ein Versuch tödlich enden. »Auf der Flucht erschossen« war in beiden Weltkriegen nicht nur ein geflügeltes Wort.

Japan hat während der Dauer der Kriegsgefangenenschaft der Deutschen diese Maßnahme nie angewandt. Es gab auch kein Gericht, das die Todesstrafe verhängte.

Die Haager Landkriegsordnung (HLKO) erfuhr 1907 nur eine geringfügige Erweiterung im Abschnitt »Behandlung von Kriegsgefangenen«. Kernpunkt blieb die allgemeine Formulierung: »Kriegsgefangene gelten als Staatsgefangene und müssen menschlich behandelt werden.« Das bedeutete für den Fall einer Flucht, dass diese nur mit disziplinarischen Maßnahmen (Arrest) geahndet werden sollte. Sowohl Japan als auch Deutschland hatten das Abkommen unterzeichnet.

Damals, 1914, gerieten die Verteidiger von Tsingtau schon in Gefangenschaft, als in Europa die Kämpfe gerade ein Vierteljahr dauerten und die Meldungen von der Westfront im Anfang ganz günstig für das deutsche Heer lauteten. Die Zeitungsmeldungen über die Entwicklung der Kriegslage in Europa kamen in alle Lager, und man verfolgte den Fortgang des Krieges an Hand von aufgehängten Landkarten.

Vor allem für die deutschen Offiziere war es eine seelische Belastung, die Kriegsentwicklung nur auf diese Weise zu verfolgen, ohne selbst eingreifen zu können. Dies und das Gefühl der Erniedrigung, in den Händen von Asiaten, ehemaligen Schülern deutscher Militärerziehung, zu sein, waren die wichtigsten Gründe, Pläne für die Flucht zu schmieden. Für andere war es einfach das Bestreben, frei zu sein.

Wer es sich nicht genau und gründlich überlegt hatte, scheiterte meistens schon zu Beginn, so dass es nur bei einem Fluchtversuch blieb. Sollte es einem Gefangenen gelungen sein, die erste Hürde, d.h. den Stacheldraht, zu überwinden, stand er vor weiteren großen Schwierigkeiten. Das größte Problem war die Insellage Japans. Die nächste Küste gegenüber Japan gehörte zu Korea und China. So lag es nahe, daß China die erste Fluchtstation sein sollte. Dazu kam, daß China bis 1917 ein neutrales Land war. Damit war es das erste Ziel für die meisten Flüchtenden. Von dort aus wären noch etwa 10 000 km über Land zu bewältigen gewesen. Wer über die Meere fliehen wollte, dem stünde eine Weltreise bevor.

Nach Eintritt Chinas in die Reihe der Feindstaaten waren ab Mitte 1917 so viel wie keine Fluchtversuche mehr unternommen worden. Ein weiterer Grund hierfür mag daran gelegen haben, daß die Haftbedingungen in den verbliebenen und neu errichteten Lagern, wie z.B. Bando, leichter zu ertragen waren.

So gehörten mehrere Voraussetzungen dazu, wenn eine Flucht aus Japan gelingen sollte. Neben einer gehörigen Portion Glück, Optimismus und Kaltblütigkeit waren auch Geldmittel nötig. Es ist daher nicht verwunderlich, daß fast alle Fluchtversuche fehlschlugen mit schlimmen Folgen für die Betroffenen. Die japanischen Lagerkommandanten waren über die Vorfälle so verärgert, dass sie in den Lagern Kollektivstrafen verhängten.

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3. Die fünf abenteuerlichsten Fluchtversuche

Die Gefangenen wurden in Japan zunächst auf 12 provisorische Lager verteilt. Dazu dienten Tempel und öffentliche Gebäude. Zwischen 1915 und 1917 wurden 5 neue Barackenlager errichtet, in die nach und nach die Gefangenen umzogen.

Im Offizierslager von Fukuoka durften die Offiziere in den ersten Wochen ohne Bewachung Ausflüge in die Umgebung machen. Sie mußten nur ihr Ehrenwort geben, keine Fluchtversuche zu unternehmen. Im Frühjahr 1915 wurde dieses Privileg aufgehoben, vermutlich wegen Fluchtversuchen aus anderen Lagern, oder – so glaubten die deutschen Offiziere – auf Veranlassung englischer Diplomaten. Wie immer auch die Erklärung gewesen sein mag, die Verärgerung war groß. Die Spaziergänge nun unter Aufsicht machen zu dürfen wurde verspottet. Der Ärger konzentrierte sich wegen der unerwarteten Änderung auf die japanische Lagerführung. Der Verdruß steigerte sich durch die Einsicht hilfloser Untätigkeit, nicht am Kampf an der Westfront teilnehmen zu können. Über die von der Lagerleitung herausgegebenen täglichen Kurznachrichten waren die Offiziere über die Kriegslage in Europa informiert und wußten daher, daß in Frankreich das Vorrücken zum Stillstand gekommen war, gefolgt von einem Grabenkrieg. Viele von ihnen betrachteten es daher als ihre vaterländische Pflicht zu fliehen. Sie wußten, welches Risiko sie eingehen würden und was ihnen blühen könnte, wenn sie gefaßt werden. Frühere mißlungene Fluchtversuche aus anderen Lagern wurden durch offizielle Berichte publiziert.

Auch über die »Gerüchteküche« in den Lagern erfuhren sie über die rigorosen Strafen. Die Japaner verstanden bei Fluchtversuchen keinen Spaß. Sie fanden genügend Gründe, mehrjährige Gefängnisstrafen zu verhängen, z.T. auch Zuchthaus in zivilen Gefängnissen mit Isolationshaft. Dazu genügte allein schon die Beschädigung des Lagerzaunes (Staatseigentum!) oder ein Diebstahl von Nahrungsmitteln.

Fünf Offiziere, beseelt von dem Willen, am Kampf in Europa teilzunehmen, ergriffen im November 1915, unabhängig voneinander, die Flucht aus dem Lager Fukuoka. Es waren:

Im Buch von Charles Burdick und Ursula Moessner »The German Prisoners-of-War in Japan, 1914-1920« sind ihre Fluchtversuche, belegt durch Dokumente und Interviews, ausführlich beschrieben. Die Geschichten sind so spannend, daß ich sie hier nacherzählen möchte.

Oberleutnant Kempe war in Tsingtau zuletzt Adjutant vom Gouverneur Alfred Meyer-Waldeck, der sich auch im Offizierslager Fukuoka befand.

Keiner der Offiziere wußte von dem Fluchtvorhaben von Kempe mit Ausnahme von Dr. Friedrich Wilhelm Hack (28 Jahre), der als Lagerdolmetscher fungierte. Er war Berater bei der von Tokyo geführten Süd-Mandschurischen Eisenbahn gewesen. Bei Kriegsausbruch eilte er von Tokyo nach Tsingtau, um bei der Verteidigung mitzuhelfen. Mit ihm besprach Kempe den Fluchtplan. Der Zeitpunkt wurde für die Zeit der mehrere Tage währenden Festlichkeiten aus Anlaß der Kaiserkrönung festgelegt. In dem zu erwartenden Trubel hoffte er als Europäer nicht besonders aufzufallen. Die Krönung sollte Mitte November 1915 stattfinden. Dr. Hack weihte Kempe ausführlich über die Gewohnheiten der Japaner ein und gab ihm Zivilkleidung aus seinem Bestand. Kempe hatte vor, durch die Stadt zum Bahnhof zu gelangen und per Zug zum Hafen von Shimonoseki über Moji zu fahren, um dann mit einem Dampfer in Shanghai im neutralen China anzukommen. Die japanische Zeitung von Kobe lieferte ihm wertvolle Hinweise über Abfahrtszeiten der Schiffe. Einmal fand er auf einem achtlos weggeworfenen Fahrschein der Straßenbahn den Straßenplan von Fukuoka.

Das Gefangenenlager für Offiziere lag unmittelbar am Fluß, der die Stadt teilte. Da es November war, bestand die Möglichkeit, daß das Wasser nur fußtief war, weil der Regen noch nicht eingesetzt hatte. In der Nacht zum 13. November setzte er seinen Plan in die Tat um. In voller Kleidung legte er sich auf sein Feldbett im Erdgeschoß des Hauses, das einem Teil der Offiziere als Unterkunft diente. Ungeduldig wartete er auf die Geräusche des Postens, der bei seinem letzten Rundgang die Haustür abzuschließen pflegte. Bis es so weit war, schossen Kempe alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Selbstzweifel oder die Möglichkeit eines Fehlschlages hegte er nicht. Immer wieder prägte er sich seine einzelnen Schritte ein.

Endlich waren die letzten Nachtstunden gekommen und für ihn der Zeitpunkt des Aufbruchs. Als er vorsichtig das Fenster zum Fluß hin öffnete, überfielen ihn doch plötzlich Bedenken, und er wäre am liebsten wieder zum wärmenden Feldbett zurückgegangen, um seinen Plan vielleicht doch noch ein anderes Mal auszuführen. Doch sofort faßte er wieder Mut. Er nahm sein Bündel, kletterte aus dem Fenster, sprang über den Uferdamm und - landete bis zu den Knien im Wasser. Mit diesem Wasserstand hatte er allerdings nicht gerechnet. Die Steine im Flußbett waren glatt und rutschig, so daß er einmal den Halt verlor und bis zu den Hüften naß wurde. Wieder kam ihm für einen Moment der Gedanke, doch umzukehren. Aber er tastete sich vorsichtig weiter, sein Bündel mit den Zähnen haltend.

Am anderen Ufer verschwand er schleunigst hinter einem Steinhaufen, der ihm Sichtschutz bot, sollte er doch von einem Posten beobachtet werden. Hier blieb er für einige Minuten liegen, um sich wieder zu beruhigen. Dann kramte er trockene Unterwäsche aus seinem Bündel und entledigte sich der nassen. Seine Uhr zeigte ihm, dass inzwischen 90 Minuten verstrichen waren. Dann stärkte er sich an einem Stück Schokolade, überwand den Uferdamm und ging die Straße entlang. Bis jetzt hatte er Glück gehabt und war nun aus dem unmittelbaren Bereich des Lagers heraus. Ruhe und Gelassenheit kehrten zurück. Sie waren nun aber nötig, denn er war in der Stadt, wo sich allmählich Betriebsamkeit regte. Wegen der Festivitäten waren die Straßen mit Laternen und elektrischem Licht hell erleuchtet.

