Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Kurume

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»Das Abschiedsfest«

Im letzten Jahr der Gefangenschaft (1919) organisierten die im Lager Kurume untergebrachten deutschen Offiziere ein »Abschiedsfest«, dessen Ablauf in einem kurzen, vermutlich nur in wenigen Exemplaren verbreiteten Bericht geschildert wird.

Wenn genau das Fest stattfand und wer den Bericht verfasst hat, ist nicht bekannt. Das komödiantische bzw. humoristische Element ist unverkennbar. Viele Teilnehmer sind mit ihren Klarnamen erwähnt und werden ein wenig »auf die Schippe genommen«. Der Leitgedanke der »Versöhnung« darf ernstgenommen werden (Motto: »Ende gut, alles gut«).

Die hier transkribierte Textfassung (Maschinenschrift, keine Umlaute) soll aus dem Nachlass von Harry von Strantz stammen. Die Abschrift wird unverändert wiedergegeben, jedoch hat der Redakteur Schreibfehler berichtigt und Anmerkungen in [ ] oder als Fußnoten hinzugesetzt. Auf die Verlinkung zu den Kurzbiographien wurde verzichtet.
 

[Abschrift des Originals]

Zum Abschied von Kurume war beim japanischen Büro [= Lagerverwaltung] Erlaubnis zu einem Bierabend in der Offiziersbaracke erbeten worden. Leider hatte das Büro verfügt: »Ein Solches ist verbotten.« Darauf gingen Major Anders [= rangältester Offizier] und Buchenthaler persönlich zum Obersten [= Lagerkommandanten] und überbrachten an sämtliche japanischen Offiziere zu diesem Abend eine Einladung mit der Andeutung, dass alle Unstimmigkeiten vergessen seien und der Abschiedsabend im Zeichen allgemeiner Versöhnung stehen würde.
Nach einigem Zögern wurde die Erlaubnis erteilt. Am Mittag des Tages wurden als Stiftung des Lagerkommandanten 28 Flaschen Bier verteilt, für jeden Offizier eine halbe Flasche. Beinahe wäre es dabei zu einemn Streit gekommen,weil Boese behauptete, Florian hätte mehr als die Hälfte aus der gemeinsamen Flasche getrunken. Doch bei dem versöhnlichen Geist wurde die Differenz schnell beigelegt, und die sinnige Stiftung erhöhte die freudige Stimmung beträchtlich.

Bald nach dem Mittagessen begann die Festkommission mit der Ausschmückung des Saales. Es waren die Herren Hofenfels, Biester und Maillard, die sich als die Geeignetsten freiwillig zur Verfügung gestellt hatten. Aus Borckes Messeersparnissen waren 1000 Yen bewilligt worden, um wenigstens zu dieser Abschiedsfeier den vier Jahre lang hässlichen Speisesaal in ein wirklich gemütliches Kasino umzuwandeln. Die Wände wurden mit Brokat bekleidet, der Boden mit Linoleum belegt und der Raum gegliedert durch Arrangements blühender Pflanzen, die Major Perschmann aus seinem liebevoll gepflegten Hausgarten zur Verfügung gestellt hatte. Die Wände waren mit Steinbrückschen Rebusbildern geschmückt, unter anderem »Des Lagers Wahrzeichen« und dann an den beiden Kopfseiten die Pendants »Kirchgang« und »Arbeit« (zwei schöne, leere Flächen).
Inzwischen bereiteten die übrigen Offiziere sich zu der großen Feier würdig vor. Kuhr und Tauch liefen ums Lager, um sich bayerischen Durst zu machen. Anders und Strantz gingen Arm in Arm auf dem Faustballplatz auf und ab, um sich gegenseitig die geplanten Reden nach dem Konzept zu überhören.

Es war sieben Uhr geworden. Auf der Musikempore über dem Anrichteraum herrschte jenes erwartungslüsterne Flüstern und Leben, das die früheren Hoftheaterorchester auszeichnete. Natürlich war das ganze Symphoniekorps versammelt. Unsere erfolgreichsten Musikdichter Vogt und Hertling hatten es sich nicht nehmen lassen, jeder eine Jubelouvertüre für diesen Abend zu schreiben, doch stritten sich die Komponisten noch um die Ehre, das Werk des Andern aufzuführen. Der Ausweg, beide Ouvertüren hintereinander zu spielen, war unausführbar, da jede einzelne anderthalb Stunden Zeit in Anspruch nahm und bei einem Probeversuch die drei ersten Geiger mit schwerer Nerven-Erschütterung ins Lazarett geschafft worden waren. Vogt und Hertling standen am Dirigentenpult und stritten noch immer um die Ehre, dem Andern seine Komposition vorzudirigieren. Da erschien plötzlich Postroth [?] im Saal: »Sie kommen!«

Die japanischen Offiziere traten ein, der deutsche Expeditionsleiter mit seinem Adjudanten Müllerskowski und dem Befehlsübermittler empfing die Herren. Herzliches Händeschütteln, tiefe Vorbeugungen, laute Zischlaute. Vogt hatte auf dem Podium kurzerhand die Hertlingsche Ouvertüre begonnen und unter den rauschenden Klängen nahmen die Gäste auf den mit Blumen geschmückten Stühlen ihren Platz ein neben unseren ältesten Vortretern der einzelnen Kategorien.

Während der anderthalbstündigen Vorführung wurden fleißig die Becher geschwungen, so dass nach den Schlussdisakkorden die ganze Gesellschaft schon von versöhnlichstem Geiste erfüllt war. Klein, der neben Ganahara saß, hatte bereits mit diesem Schmollis [?] getrunken, und Sodan saß auf den Knieen des japanischen Hauptmanns und brachte ihm das Liedchen bei: »Kleine Mädchen müssen pinkeln gehn« [?]. Vorlaeufer und Thibaut hatten den japanischen Kollegen in die Mitte genommen. Vorlaeufer setzte ihm auseinander, dass die Zahlung von Wohnungsgeld (d.h. der offizielle Ausdruck sei Wohnungsgeldzuschuss) unbedingt in einem Sonderfall zuständig sei. Er kam dann auf die Kursschwankungen zu sprechen und wurde erst unterbrochen durch Thibaut, der immer wieder nachdrücklichst auf seine Benachteiligung hinwies und um die Vermittlung des japanischen Kollegen in den Nach-Friedens-Verhandlungen bat. Der Zahlmeister sicherte auch das Eintreten der japanischen Regierung für ihn zu. Hopp und Limmer suchten durch Wahrscheinlichkeitsberechnung herauszupütchern [?], welche Aussicht man beim unpaarigen Spiel hätte, die drei fehlenden Steine zu kaufen; jeder lauschte den Belehrungen des Anderen mit sichtlichem Interesse.1

Anders erhob sich zur Begrüßungsanrede. Er wies darauf hin, dass zwar in der ersten Zeit manche Misshelligkeiten vorgekommen seien, dass man aber nun im Geist der Heimat sagen könne: »Ende gut, Alles gut.« Er schloss mit einem Hoch auf die Gäste. Der Oberst erhob sich sofort zu kurzem Dank; er sagte