Erleichtert stellte er fest, daß nur wenige Japaner unterwegs waren. Er nahm die Haltung eines alten, gebeugten Mannes an und begegnete jedem Passanten mit einem leichten Kopfnicken. Schließlich erreichte er den Bahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte nach Yokohama. Nun mimte er einen Engländer, zündete sich eine Tabakspfeife an, faltete eine englische Zeitung auf und ging langsam den Bahnsteig auf und ab. Niemand verlangte von ihm seine Papiere zu sehen. Sein Ausweis war eine Visitenkarte auf den Namen Olaf Nielsen, Stockholm. Nachdem der Zug eingefahren war, bestieg er ein Abteil der 1. Klasse und setzte sich seelenruhig in die Polster. Es überkam ihn ein Gefühl der Freude, endlich nach 12 Monaten Haft frei zu sein. Fünf Stunden nach Beginn seines Abenteuers stieg er in Moji aus und nahm wie geplant die Fähre zur Hafenstadt Shimonoseki. Hier mietete er ein Hotelzimmer, um seine zum Teil noch feuchte Kleidung zu wechseln. Den Hotelboy beauftragte er, eine Passage 1. Klasse auf dem Dampfer Jawata Maru zu buchen. Es war ein älteres Schiff ohne drahtlose Nachrichtentechnik. Das passte in seinen Plan, denn es war damit zu rechnen, dass die Behörden in Fukuoka nach Entdeckung seiner Flucht alle ausfahrenden Schiffe benachrichtigen könnten.

Während Kempe in der Hotellobby auf die Rückkehr des Hotelboys wartete, kam ein Japaner auf ihn zu und stellte sich höflich als Mitglied der japanischen Geheimpolizei vor. Schnell unterdrückte Kempe seine Überraschung und nickte freundlich. »Was ist Ihre Nationalität?«, wurde er gefragt. »Schwedisch«, hörte sich Kempe selber sagen. Der Japaner schien seinen Körperbau einzuschätzen und fragte beiläufig, ob Norwegen bei Schweden liegen würde. Kempe murmelte bejahend, worauf der Japaner nickte, einen guten Tag wünschte und sich entfernte. Nach dieser heiklen Episode ging Kempe in ein Warenhaus und deckte sich mit 2 Handkoffern und allem Nötigen für eine längere Reise ein. Im Hotel übergab der Hotelboy ihm die Fahrkarte für den Dampfer, mit dem er am späten Nachmittag des 13. November abreiste.

Werfen wir einen Blick zurück zum Lager Fukuoka. Was geschah dort am 13. November?

Der Tag begann wie jeder andere. In den Unterkünften der Offiziere brachten die Ordonnanzen ihren Offizieren das Frühstück. (Anmerkung: Beim deutschen Militär war jedem Offizier eine Ordonnanz, auch Offiziersbursche genannt, zugeteilt. Er sorgte für saubere Kleidung seines Herren, machte für ihn Botengänge und dergleichen. Im Krieg waren die Offiziersburschen bei Truppenoffizieren gleichzeitig Kompanie-Melder. Im Landserjargon wurden sie einfach »Putzer« genannt. Diese Einrichtung durfte in der japanischen Gefangenschaft beibehalten werden.)

Gegen 10 Uhr wurde bekanntgegeben, dass zwei Japaner auf dem Weg waren, die monatliche Geldzuteilung auszuhändigen. Diese Meldung verursachte eine unvorhergesehene Situation. Normalerweise kamen die monatlichen Zuweisungen entweder am ersten oder am letzten eines Monats. Nun waren alle hierüber erfreut mit Ausnahme von Dr. Hack, der plötzlich nervös wurde, ganz im Gegensatz zu seiner üblichen Haltung. Seine Unruhe beruhte darauf, dass er über die Flucht von Kempe Bescheid wußte, aber auch, dass jeder Offizier das Geld persönlich in Empfang nehmen mußte. Das war nun bei Kempe nicht mehr der Fall und seine Ergreifung am selben Tag möglich, zumal er sich noch auf japanischem Boden befand. Das mußte unter allen Umständen verhindert werden.

Kurz entschlossen rief Hack einige Offiziere zu sich, denen er am meisten vertraute und bat sie um Hilfe. Der junge Oberleutnant Straehler hatte sofort eine Lösung. Er bot sich an, den Platz von Kempe einzunehmen. Es war ein waghalsiges Unterfangen, aber wohl der einzige Ausweg. Er lief schnell zum Platz der Auszahlung, nahm sein Geld vom japanischen Offizier und einem Zahlmeister in Empfang und eilte zur Unterkunft von Kempe, verkleidete sich als Kranker, legte sich ins Bett und wartete auf die Japaner. In der Zwischenzeit informierte Hack die beiden Japaner, dass Kempe an Fieber und Schüttelfrost leide und deswegen nicht das Bett verlassen könnte. In Begleitung von Hack gingen die beiden Japaner mit dem Geld für Kempe in sein Quartier. Sie stellten fest, daß »Kempe« tatsächlich sehr krank war. Sein Kopf war bis tief in die Stirn mit einem Tuch zugedeckt, die Bettdecke bis übers Kinn hochgezogen und er stöhnte leise. Die besorgten Japaner stellten einige Fragen. Der im anderen Sinn besorgte Hack übersetzte hin und her. Schließlich erhielt »Kempe« sein Geld und quittierte mit zittriger Hand. Bevor die Japaner gingen, sagten sie, dass sie den Lagerarzt schicken würden. Als dieser am Nachmittag kam, fand er das Bett leer, und ein froher Dr. Hack erklärte ihm, daß »Kempe« sich inzwischen so erholt hätte, dass er im Augenblick sogar an einem Handballspiel teilnähme. Mit dieser beruhigenden Nachricht gab sich der Arzt zufrieden und fragte nicht weiter.

Innerhalb des Lagers machten sich nun diejenigen, die über die geglückte Flucht wußten, ihre eigenen Gedanken. Am frühen Abend desselben Tages lud Korvettenkapitän Fritz Sachsse Dr. Hack zu einem Spaziergang im Garten ein. Dabei besprach Sachsse seine eigene mögliche Flucht mit ihm. Dieser meinte, dass noch die nächsten Tage sich dafür eignen würden, weil die Festtage wegen der Krönung noch eine Woche dauern würden. Hack verschwieg ihm aber, daß Straehler ihm die gleichen Fragen gestellt hatte.

Straehler hatte nun keine andere Wahl, selbst aus Fukuoka zu fliehen. Er hatte eine Fälschung begangen, sich für einen anderen ausgegeben und die Japaner belogen. Wenn die Flucht von Kempe entdeckt würde, müßte er von den Japanern schwere Strafen erwarten. Sollte seine eigene Flucht mißlingen, wäre so oder so eine Bestrafung fällig.

In dieser Situation erstellte Hack Fluchtpläne für Sachsse und für Straehler, ohne die beiden vom Vorhaben des anderen zu informieren. Er wußte, dass nach japanischem Recht eine geheime Verschwörung ein schweres Vergehen ist. Hack versorgte beide mit Visitenkarten aus seinem Gepäck. In seiner Eigenschaft als Berater vor dem Krieg hatte er eine Menge davon. Aus verschiedenen Gründen bewahrte er sie auf und war nun froh darüber. Straehler beherrschte französisch ganz gut und nahm sich die Visitenkarte eines Henri Vouters, Rechtsanwalt in Paris. Auch Sachsse entschied sich für die Karte eines Franzosen, Louis Gallard, Universität Lyon.

Während der nächsten Tage bereiteten sich beide, unabhängig voneinander, auf ihr Abenteuer vor. In der Kürze der Zeit, die ihnen verblieb, taten sie es in fieberhafter Eile. Sachsse änderte etwas an seinem Tagesablauf, vor allem im Zusammenhang mit dem morgendlichen Aufruf. In der Regel war die Kontrolle durch die Japaner nicht sehr streng. Ein Posten ging morgens die Korridore entlang, klopfte an die jeweilige Wohnungstür und erhielt dann von drinnen eine Antwort. Sachsse pflegte mit einem lauten "Guten Morgen" zu antworten. Jetzt aber verließ er sein Zimmer, ehe der Posten kam. Vom anderen Ende des Korridors kam Sachsse dem Posten entgegen in Badehose und einem Handtuch über der Schulter zum Zeichen, daß er gerade ein Bad genommen hatte. Diese Prozedur wiederholte er in den nächsten beiden Tagen. Am dritten Tag blieb er in seinem Zimmer und antwortete nicht als der Posten anklopfte. Er hörte, wie dieser an den nächsten Türen anklopfte und gab damit Sachsse die Gewißheit, dass der Posten ihn im Bad vermutete. Da für die Flucht Geld nötig war, hatte er in weiser Voraussicht seit Beginn der Gefangenschaft den größten Teil seiner monatlichen Zuteilung angespart. Dies traf sicher auch für alle Offiziere zu, die einen Fluchtversuch unternahmen. Sachsse entfloh am 16. November.

Oberleutnant Straehler war bereits am Vortage entwichen. Er und Sachsse wollten wie Kempe auch nach Shanghai, und wie Kempe nahmen sie den Nachtzug nach Moji und von dort die Fähre nach Shimonoseki. Sachsse hielt sich sogar im gleichen Hotel wie Kempe auf und hatte dort eine ähnliche Begegnung mit einem Geheimpolizisten, der ihm bereits nachging, als er mit der Bahn in Moji ankam. Sachsse hatte bemerkt, dass er verfolgt wurde, auch auf der Fähre und bis ins Hotel. Hier entschloß sich Sachsse selber zu handeln. In der Lobby setzte er sich zu dem Japaner, grüßte ihn freundlich und begann ganz beiläufig mit einem Gespräch. Sachsse stellte sich als ein Franzose auf Weltreise vor, nun auf dem Wege nach Korea. Der Polizist lächelte höflich, wünschte ihm eine gute Reise und verschwand. Sachsse konnte ihn aber nicht abschütteln. Er folgte ihm am nächsten Tag auf dem Schiff nach Pusan. Anders als Kempe hatte sich Sachsse für die Bahnreise nach Shanghai entschieden: Durch Korea über Mukden, Peking nach Shanghai.

Am 19. November entkam Oberleutnant von Wenckstern und einen Tag später Leutnant Modde aus dem Lager Fukuoka. Beide nahmen auch die Bahnroute nach Shanghai.

Während der Zweitagesreise mit Bahn über Seoul nach Mukden wurde Sachsse ständig von der japanischen Polizei beschattet, aber ohne ihn nochmal anzusprechen. Anscheinend haben die Japaner viele Europäer, die unterwegs waren, beschattet. Selten verlangten sie nach einem Ausweis und ließen sich viel Zeit für eine Verhaftung, um nicht etwa einen Fehlgriff zu machen. Manchmal wurde diese Geduld belohnt. So z. B. am 21. November auf der Bahnstation von Seoul. Dort fiel ein Verdächtiger auf, der sein Geld in einer fremden Sprache zählte. In der Annahme, daß es deutsch war, wurde der Mann verhaftet. Obwohl dieser sich, ziemlich verärgert, als amerikanischer Kaufmann mit Namen F. W. Miller ausgab, fand man bei weiterem Verhör heraus, daß es der flüchtige Kriegsgefangene Friedrich Modde aus dem Lager Fukuoka war.

Im Gegensatz zu Modde hatten Sachsse, Straehler und Wenckstern mehr Glück. Sie erreichten China und waren damit in einem neutralen Land. Sachsse hielt sich im deutschen Konsulat in Tientsin auf, ehe er nach Shanghai weiterreiste. Straehler ging zur deutschen Botschaft in Peking. Dort sagte man ihm, dass die Japaner inzwischen seine Flucht entdeckt hatten. Er sollte deshalb Peking so schnell wie möglich verlassen, denn Japaner und Russen würden alles unternehmen, ihn zu fassen. Er fuhr sofort weiter nach Shanghai. Auch Wenckstern war auf dem Weg von Peking nach Shanghai, nachdem er in Tientsin von der Entdeckung der Flucht benachrichtigt wurde.

Die drei Offiziere kamen in Shanghai an, wo Kempe seit dem 18. November eifrig bemüht war, ein Schiff nach Europa auszusuchen. Er besuchte deutsche Familien und hielt sich mehrmals im deutschen Klub auf. Dabei hatte er auch Kontakt mit deutschen Offizieren, die aus russischen Lagern in Sibirien geflohen waren. Eines Abends, als er wieder dort war, kam ein Bekannter und überraschte ihn mit der Nachricht, dass drei weitere Offiziere aus Fukuoka in der Stadt sind. Sofort wurde ein Treffen für alle vier vereinbart. Während des Austausches von Erfahrungen und des Schmiedens weiterer Pläne wurde ihnen klar, dass sie nicht gemeinsam die Weiterfahrt unternehmen könnten. Ein Blick auf die Frontseite der Shanghaier Zeitung überzeugte sie davon. Hier waren alle vier nebeneinander durch eine Art Fotomontage abgebildet. Außerdem lasen sie von der mißlungenen Flucht Moddes.

Die vier Offiziere machten sich Gedanken über Dr. Hack, der ihnen, jedem einzeln, so viel geholfen hatte. Er würde die volle Wucht des Ärgers der Japaner zu spüren bekommen.

Die Flucht wurde am späten Nachmittag des 20. November entdeckt. Dass fünf Offiziere innerhalb weniger Tage entfliehen konnten, hatte eine intensive Untersuchung durch das japanische Militär und die Polizei zur Folge. Zuerst wurden die fünf Offiziersburschen verhaftet. Bei dem Versuch, die Flucht zu rekonstruieren, kam die Behörde zu dem Schluß, daß Dr. Hack in seiner Eigenschaft als Dolmetscher einen großen Beitrag zum Gelingen der Flucht erbracht hat. Zusammen mit drei weiteren Verdächtigen, Hauptmann Dobenecker, Leutnant Trendel und Kriegsgerichtsrat Wegener, wurde Dr. Hack ebenfalls in das Polizeigefängnis eingeliefert. Zwei Tage später, am 22. November, kam der verärgerte und enttäuschte Leutnant Modde dazu.

Nun saßen vierzehn deutsche Kriegsgefangene im Gefängnis. Während der folgenden drei Wochen wurden alle, einer nach dem anderen, intensiven Verhören unterworfen. Die Japaner konnten sich nur eine Verschwörung vorstellen. Die Offiziersburschen waren tatsächlich ahnungslos, doch man glaubte ihnen nicht. Um Geständnisse zu erzwingen, schreckten die Japaner auch nicht vor Methoden zurück, die wir heute als Folter bezeichnen würden. So mußten sie bis zum Umfallen bewegungslos stehen. Diese Methode wurde bis zu 60 Stunden durchgeführt und hatte zur Folge, dass bei einigen hohes Fieber ausbrach, die Verhöre jedoch ohne Ergebnis blieben. Die Bilder der Entkommenen wurden in japanischen Zeitungen veröffentlicht mit entsprechender Kritik an den japanischen Behörden. Selbst die deutschfreundliche »Osaka Shimbo« nannte die Mildherzigkeit des japanischen Militärs albern und verlangte strengere Maßnahmen bei der Behandlung der Gefangenen.

Am 7. Dezember 1915 kamen die Häftlinge vor ein Kriegsgericht in Kokura, einige Meilen westlich von Fukuoka. Nach japanischer Sitte wurden sie mit Stricken gefesselt hintereinander durch die Straßen von Fukuoka geführt und in einer ausgedienten Straßenbahn transportiert. Während der Untersuchung waren sie im Zivilgefängnis untergebracht. An langen Stricken gebunden, kamen sie unter Bewachung täglich zum Gebäude des Kriegsgerichts. Der Prozeß fand am 8. Januar 1916 statt. Die Verhandlung war kurz und bündig und anders, als es die europäischen Gefangenen erwartet hätten. Das Gericht klagte Modde wegen Flucht, Dr. Hack, neun Offiziersburschen und zwei Offiziere wegen Verschwörung im Zuge des allgemeinen Ausbruchs an. Trendel und Wegener wurden für unschuldig erklärt und durften wieder ins Lager Fukuoka zurückkehren. Für die anderen fielen die Strafen hart aus. Die Offiziersburschen erhielten 3 Monate Zuchthaus, Modde 3 Jahre Gefängnis. Dr. Hack bekam die härteste Strafe: 18 Monate Zuchthaus.

Die nach Absitzen ihrer Strafe ins Lager Fukuoka entlassenen Offiziersburschen hatten Briefe von Modde und Hack mitbekommen und gaben sie den deutschen Offizieren in Fukuoka. In den Briefen wurde um Hilfe durch die deutsche Botschaft in Peking gebeten. Dr. Hack verfaßte außerdem eine Petition an das japanische Kriegsministerium. Es ist nicht gesichert, ob der deutsche Botschafter Paul von Hintze Beschwerde bei der japanischen Regierung eingereicht hat oder über die deutsche Botschaft in USA Washington bemüht hat. Aus den noch vorliegenden Dokumenten geht nicht hervor, ob überhaupt irgendeine Klage und Bitte zur Herabsetzung der Strafmaße von Modde und Hack Wirkung gezeigt hatte.

Darüber hinaus unterrichtete Dr. Hack seine Mutter über seine Lage in zwei Briefen vom 1. und 13. Februar. Weil die Briefe zensiert wurden, drückte er sich in unverfänglichen Formulierungen aus. Er bat sie, seine Freunde, Herr A. Amt und Frl. Marie Neamt zu informieren. Die Briefe wurden zensiert und durchgelassen. Mit den beiden Namen gab er seiner Mutter zu verstehen, daß er mit den Namen der Freunde das Auswärtige Amt und das Marine-Amt meinte. Dr. Hack blieb bis zum 30. Dezember 1916 im Zuchthaus. Die Japaner kürzten seine Haftzeit um 5 Monate und brachten ihn wieder ins Lager Fukuoka.

Während Hack, Modde und die Offiziersburschen unter Haft und Verhören litten, überlegten die vier Offiziere in Shanghai, welche Route sie nach Deutschland nehmen sollten. Sie besprachen drei Möglichkeiten:

  1. quer durch China, Persien und Türkei;
  2. mit Schiff über den Pazifik nach USA, dann Landroute bis zur Ostküste; von dort wieder mit Schiff nach Skandinavien; in beiden Fällen käme man nur durch neutrale Länder;
  3. direkter Weg mit der Trans-Sibirien-Bahn durch das feindliche Rußland nach Schweden, das eine Grenze zu Finnland hat, das damals russisch war.

Sachsse und Straehler wählten den zuerst genannten Weg aus, den sie gemeinsam machen wollten. Wenckstern entschied sich für den zweiten Weg, die Seeroute.

Kempe entschloß sich nach langem Überlegen für das größte Risiko, durch Rußland zu fahren. Wenn er erfolgreich sein würde, müßte er Deutschland in der kürzesten Zeit von 20 bis 25 Tagen erreichen. Er war sich bewußt, daß die russische Kontrolle sehr streng ist. Er mußte also einen illegalen Paß besitzen. Nach langem Suchen fand er einen Norweger in Diensten des chinesischen Zolls, der ihm seinen Paß für 500 Dollar (vermutlich China-Dollar) verkaufte. Der Paß enthielt offizielle Stempel und Unterschriften der russischen, schwedischen und norwegischen Botschaften in Japan. Nun mußte nur noch sein Photo eingesetzt werden. Gegen einen kleinen Betrag fertigte es ein guter Fälscher an.

Am 11. Januar 1916 reiste Kempe mit der Bahn über Peking, Mukden nach Harbin, das damals russisch war. Hier bestieg er den Expreßzug nach St. Petersburg und bezog ein Abteil, das für die nächsten 10 Tage sein Domizil sein sollte. Plötzlich ging die Abteiltür geräuschvoll auf, und ein Mitreisender trat ein. Kempe stellte bestürzt fest, dass der Mann so aussah wie diejenigen, aus dessen Land er gerade entflohen war. Der Fremde lächelte ihn an und setzte sich ihm gegenüber hin. Der Gedanke, mit einem Japaner die nächsten Tage und Nächte zu verbringen, bereiteten Kempe große Sorge. Was wäre, wenn er in einem unbedachten Moment, z. B. während des Schlafes, ein deutsches Wort fallen lassen würde? Er ging zum Schaffner und bat ihn, dem Japaner ein anderes Abteil zu geben, zumal dieser offenbar eine höhere Position hatte und von mehreren Bediensteten betreut wurde, die während der Reise immer störend ins Abteil kommen könnten. Es half aber nichts, er mußte sein Abteil mit dem Japaner teilen.

Nach Stunden gemeinsamer Reisen durch das winterliche Rußland wurde das Schweigen gebrochen, und es kamen die unausweichlichen Fragen nach dem Woher und Wohin. Kempe bemühte sich so wortkarg wie möglich zu sein. Er gab sich als Geschäftsmann aus. Damit gab sich aber der Japaner nicht zufrieden und fragte weiter nach der Art des Geschäftes. Kempe mußte sich schnell etwas einfallen lassen. "Öl", antwortete er. Die Reaktion des anderen war unerwartet. "Öl, wunderbar!", rief er aus, "Öl, was für Öl?" Kempe erwartete eine ähnliche Frage, aber nicht mit so großem Interesse. Er antwortete so langsam wie möglich: "Rohöl, Petroleum und Gasolin". Dabei schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, was wäre, wenn der Japaner mehr Einzelheiten über Öl wissen wollte, als ihm selbst bekannt ist. Aber der Japaner fragte dann nach Namen der Ölfirmen, und bei welcher Firma er beschäftigt ist. Er entgegnete, daß er bei der "Norwegian Oil Co." war und betonte besonders das Wort "war", wobei er fortfuhr und erklärte, daß die chinesische Regierung sich später für die "American Standard Oil" entschieden hätte und er deswegen übergewechselt wäre zur Handelsschiffahrt. Damit gab sich der Japaner zufrieden und lud Kempe zum Essen im Speisewagen ein. Er selbst stellte sich als Direktor einer russisch-japanischen Bergwerksgesellschaft vor. Im Speisewagen erfuhren sie vom Ober, dass die anderen Mitreisenden Briten, Franzosen und Russen waren. Mit Befriedigung stellte Kempe fest, daß zum Glück kein Norweger dabei war.

Während der nächsten Tage kamen sich Kempe und der Japaner näher. Gemeinsam beobachteten sie hinter dem Fenster des warmen Abteils die vor Kälte erstarrte weiße Landschaft, die an ihnen vorbeizog. Mit der plötzlichen Frage: "Können Sie mir ein Schiff verkaufen?", wurde Kempe aus seinen Gedanken gerissen. In sachlichem Ton erkundigte sich der Japaner weiter, weil Kempe doch in dem Geschäft tätig ist. Dieser hatte sich sofort wieder in der Gewalt und fragte mit breitem Lächeln nach Typ und gewünschter Tonnage, zog dabei einige Papierbögen aus der Tasche und begann darauf zu kritzeln. Er hoffte mit einem immensen Preis den Japaner von seiner Absicht abzubringen, indem er die genannte Schiffstonnage einfach mit 1 000 multiplizierte. Das Resultat machte aber den Japaner unerwartet zufrieden. Sofort schlossen sie den Handel mit einem festen Händedruck ab. Der entflohene Kriegsgefangener hat also auf der Fahrt durch Sibirien einen nicht existierenden Frachter von 6000 t an einen Japaner verkauft.

Der Rest der Reise verlief ohne unerwartete Vorkommnisse. Einmal wollte ein den Japaner begleitender Sekretär hören, wie sich die Muttersprache von Kempe anhörte. In Shanghai hatte sich Kempe nur einige norwegische Worte eingeprägt. Es war die erste Zeile der norwegischen Nationalhymne. Er erfüllte also die Bitte, indem er die Zeile deutlich und langsam zitierte. Der Japaner lächelte dankbar und wiederholte die Worte.

Der Zug kam nach zehn Tagen Fahrt in St. Petersburg an, wo sich Kempe und die Japaner trennten. Nun stand noch die letzte Hürde an der russisch-schwedischen Grenze bevor. Es war der 25. Januar 1916. Einige Kilometer vor der Grenze hielt der Zug. Russische Beamte kamen und baten alle Reisende in ein Holzhaus, wo auf im Rechteck aufgestellte Tische mehrere Stapel Fragebögen lagen, die ausgefüllt werden mußten. Kempe beantwortete jede Frage mit einer erfundenen Lüge. Die Frage nach "Sprache" beunruhigte ihn. Er schrieb mit unsicherer Hand "Englisch" in der Hoffnung, dass man ihn als zweisprachige Person einschätzen würde. Dann wurde sein Name aufgerufen. Er folgte einem breitschultrigen Polizisten in ein Nachbarzimmer, in dem ihn einige Uniformierte mit starrem Lächeln anblickten. Nun schien ihm doch, so nahe an der schwedischen Grenze, die Zuversicht zu verlassen. Ein Satz, auf norwegisch an ihn gerichtet, würde ihn als Betrüger entlarven und ihn für mehrere Jahre ins Gefängnis bringen.

Ein Mann mit Kneifer bat ihn, sich zu setzen und begann mit der Befragung. Kempe konnte nicht das ungute Gefühl unterdrücken, daß sein Gegenüber die Wahrheit über ihn wußte. Der Russe fragte ihn über Shanghai, seine Geschäftskontakte, nach Namen von verschiedenen Personen. Die Befragung schien kein Ende nehmen zu wollen, und der Russe wurde immer beharrlicher. Doch plötzlich geschah das Unerwartete. Der Russe sah auf die Uhr, klappte den Ordner mit dem Fragebogen von Kempe zu, gab ihm seinen Paß und rief: "Der Nächste!". Das war das erlösende Wort für den überraschten und glücklichen Kempe. Noch nie war ihm dieses Wort so kostbar gewesen, denn es bedeutete für ihn die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches.

Achtzehn Tage, nachdem er Shanghai verlassen hatte, betrat Oberleutnant Kempe deutschen Boden und war einige Wochen später auf dem Wege zur Westfront. Bei Kriegsende kam er als Hauptmann zurück in die Heimat.

Während Kempe die penible Prüfung der russischen Grenzkontrolle durchstand, war Wenckstern noch immer in Shanghai damit beschäftigt, ein Schiff zu finden, das ihn nach USA bringen würde.

Sachsse und Straehler dagegen hatten sich inzwischen die Pässe von zwei deutschen Schullehrern besorgt mit dem Eintrag, eine längere Studienreise durch China zu unternehmen. Die Pässe erhielten sie beim deutschen Konsulat in Shanghai. Sie hatten zwei Lehrern gehört, die früher an der deutschen Schule in Tsingtau tätig waren und inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt waren. Um nicht besonders aufzufallen, reiste Straehler vorab im Dezember nach Nanking, wo sich die beiden trafen und die lange Reise antraten. Sachsse hatte sich in Shanghai an Hand gegenwärtiger Literatur über China und Zentralasien kundig gemacht. Sie kleideten sich so ein, dass sie, außer an ihren Gesichtern, kaum von normalen chinesischen Reisenden zu unterscheiden waren. Sie trugen kurze, wattierte Jacken und Hosen, darüber lange, schwarze Mäntel aus Schafsfell und Pelzmützen auf dem Kopf.

Sie planten, erst mit der Bahn zu fahren, dann mit Pferd oder Esel durch Afghanistan, Persien und Türkei zu reisen. Mit finanzieller Unterstützung durch das Konsulat und Bekannte heuerten sie als Helfer zwei deutsch sprechende Chinesen an. Am 23. Januar fuhren beide mit ihren Helfern von Nanking ab, ausreichend mit Proviant und allem Nötigen versehen. Nach dreitägiger Bahnfahrt besorgten sie sich an der Endstation drei Esel mit Tragsitzen, damals ein übliches Transportmittel für Reisende in China.

Die folgenden 28 Tage gestalteten sich als mühselig. In jedem Dorf, das sie betreten wollten, mußten sie erst dem Dorfältesten ihre Visitenkarten zeigen, bevor sie in einem Gasthof Unterkunft nehmen durften. Diese Gasthöfe ähnelten eher Karawansereien im Mittleren Osten mit Wasserstelle für Kamele. Zum Heizen und Kochen wurde Pferdemist verwendet, der beim Verbrennen einen unangenehm riechenden Qualm erzeugte, der sich mangels Rauchabzug im Inneren der Unterkunft verbreitete. Da sich die Eselsänften nicht besonders praktisch erwiesen, suchten Sachsse und Straehler erst nach Eselkarren, stiegen dann aber auf Pferde um.

Im März zogen sie durch die Mongolei, sahen in der Ferne die Große Mauer und durchquerten die Wüste Gobi. Es wurde Mitte April, als sie zur Oase Karaschar in der Provinz Sinkiang (Xinjiang, westlichste Provinz Chinas) gelangten. Der dortige Stammesältester riet ihnen von der Fortsetzung ihrer Reise ab. Nach seiner Ansicht würde sie im Unglück enden. Trotz seiner Einladung, eine Woche in Karaschar zu bleiben, trauten sie ihm nicht. Seine vagen Erklärungen und sein eigenartiges Benehmen brachten Sachsse und Straehler dazu, sofort umzukehren und nach Turfan zurück zu reiten, wo sie sich etwa 10 Tage vorher ausgeruht hatten. In Turfan erfuhren sie, warum sie in Kaschgar gewarnt wurden. Anscheinend hatte die russische Botschaft in Peking das chinesische Außenamt darüber informiert, dass einige Deutsche, Österreicher und Türken auf dem Wege nach Sinkiang wären, um dort die muslimische Bevölkerung zu einem Aufstand aufzuwiegeln. Daraufhin hatte Peking alle Provinzbeamten aufgefordert, Reisen von Verdächtigen zu unterbinden. Sachsse und Straehler mit ihren deutschen Pässen zählten dazu. Sie durften nun nicht mehr ihre Reise fortsetzen und entschlossen sich, nach Shanghai zurückzukehren.

Wieder führte sie ihr Weg durch die flimmernde Hitze der Wüste. In Lanchow (Lanzhou, Hauptstadt der Provinz Gansu) hörten sie von lokalen Aufständen. Deswegen nahmen sie erst ein Floß und dann ein Segelboot und fuhren auf dem Gelben Fluß, der sie in seinem Verlauf im großen Bogen nach Norden um das unsichere Gebiet brachte. Auf der ersten Bahnstation, die sie erreichten, bestiegen sie einen Zug, der sie über Peking wieder nach Shanghai brachte. (Anmerkung: Um eine vage Vorstellung von den dortigen Entfernungen zu geben: von Turfan bis Lanzhou ca. 1500 km, Umweg über Gelben Fluß Richtung Peking etwa 1000 km). Sechs Monate nach Antritt ihrer Reise waren sie am 6. Juni 1916 wieder am Ausgangspunkt angekommen.

Obwohl sie erschöpft waren, gaben sie die Absicht nicht auf, Deutschland zu erreichen. Nun wollten sie es per Schiff nach USA versuchen. Bevor sie auf zwei verschiedene Schiffe gingen, verabredeten sie, sich in New York wieder zu treffen. Sachsse fuhr als 4. Offizier auf dem alten Dampfer "Justin" und hatte, die Fahrt betreffend, das angenehmere Los gezogen. Während der 24 Tage dauernden Überfahrt war er nur verpflichtet, pünktlich zum Essen zu erscheinen. Als die "Justin" schließlich in Seattle festmachte, verließ er schnell das Schiff und bestieg einen Zug nach Chicago, wo er einige entfernte Verwandte besuchte.

Straehler heuerte als holländischer Steward auf einem norwegischen Tanker an, der nach San Francisco fuhr. Im Gegensatz zu Sachsse mußte er sich die Überfahrt verdienen und den Mitgliedern der Besatzung ständig zu Diensten sein. Nach Verlassen des Schiffes schwor er, sich nie wieder als Steward auszugeben.

Beide trafen sich in New York und suchten nun gemeinsam einen Weg, endlich die Heimat zu erreichen. Es vergingen dabei mehrere Wochen, immer auf der Hut vor englischen Agenten. In dieser Zeit war ihnen auch bekannt, dass das deutsche Handels-U-Boot "Deutschland" gerade die USA erreicht hatte, mit dem sie Verbindung hätten aufnehmen können. Aber in letzter Minute entschieden sie sich für ein norwegisches Schiff. Viel später erfuhren sie, dass das U-Boot auch den Auftrag hatte, sie mit zurückzunehmen. Ein schwedischer Steward half ihnen, als Passagiere auf dem norwegischen Passagierdampfer "Bergensfjord" unterzukommen. So reisten sie als normale Passagiere, nahmen an den Mahlzeiten teil, beteiligten sich an den Bordspielen, wozu manchmal auch (welch' Ironie!) das Beobachten von U-Booten zählte.

Nach Erreichen von Kirkwall auf den Orkney Inseln kamen britische Marine-Beamte an Bord und durchsuchten das Schiff. Sachsse und Straehler waren darauf vorbereitet und versteckten sich in der Schiffswäscherei unter einem Stapel von Matratzen und Bettüchern, wo sie 26 ungemütliche Stunden zubrachten. Leider wurden sie von einem norwegischen Steward an die Beamten verraten. Für sie war es ein erniedrigendes Gefühl, vor den Augen der gut gekleideten Erste-Klasse-Passagiere eine körperliche Durchsuchung über sich ergehen lassen zu müssen. Beide wurden abgeführt und in das Internierungslager für Zivilisten auf der Isle of Man im äußersten Süden Englands eingeliefert. Sie hüteten sich mit Erfolg davor, ihre wahre Identität als Marine-Offiziere preiszugeben. Sie erfanden eine Geschichte als harmlose Angehörige der Handelsschiffahrt. So erfreuten sie sich wenigstens daran, als Zivilisten behandelt zu werden statt als Kriegsgefangene. Hier endete ihr abenteuerlicher Fluchtweg, der sie fast um den ganzen Erdball geführt hat, letztlich aber ohne Erfolg blieb.

Als Sachsse und Straehler um die Jahreswende 1915/1916 von Shanghai aus ihre Landroute antraten, suchte Wenckstern noch immer nach einem Schiff, das ihn nach Amerika bringen sollte. Endlich, am 3. Februar, wurde seine lange Suche belohnt durch einen schwedischen Kapitän eines amerikanischen Segelschiffes. Er übernahm Wenckstern als zusätzlichen Passagier. Dieser hatte inzwischen seinen Namen in Gustav Soederbom geändert. Der Segler, die "Hugh Hogan", war ein altes, baufälliges Schiff von 65 m Länge und 11 m Breite, das früher an den Küsten von Amerika entlang segelte. Der Zustand des Schoners war kaum geeignet, Vertrauen in seine Seetüchtigkeit zu wecken. Wenckstern war sich darüber im Klaren, hatte aber keine andere Wahl und nahm die Gefälligkeit des Kapitäns dankbar an, der ihn nicht nach Herkunft und Absicht fragte. Auch die Schiffsbesatzung zeigte eine ähnliche Diskretion. Es herrschte fast ein stillschweigendes Abkommen, sich nicht für die frühere Tätigkeit des Anderen zu interessieren. Auf der Fahrt über das Meer entdeckte Wenckstern fünf weitere Deutsche. Sie gehörten einer deutschen Firma in Shanghai an, deren Fracht auf dem Schiff war. Sie bestand aus 200 t Trockeneigelb für Seattle. Die Deutschen hofften ebenfalls, über Amerika nach Deutschland zu gelangen.

Die Seereise entpuppte sich von Anfang an als zweifelhaft. Bereits nach einigen Tagen flaute der Wind plötzlich ab, und die Meeresströmung zog das Schiff in Richtung chinesische Küste zurück. Der Kapitän C. H. Forest, der seit vielen Jahren die Weltmeere befahren hatte, sah es nicht als schlechtes Omen an. Er wartete, bis der Wind wieder aufkam und brachte den Segler auf Kurs nach Osten. Am 20. Februar entwickelte sich die Brise zu einem heftigen Orkan. Die dunklen Wolken verwandelten den Tag zur Nacht. Turmhohe Wellen schlugen auf die "Hogan" ein. Dabei zerbrach das Ruder und machte das Schiff manöverierunfähig. Es schwankte steuerlos auf der aufgewühlten See. Einige Seeleute zogen sich unter Deck zurück und erwarteten das Schlimmste. Die Mutigeren bastelten aus einigen Holzplanken ein Behelfsruder und versuchten damit den Naturgewalten zu trotzen. Schließlich, nach zwei Tagen, ebbte der Sturm ab, so dass sie das Hilfsruder befestigen konnten. Teilweise hatten sie Erfolg. Nur bei leichter Brise funktionierte die Steuerung, aber nicht bei stärkerem Wind. Ein richtiger Kurs war damit nicht einzuhalten. Das Schiff schlingerte im Zickzack über das Meer, ganz dem Wind und der Meeresströmung ausgeliefert. Der Proviant, ausreichend für 40 Tage bei einer geschätzten Fahrtdauer von 30 Tagen, wurde immer knapper. Auch der Vorrat an Frischwasser ging langsam zu Ende. Die niedergeschlagenen Seeleute konnten nur noch den Auf- und Untergang der Sonne beobachten. Tage wurden zu Wochen.

Aber eines Tages erscholl der Ruf vom Ausguck: "Land in Sicht!". Am Horizont tauchte die Küste von Kalifornien auf. Am 3. April, nach 61 Tagen auf See, nahm ein kleines Schiff, das die schwachen SOS-Signale der "Hogan" aufgefangen hatte, den Schoner in Schlepp bis vor San Francisco. Ein seetüchtiger Dampfer übernahm den Segler und brachte ihn in den Hafen. Hier wartete bereits eine Gruppe von Reportern, die von der Überfälligkeit der "Hogan" gehört hatten und nun die Seeleute nach ihren Erlebnissen fragen wollten.

Wenckstern beeilte sich wegzukommen. Er schulterte seinen Rucksack und verschwand im nächstliegenden Hotel, um sich zu erholen. Er wechselte wieder seinen Namen und nannte sich nun Olaf Olsen. Nachdem er einige Tage in San Francisco geblieben war, trat er die Reise durch die Staaten an. Unterwegs unterbrach er seine Reise mehrmals. Nach zwei Monaten traf er in New York ein. Hier gab er sich als Holländer mit Namen Charles Wind aus. Als neutraler Holländer ging er auf ein dänisches Schiff, mit dem er Deutschland zu erreichen hoffte. Leider war es Wenckstern nicht bekannt, dass der Kapitän die Seeblockade der Briten durchbrechen wollte, um seine Fracht nach Deutschland zu bringen. Die Briten reagierten bei Kaperung neutraler Schiffe mit Internierung der neutralen Schiffsbesatzung. Am nördlichsten Punkt von Schottland, bei den Orkney-Inseln, stoppten britische Marine-Beamten das dänische Schiff und nahmen es in Beschlag. Wenckstern, der angeblich ein Holländer war, wurde auf die Isle of Man in das dortige Lager für Zivilinternierte gebracht. Das Glück hatte ihn nun endgültig verlassen.

Anders als Sachsse und Straehler, die später in das Lager kamen und dort blieben, gab Wenckstern seine wahre Identität bekannt und wurde daraufhin in ein Kriegsgefangenenlager für Offiziere nach Maidenhead bei London gebracht. Hier simulierte er, an Neurasthenie (Psycho-Vegetations-Syndrom) erkrankt zu sein. Die Engländer schickten ihn zum Auskurieren in die Schweiz. Wenckstern blieb dort bis zum Ende des Krieges.

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4. Geldquellen

Die hier bisher geschilderten "großen" Fluchtversuche konnten ohne ausreichende Geldmittel nicht bewältigt werden.

Die finanzielle Lage der Gefangenen war unterschiedlich. Karl Vogt (Gefangener im Lager Kumamoto, dann Kurume) schreibt in seinem Buch »Aus der Lebenschronik eines Japandeutschen«, dass jeder Gefangene gemäß seinem Dienstgrad wie im japanischen Heer besoldet wurde. Für Mannschaften waren es 3 bis 4 Yen im Monat, die größtenteils für eine ausreichende Verpflegung ausgegeben werden mußten. Die Offiziere bezogen ein Monatsgeld, z. B. 40 Yen für einen Leutnant. Vogt gibt dafür ein Beispiel für die Verwendung: Für Verpflegung 18 Yen, für den Offiziersburschen 7 Yen, für Wäsche 5 Yen. Für Sonstiges blieben demnach 10 Yen übrig. Damit ließ sich schon etwas anfangen, vor allem, wenn man für einen bestimmten Zweck von Anfang an sparte.

Die Firma Siemens-Schuckert, Berlin, hatte seit dem 19. Jahrhundert (1861) gute Handelsbeziehungen zu Japan. Dazu gehörte auch das japanische Kriegsministerium. Die Hauptfiliale befand sich in Tokyo und setzte sich sofort nach dem Fall von Tsingtau für das Wohlergehen der deutschen Gefangenen ein. Der langjährige Leiter des Büros, Hans Drenckhahn, nutzte seine bestehenden guten Kontakte zum Außen- und Kriegsministerium in Tokyo zum großen Vorteil der Gefangenen. Als leitendes Mitglied des neu gegründeten "Hilfsausschusses Tokyo" (HA-Tokyo) koordinierte er die gemeinsame Arbeit mit den Hilfskommitees in Yokohama und Kobe. Er hatte die Erfahrung und die notwendigen Beziehungen, um monetäre Transfers zwischen Deutschland und Japan durchzuführen. So übernahm Siemens die Organisation der Überweisungen von Privatpersonen aus Deutschland für die Kriegsgefangenen. Dasselbe traf auch zu für die Deutschen in Shanghai und Tsingtau. Ein großer Teil der finanziellen Hilfe wurde für den Zukauf von Lebensmitteln verwendet. Zu Weihnachten und zum Geburtstag des deutschen Kaisers verteilte der HA Geldspenden an die Mannschaften.

Das folgende Beispiel soll zeigen, in welchem Ausmaß sich der HA-Tokyo für die Beschaffung von Geldmitteln einsetzte: Da den gefangenen Offizieren das ihnen zustehende Monatsgeld in den ersten Wochen nicht gleich zur Verfügung stand, gewährte ihnen der HA ein Darlehen von 72 000 Yen. Hierfür nahm der HA über die Firma Siemens in Japan Gelder auf und bot als Sicherheit deutsche Immobilien in Tsingtau. Durch Umfrage unter den Gefangenen konnten Immobilien im Wert von 100 000 Mark gefunden werden. Die Rückzahlung und Löschung der Hypotheken sollte über das Stammhaus von Siemens in Deutschland erfolgen. Gefangene mit nur geringem Bargeld erhielten vom HA einen Zuschuß, um ihre Verpflegung ergänzen zu können. Darüber hinaus half der HA mit großen Lebensmittellieferungen.

Der Gemeinsinn bei den Gefangenen ermöglichte den weniger Bemittelten, auch Barmittel von den Begüterten zu bekommen, oder sie ließen sich für Dienstleistungen bezahlen. Die vier Offiziere, deren Flucht über die Kontinente führte, hatten, hatten außer ihrem eigenen "Startgeld" Zuwendungen von den deutschen Gemeinden (z. B. Shanghai) erhalten, als sie dort eintrafen. Anders wäre die aufwendige "Karawanenreise" von Sachsse und Straehler nicht vorstellbar gewesen.

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5. Weitere Fluchtversuche

Die ersten Gedanken an Flucht kamen bereits auf, als die Gefangenen in 4 alten Frachtdampfern auf dem Wege nach Japan waren.

Auf einem dieser Schiffe, der "Daito Maru", stellten die Gefangenen fest, dass sie nur von 9 Japanern bewacht wurden. Auf dem zweiten Schiff, der "Satsuma Maru", waren es 16, die nicht einmal ihre Gewehre bei sich hatten. Diese standen für alle sichtbar in einer Reihe an der Wand des Hauptkorridors. Die "Bewacher" zogen sich in ihre Kajüte zurück, wo sie Tee tranken, aßen und schliefen.

Diese Situation bot den z. T. see-erfahrenen Gefangenen, vor allem den jüngeren Offizieren unter ihnen, eine Möglichkeit, sich einen Fluchtplan zu überlegen. Eine ähnliche Absicht hatte auch eine Gruppe auf der "Daito Maru", wo ebenfalls unter den Offizieren Männer waren, die sich in der Navigation auskannten. Auf beiden Schiffen waren die Fluchtpläne ähnlich: Schiff in ihre Gewalt bringen, nach Süden wenden und Kurs auf Shanghai oder Manila nehmen, von dort weiter nach Europa. Auf dem dritten Dampfer, der "Indo Maru", wollte man ähnlich vorgehen, jedoch mit dem Schiff in die Südsee reisen, um sich dort in die deutsche Ostasienflotte einzugliedern.

Die Pläne schienen für die jungen Offiziere durchführbar zu sein. Als sie aber in letzter Minute ihre älteren Kameraden und Rang höheren Offiziere über ihre Pläne unterrichteten, rieten diese dringend davon ab. Sie waren nämlich am Beginn der Fahrt von den Japanern informiert worden, dass die Schiffe an bestimmten Stellen zur Sprengung vorbereitet waren, so dass jeder Versuch einer Meuterei zur Vernichtung der Schiffe führen würde. Die Fluchtpläne zerschlugen sich vollends, als plötzlich japanische Kriegsschiffe in Sicht kamen.

Die behelfsmäßige Unterbringung der Gefangenen in Japan ließ vermuten, daß die Japaner nur ungenügend auf das Eintreffen der Gefangenen vorbereitet waren. Die Enge in den Notunterkünften, z. B. Tempel, die schlechten hygienischen Zustände usw. waren bedrückend. Aber allein das Gefühl, nun hilflos hinter Stacheldraht eingesperrt zu sein, ließ bei einigen den Gedanken an Flucht aufkommen.

Fluchtversuche wurden aus verschiedenen Lagern gemeldet. So viel mir hierüber Unterlagen vorliegen, führe ich sie nachfolgend auf.

Mannschaftslager Fukuoka

Die fünf Offiziere, deren abenteuerliche Flucht hier beschrieben wurde, kamen alle aus dem Offizierslager Fukuoka. Das Mannschaftslager war etwa 1 km davon entfernt. Dort waren die Gefangenen in alten, leer stehenden und baufälligen zweistöckigen Holzhäusern untergebracht, die entlang einer Straße aufgereiht standen.

Artilleristenmaat Karl Krüger beschreibt in seinem Buch "Von Potsdam nach Tsingtau" einen Fluchtversuch von 6 Matrosen-Artilleristen aus dem Mannschaftslager, wo auch er bis September 1915 Gefangener war. Danach kam er ins Lager Narashino. Die Flucht nahm eine lange Vorbereitungszeit in Anspruch, mußte aber eigentlich von Anfang an als aussichtslos, weil zu phantastisch betrachtet werden.

Die sechs jungen Maate hielten ihren Plan vor den anderen Kameraden geheim. Wochenlang sammelten sie Lebensmittel. Aus der Kantine "besorgten" sie sich ein leeres Bierfaß zur Aufbewahrung von Frischwasser. Aus Holz bastelten sie echt aussehende Dolche und Pistolen. Sie planten, nach Verlassen des Lagers den naheliegenden Fluß (100 m breit) zu durchschwimmen und am anderen Ufer eines der dort vertäuten Boote zu holen und es mit Proviant und Wasser zu beladen. Danach wollten sie sich mit dem Boot zur Flußmündung treiben lassen gegen ein dort ankerndes Schiff, das sie einige Tage vorher ausgemacht hatten. Dann hofften sie, unbemerkt an Bord zu kommen und die überraschte Mannschaft mit ihren vorgetäuschten Waffen einzuschüchtern. Sollte dies nicht gleich gelingen, wollten sie mit einer Handvoll Pfeffer in die Augen sie hilflos machen, um sie fesseln und einsperren zu können. Mit dem auf diese Weise gekaperten Schiff beabsichtigten sie, die Küste Chinas zu erreichen. So hatten sie ihr waghalsiges Unternehmen geplant.

Aber schon in der ersten Nacht war ihr Plan gescheitert, als sie von den Wachtposten, die im Lager ihre nächtlichen Runden machten, beim Beladen des Bootes erwischt wurden. Sofort liefen sie auseinander und verschwanden in der Dunkelheit in verschiedene Häuser des Lagers. Die Wache konnte keinen von ihnen verhaften. Das Befragen der ganzen Mannschaft am nächsten Tag brachte kein Ergebnis, weil alle "dicht hielten". Es verstrichen einige Tage, bis der Lagerkommandant wahllos zwei Männer herausgriff und einsperren ließ. Er gab bekannt, dass die beiden so lange in Haft bleiben, bis sich die Schuldigen gemeldet haben. Nun fühlten sich die sechs Maate veranlaßt, etwas zu unternehmen. Sie entschieden sich für das Los. Dazu wurde gewürfelt. Die beiden, die die kleinste Augenzahl erwischten, sollten sich stellen. So meldeten sich zwei von ihnen, die sofort verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt wurden. Die anderen wurden aus dem Arrest entlassen. Das Kriegsgericht verhängte für die zwei Gemeldeten je 2 Jahre Zuchthaus. Nach etwa einem Jahr wurden sie begnadigt und kamen ins Lager zurück.

Lager Kumamoto

Das Lager befand sich in einem Tempel und war nur mit einem einfachen Bambuszaun umgeben. Am 24. 1. 1915, es war gegen 22 Uhr, entwichen die drei Vizefeldwebel Karl Rappenecker, Johannes Busch und Eduard Zeiss sowie ein Deckoffizier. Sie marschierten während der Nacht 20 km bis zur Küste.

Der Lagerälteste, Feldwebel Schumann, meldete früh am nächsten Morgen die Flucht, um eine Strafe wegen Mitwisserschaft des Lagers zu vermeiden. Er hatte dabei angenommen, dass seine Kameraden längst die Küste hinter sich gelassen hätten. Sie wurden aber im Augenblick des Verlassens des Ufers in einem Boot von der Polizei aufgegriffen. Man brachte sie am Abend, mit Seilen aneinander gebunden, ins Lage zurück. Ein Militärgericht verurteilte sie zu einem Jahr Gefängnis. In der Haft mußten sie die rotbraune Sträflingskleidung tragen. Aus Anlaß der Kaiserkrönung im November 1915 wurden sie Weihnachten begnadigt und kamen ins Lager Kurume.

Lager Kurume

Hier halfen Mitgefangene Kapitän Hugo Taudien, mit Bambusstangen über den Lagerzaun zu gelangen. Dabei täuschten andere mit viel Lärm eine Schlägerei vor, um die Wachen abzulenken. Während der nächsten drei Tage deckten sie sein Verschwinden beim Morgenappell. Taudien kehrte aber aus eigenem Entschluß ins Lager zurück, weil er die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens erkannte.

Aus dem Barackenlager Kurume sind noch folgende Entwichene gemeldet und nach Ergreifen der Flüchtigen bestraft worden:

Lager Tokushima

Intendantursekretär Heinrich Erdniss kam, verkleidet in einem Kimono, an Bord eines nach Kobe ausfahrenden Dampfers. Die Anlegestelle war nur 600 m vom Lager entfernt. Er wurde aber wegen seiner Größe und der stark gebogenen Nase als Fremder entdeckt. Die Strafe fiel milde aus: 14 Tage Stubenarrest.

Artilleristenmaat Rudolf Ebertz flüchtete und kam bis an die Küste und durchschwamm die Naruto Enge, trotz starker Strömung. Auf einer Insel ruhte er sich aus und legte seine Kleider zum Trocknen ab. Man erkannte ihn an seiner hellen Haut und brachte ihn einige Tage später ins Lager zurück. Auch seine Strafe war relativ gering: 2-3 Wochen Arrest.

Lager Matsuyama

Auch Seesoldat Paul Metzner wollte nach einem Morgenappell in Verkleidung entkommen. Er legte sich einen japanischen Umhang um die Schultern und setzte Hut und Brille auf. Aber bereits nach zwei Kilometern fiel er Japanern aus der Nachbarschaft auf und wurde bei der Polizei angezeigt.

Seesoldat Fritz Rode hatte größeres Pech. Beim Übersteigen des Heckenzauns hatte er eine Bambusstange zerbrochen. Die Beschädigung fiel der Wache auf und so wurde um 21 Uhr nochmals zum Zählappell befohlen. Die Wachen suchten danach die umliegenden Reisfelder ab, konnten aber Rode bei Dunkelheit nicht entdecken. Außerdem regnete es stark. Am nächsten Tag gegen 16 Uhr hieß es, daß Rode am Horinji Wald gefaßt wurde. Mit einem Boot wollte er seine Flucht über den Fluß fortsetzen, wurde aber dabei eingefangen. Wegen Beschädigung des Lagerzauns, Diebstahl von Obst und Entwenden eines Bootes - alles strafverschärfende Taten - wurde Rode zu 2 Jahren Zuchthaus bestraft.

Lager Osaka

Marine-Stabszahlmeister Max Artelt wurde als "Ausbrecherkönig" bekannt, weil er 3 Fluchtversuche unternommen hatte. Bereits auf dem Dampfer "Daitu Maru", auf dem er als Gefangener nach Japan gebracht wurde, schloß er sich der Gruppe junger Offiziere an, die das Schiff übernehmen wollten. Mit dem Erlernen der japanischen Sprache fing er sofort im Lager an. Im Frühherbst 1915 flüchtete er das erste Mal in japanischer Kleidung, kam aber nach kurzer Zeit von sich aus zurück. Dieser Ausbruch blieb unbemerkt. Trotz Überwachung und Zensur der Gefangenenpost gelang es manchmal, die Zensur zu überlisten. So hatte Artelt zur Vorbereitung seines weiteren Vorhabens seiner in Tientsin, China, lebenden Frau versteckte Nachrichten zukommen lassen. Er hatte mit ihr vereinbart, daß bei äußerlich harmlosem Text jedes 5. Wort eine besondere Bedeutung hatte. z. B. hatte eine Karte an sie folgenden Wortlaut:

"Liebe gute Lotte!
Habe die Litevka heute im Paket abgeschickt. Wende den unteren Teil. Die in die Deckel gehüllten reizenden niedlichen Bilder des Malers Ludwig Richter verteile an die Kinder. Das eine Dorf finde ich niedlich. Herr Müller hält Richter für einen geschickten Maler. Margot wird des Buches froh sein. Herr Nürnberger befindet sich wohl. Er hat sich über das Paket gefreut. Wichtigeres habe ich heute nicht. Brief folgt. Schluß! Ich grüße und küsse Dich in herzlicher Weise."

Jedes 5. Wort ergibt folgende Nachricht:
"Im unteren Deckel des an Dorfmüller geschickten Buches befindet sich wichtiger Brief."

Für seinen zweiten Fluchtversuch im Oktober 1915 grub er von einer Materialbaracke aus einen Tunnel unter den Lagerzaun. In japanischer Kleidung konnte er an Militärposten und Polizisten vorbei in einer Rikscha bis zum Bahnhof von Osaka gelangen. Er fuhr mit der Straßenbahn nach Kobe, übernachtete dort in einem japanischen Gasthof und nahm die Eisenbahn nach Shimonoseki. Bei einer weiteren Übernachtung verrieten ihn seine Schuhe mit der deutschen Firmenmarke. Beim Betreten des Dampfers nach Pusan (Korea) wurde er verhaftet und ins Lager zurück gebracht. Dort erhielt er nur 4 Wochen Arrest.

Durch die Verbindung mit seiner Frau war es ihm gelungen, ein kleines seetüchtiges Schiff von China nach Japan in die Nähe des Lagers bei Osaka zu dirigieren und 1000 Yen in einem Bucheinband ins Lager zu schmuggeln. Gemeinsam mit dem österreichischen Hauptmann Rudolf von Moraweck, Vizefeuerwerker Maximilian Esterer und dem Hauptmann Otto Schaumburg grub er von einer am Wasser gelegenen Baracke einen Stollen zu dem in Lagernähe fließenden Fluß Kisugawa. Von dort wollten sie auf das bestellte Schiff kommen. Inzwischen hatten Schaumburg die Vorarbeiten zu lange gedauert. Er schickte eine Ansichtskarte an die in China befindlichen Helfer. Dazu hatte er die Karte aufgeschnitten und auf der Innenseite Mahnungen zur Beschleunigung geschrieben, sie wieder zugeklebt und in den Lagerbriefkasten gesteckt. Leider weichte die Karte bei feuchtem Wetter auf, so dass der Zensor den geheimen Inhalt lesen konnte. Moraweck, Esterer und Schaumburg erhielten 4 Wochen Arrest. Artelt geschah nichts, weil sein Name auf der Karte nicht erwähnt war. Im Februar 1917 wurde das Lager nach Ninoshima verlegt, einer kleinen Insel in der Inlandsee.

Lager Ninoshima

Dort war die Unterbringung wesentlich schlechter als in Osaka. Die Aussicht auf das Meer war durch eine hohe Bretterwand versperrt. Im Lager wurde jede Art von Unterricht untersagt. Nur durch die Fürsprache des schwedischen Pfarrers Neander, der das Lager besuchte, durfte unter Polizeiaufsicht außerhalb des Lagers ein Stückchen Land bebaut werden. Die sich verschlechternden Nachrichten aus der Heimat von der Westfront trugen dazu bei, daß die Stimmung unter den Gefangenen noch gereizter wurde.

Dies alles trug dazu bei, dass Artelt und seine 4 Kameraden sich zu einem weiteren Ausbruchversuch entschlossen. Sie bauten ein aus Bambus geflochtenes Floß, tarnten es als Laube und stellten es auf einem Acker außerhalb des Lagers auf. Die Tragfähigkeit des Floßes erhöhten sie, indem sie Luftkissen aus Fußballblasen bastelten. Aus Weinkorken fertigten sie Schwimmwesten. Kartenmaterial und Proviant wurden in der Laube vergraben. Mit diesem Floß wollten sie die 12 km entfernte Hauptinsel erreichen und sich zum nächsten Hafen durchschlagen. Dort planten sie mit einem Fischereifahrzeug nach Korea überzusetzen und dann auf dem Land- oder Seeweg nach Tientsin zu kommen.

Sie hatten gerade den Ausbruch aus dem Lager geschafft, als Alarm gegeben wurde. Bei einem getrennt unternommenen Fluchtversuch von zwei Gefangenen wurden diese entdeckt. Während dieser Suchaktion mit alarmierten Fischern und Wachpersonal, unterstützt von Scheinwerfern von der See her, wurde auch die Gruppe von Artelt in der Dunkelheit entdeckt und verhaftet. Sie erlitten erst Schläge mit Bambusknüppeln, kamen vor ein Militärgericht und wurden tagelang verhört. Das Gericht versuchte den Rädelsführer von der Gruppe herauszufinden, dem die Todesstrafe drohte und den anderen bis zu 10 Jahren Haft. Als keiner als Rädelsführer zu ermitteln war, erhielten Artelt und Esterer je 3 Jahre Gefängnis, Moraweck und Schaumburg je 2 ½ Jahre.

Bis zum 15.1.1920 blieben die Verurteilten im Zivilgefängnis von Joshijima-Machi, jeder in einem Kasten bzw. Käfig von 3,5 m Länge und Breite. Als Zeichen für Schwerverbrecher waren ihre Mützen und Beinkleider von roter Farbe. Die Zellen blieben im Winter ungeheizt. Dem erkrankten Schaumburg wollte der Hilfsausschuß Tokyo warme Wäsche zukommen lassen, aber die Gefängnisleitung untersagte es. Monatlich durfte ein Brief an Angehörige geschrieben und auch erhalten werden. Die Aushändigung der Post war jedoch unregelmäßig. Zeitungen wurden nicht zugelassen. Von Zeit zu Zeit wurden bei Gefängnisbesuchen durch Japaner, einschließlich Schulklassen, die deutschen Gefangenen als besondere Attraktion gezeigt. Die seelische Belastung war für die Gefangenen kaum zu ertragen. Weihnachten 1919 fingierte Artelt einen Selbstmordversuch, indem er sich eine Schlinge um den Hals legte, sie aber mit dem Finger unter seinem Bart festhielt und in die Knie sank. Das Gefängnispersonal steckte ihn danach in eine Zwangsjacke, und er wurde dem Gefängnisdirektor zum Verhör vorgeführt. Der Vorfall muß den Japanern peinlich gewesen sein, denn nun durfte der deutsche Pfarrer Dr. Schiller die Gefangenen besuchen. In versteckten Worten konnte er sie über die eingetretene Weltlage informieren. Wenig später erfolgte die Entlassung. Infolge des Erlittenen verfiel Hauptmann Moraweck in geistige Umnachtung.

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6. Die Auswirkung der Fluchtversuche in den Lagern

Die Fluchtwelle, verursacht durch die fünf deutschen Offiziere innerhalb einer Woche aus dem Lager Fukuoka im November 1915, sorgte in der japanischen Presse für erhebliche Aufregung und löste eine allgemeine Verärgerung in der Bevölkerung aus. Dieser Unmut richtete sich gegen das eigene Militär wegen Unvermögens, eine Flucht zu vereiteln. Auch die deutschfreundliche Zeitung "Osaka Shimpo" ermahnte die Behörden und meinte, daß die Flucht die Folge dümmlicher Milde der militärischen Dienststellen im Umgang mit den Gefangenen sei und verlangte strengere Maßnahmen.

Für die Behörden war es besonders peinlich, dass die Flucht aus dem Lager Fukuoka ausgerechnet zur Zeit der kaiserlichen Krönungsfeierlichkeiten stattfand. Sie waren immer Anlaß, Gefängnisstrafen zu reduzieren oder Amnestien zu gewähren. Der für den morgendlichen Zählappell zuständige japanische Feldwebel erhielt 20 Tage Arrest. Als Reaktion auf die Zeitungsmeldungen und die folgenden Stellungnahmen nahm der Lagerkommandant von Fukuoka, Oberstleutnant Hisayama, die Verantwortung auf sich, wurde von seiner Aufgabe entbunden und zu 20 Tagen strenger Haft verurteilt. Nach Berichten der "Japan Daily Mail" von Tokyo im Dezember 1915 beantragte Hisayama seine Entlassung aus militärischen Diensten.

Das Urteil über Hisayama erschreckte andere Lagerkommandanten. Einer von ihnen, für das Lager Kurume verantwortlich, veranlaßte eine Scheinflucht mit nachfolgender Gefangennahme. Damit wollte er sein System der Sicherheit demonstrieren. Er stiftete den japanischen Lagerfriseur dazu an, 2 möglichen Personen Gelegenheit zur Flucht zu geben. Der Friseur führte seinen Auftrag aus. Der Lagerkommandant machte aber einen Fehler. Um die Wachsamkeit seiner Posten zu erproben, informierte er auch die örtliche Polizei, ehe die "Flüchtigen" überhaupt das Lager verlassen hatten. Das Gegenteil von dem, was er erwartet hatte, folgte: Er erhielt von seinem Vorgesetzten einen Verweis.

Im Offizierslager Fukuoka wurden Maßnahmen getroffen, um weitere Fluchtversuche zu erschweren. So mußten die Offiziere einen Eid ablegen, keine Fluchtversuche zu unternehmen. Die meisten Offiziere nahmen den Eid ernst. Einige verweigerten die Verpflichtung. Daraufhin wurde die Postausgabe für einen Monat gesperrt. Briefe durften nicht geschrieben werden. Jeder Gefangene empfindet diese Anordnung als höchste Strafe, wird ihm doch jede Verbindung zur heimischen Welt abgeschnitten. Die täglichen Spaziergänge und Ausflüge wurden untersagt. Alle Gefangenen wurden photographiert. An Kopfbedeckung und Kleidung wurden Stoffstückchen mit japanischen Zeichen aufgenäht. Beim Ex-Gouverneur Meyer-Waldeck wurde keine Ausnahme gemacht. Die Nachtruhe wurde durch häufige Kontrollen gestört, Zählappelle zu den unüblichsten Tageszeiten angesetzt. Die Lagerbehörde bestimmte, daß um 21 Uhr das Licht abgeschaltet wird. Auch in anderen Offizierslagern, wie z. B. in Osaka, mußte auch der Eid geschworen werden und hatte bei Ablehnung die gleichen Folgen.

In allen Lagern, in denen Fluchtversuche gemacht wurden, hatten die Lagerinsassen unter dem Zorn der Lagerkommandanten zu leiden, indem Kollektivstrafen verhängt wurden. Diese Strafen waren alle ähnlich: Ausgehverbot, Streichung aller sonstigen "Vergünstigungen" und vor allem Postentzug.

In der Zeit bis April 1917 als China auch zum Gegner wurde, hat eine Vielzahl von Fluchtversuchen stattgefunden. Fast jede Ausgabe der "Weekly Chronicle" aus Kobe berichtete in kurzen Mitteilungen über Fluchtversuche. Die "Japan Daily Mail", Tokyo, brachte hierüber stets die neuesten Meldungen aus den Lagern Osaka, Kurume oder Shizuoka.

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7. "Einer kam bis nach Deutschland"

In meiner Jugend habe ich diesen Satz von meinem Vater gehört. Damit meinte er seinen lebenslangen Freund Heinrich Unkel.

Mir fiel bei unseren häufigen Begegnungen auf, dass Herr Unkel seinen rechten Arm stets etwas angewinkelt bewegte, was besonders beim Trinken auffiel. Als ich meinen Vater deshalb einmal fragte, erzählte er mir, daß er bei der Verteidigung von Tsingtau einen Schuß in den Ellenbogen bekam. Und dann sagte er noch, dass Herr Unkel aus einem Gefangenenlager in Japan geflohen ist und in kanadischer Offiziersuniform bis nach Deutschland kam. Hier wollte er an der Westfront eingesetzt werden. Wegen seines halbsteifen Armes wurde er aber nicht zur Fronttruppe versetzt, sondern mußte zu seiner großen Enttäuschung sich im Küchendienst mit Kartoffelschälen beschäftigen.

Mit dieser Geschichte gab ich mich zufrieden und habe Jahrzehnte lang nicht mehr daran gedacht. Als ich vor zwei Jahren an Hand der Tagebücher meines Vaters über Tsingtau und seine Gefangenschaft eine Arbeit geschrieben und beendet hatte, stellte ich fest, dass es bereits Veröffentlichungen über dieses Thema gab. Im letzten Jahr las ich in einem kopierten Auszug eines Buches den Satz "Einer erreichte sogar Deutschland". Mir fiel sofort wieder die kleine Erzählung meines Vaters über Herrn Unkel ein. Wie überrascht war ich, als ich unter den klein gedruckten Anmerkungen tatsächlich den Namen Heinrich Unkel fand!

Nun war mein Interesse erneut erwacht, und ich wollte die Spur seiner Flucht verfolgen. Dabei mußte ich aber feststellen, dass ein anderer gemeint war, nämlich der schon erwähnte Oberleutnant Paul Kempe. In den genannten Anmerkungen wurde gleichwohl die gelungene Flucht von Unkel bestätigt, jedoch nur bis China. Die Originalunterlagen liegen im Bundesarchiv Berlin. Demnach ist Unkel am Dienstag, 14. März 1916, aus dem Lager Shizuoka entflohen.

Bevor ich im Atlas zum Aufsuchen des Ortes kam, erschien in den Tagen der Fußball-Weltmeisterschaften 2002 eine Japankarte in der hiesigen Zeitung mit allen Austragungsorten. Shizuoka war einer davon. Verglichen mit den Standorten der anderen Gefangenenlagern, aus denen Fluchtversuche unternommen wurden, liegt Shizuoka an der Ostküste der japanischen Hauptinsel und damit am weitesten weg von Korea und China. Welchen Weg Unkel vom Lager aus nahm, quer durch Japan oder über See, ist nicht mehr zu klären. Er schaffte es, in 4 Tagen nach Tientsin zu gelangen (14.-18.3.1916).

Die Mitteilungen zwischen den deutschen amtlichen Stellen waren chiffriert, wie aus der Mitteilung vom Konsulat in Tientsin ersichtlich. Dort hat man auf die amtliche japanische Bestätigung aus Tokyo gewartet, um dann die Flucht an das Auswärtige Amt Berlin zu melden. Tokyo hat sich bis zum 8. Mai 1916 Zeit gelassen, um die Flucht dem deutschen Gesandten Herrn von Hintze in Peking mitzuteilen. Dabei ist der Fluchttag unrichtig angegeben, denn am 18. März war Unkel bereits in Tientsin. Generalkonsul Knipping in Shanghai schickte am 14. Mai 1916 eine Aufzeichnung von Unkel an die Gesandtschaft in Peking, die aber dort bereits aus Tientsin vorlag. Hierbei handelt es sich um einen 20-seitigen Bericht von November 1915, den Unkel noch im Lager Shizuoka mit Schreibmaschine verfaßt hatte. Auch dieser Bericht befindet sich im Bundesarchiv Berlin. Aus dem mir in Kopie vorliegenden vollständigen Bericht erwähne ich wegen der Länge nur einige Abschnitte. Insgesamt stellt er eine Beschreibung der im Lager Shizuoka herrschenden Verhältnisse dar.

Von allen Lagern ist es das kleinste mit 108 Gefangenen gewesen. Von diesen waren 67, wozu vermutlich auch Unkel zählte, in einem ehemaligen Schulgebäude untergebracht. Die Bewegungsfreiheit war sehr eingeschränkt. Die Behandlung der Gefangenen und die als ungerecht empfundenen und überzogenen Strafmaßnahmen sowie Zensur und Unterschlagung mancher Post weisen viele Parallelen zu den bereits beschriebenen Verhältnissen in anderen Lagern auf.

Die meisten der Gefangenen in Shizuoka erlitten bei den Kämpfen um Tsingtau Verwundungen oder waren bei der Gefangennahme krank. Deswegen war auch Unkel mit seinem verwundeten Arm dort. Er bemängelte die unzureichende Behandlung, ohne sich selbst als Beispiel zu nennen. Dem Lagerarzt Stabsarzt Matsura kreidete er besonders an, dass er als Allheilmittel nur mit Jodtinktur pinselte und Kampferspritzen benutzte. Zitat: "Leute, die Schüsse in die Extremitäten bekommen hatten, wurden zur Nachbehandlung massiert .... war keine Massage, sondern ein sanftes Streicheln. War nur ein Glied ernstlich verletzt, so blieb es eben steif. Maschinen, wie man sie zu Hause zur Nachbehandlung gebrochener Arme, Beine etc. hat, kennt man in Shizuoka nicht."

Auf Seite 13 erwähnt er einen Kameraden, der wegen Fluchtversuche in der Arrestzelle (genannt "Affenkasten") saß. Die Strafe erhielt er nach seinem dritten Fluchtversuch. Beim ersten Mal soll er zu Fuß bis nach Yokohama gekommen sein (geschätzte Entfernung lt. Karte 130 km). Bei den letzten zwei Versuchen kam er nicht so weit. Die Zivilkleidung hat ihm dabei auch nichts genutzt. Auf der nächsten Seite schreibt Unkel: "Man kann wohl sagen, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, von Japan infolge seiner insularen Lage wegzukommen. Es wäre wohl mittelst Kenntnis verschiedener Sprachen möglich, z. B. aus England zu fliehen, aber hier fällt schon im Frieden jeder Nichtjapaner auf. An jeder größeren Eisenbahnstation und in jedem Hafenplatz sind schon im Frieden viele Detektive aufgestellt. .... Also, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Kriegsgefangener aus Japan komme!".

Etwa vier Monate später war er selbst auf der Flucht - und hatte Erfolg. Die Zustände im Lager Shizuoka und sein unbändiger Zorn auf die Japaner müssen seinen Willen zur Flucht so gestärkt haben, dass er das Fluchtrisiko auf sich nahm. Alle anderen, denen die Flucht aufs Festland gelang, hatten eine viel kürzere Strecke zu überwinden als Unkel von der Ostküste Japans. Nichts ist darüber bekannt geworden, wie er es geschafft hatte, nichts ist dokumentiert, wie er von China nach Deutschland gelangt ist.

Dafür habe ich zwei Erklärungen. Unkel war, wie ich ihn später besser kennenlernte, ein echter Schwabe. Er stellte sich nie in den Mittelpunkt, nahm sich und seine Erfolge nicht so wichtig, um sich darüber zu äußern, weder mündlich und erst recht nicht schriftlich. Während des Krieges hat ihn in Deutschland niemand nach seinen Erlebnissen gefragt. Nach Kriegsende war er bestrebt, ähnlich wie mein Vater, so schnell wie möglich wieder nach China zu kommen, um eine Existenz aufzubauen. Trotzdem war er ein kontaktfreudiger Mensch, strahlte gute Laune aus - sein dröhnendes Lachen mit tiefer Baßstimme ist mir heute noch in guter Erinnerung. Vor allem war er ein unverwüstlicher Optimist.

In Shanghai habe ich auch seine Frau Palmira, eine Schweizerin, kennengelernt. Sie war stets ruhig und ausgeglichen. Die Ehe blieb kinderlos. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges erkrankte sie an Krebs und starb. Als China kommunistisch wurde, wich Unkel nach Hongkong aus und führte von dort aus seine Geschäfte weiter. Zwischendurch kam er nach Deutschland und besuchte dabei auch meine Eltern in Waiblingen. Diese Gegend mit den vielen Weinorten im Remstal war die Urheimat seiner Vorfahren. Hier kannte er sich aus. In seinem Stammbaum gab es einige Pfarrer, die wie er sich im Rebensaft auskannten.

Heinrich Unkel wurde am 1. Juni 1891 in Stuttgart geboren. Mit 20 Jahren ging er nach Shanghai und lernte dort meinen Vater kennen. Als Junggesellen trafen sie sich im Kreis anderer deutscher junger Kaufleute in fröhlicher Runde bei Bier und Wein. Beide meldeten sich bei Kriegsausbruch freiwillig nach Tsingtau und kamen in die gleiche Kompanie. Durch die Verwundung von Unkel waren sie in getrennten Lagern. Sie trafen sich erst 6 Jahre später wieder in Shanghai. In den vielen Jahrzehnten ihrer Bekanntschaft wurde nie das "Du" gesagt. Lange blieb es beim "Sie". Erst in den 30er Jahren sprachen sie in der dritten Person (Ihr und Euch) miteinander, trotz bewährter Vertrauensbasis. Oft hörte ich von Unkel den Ausruf "Mensch Meller!", meistens dann, wenn mein Vater eine Situation nach Ansicht von Unkel zu vorsichtig beurteilte. Die Geschichte mit dem Papagei, die ich in meinem Buch ohne Namensnennung beschrieben hatte, spielte sich bei Unkels ab. Der Spaß mit seinem Riesenkakadu war ganz nach seinem Geschmack. Dieser Vogel hatte tagelang das Trompetensignal zum Wecken der benachbarten kleinen US-Soldatengruppe gehört und eines Tages das Signal vorzeitig so genau imitiert, dass nebenan die Soldaten zur Flaggenhissung kopfschüttelnd heraustraten und ihre Armbanduhren miteinander verglichen.

Meine Eltern überraschte er mit der Nachricht, daß er am 1. 10. 1951 eine französische Witwe mit zwei erwachsenen Söhnen geheiratet hat. Sie blieb in Crest sur Drome wohnen, während Unkel in Hongkong seinen Geschäften nachging. Er gratulierte meinem Vater zum Geburtstag (8. 2.) mit Brief vom 3. 2. 1962.

Mein Vater hat mit einem langen, getippten Brief vom 27. 2. 1962 geantwortet und sich noch für den vorher eingetroffenen Brief vom 27. 1. 62 bedankt und dabei schrieb: "Wie stets mußte ich ihn gleich während des Frühstücks meiner Frau vorlesen, was ohne Erschütterung des Zwerchfells nie abgeht." Die Briefe von Unkel hatten stets gute Laune bei meinen Eltern verbreitet.

Der Brief vom 27. 2. 1962 war der letzte Brief meines Vaters an Unkel.

Mein Vater starb am 5. 5. 1962.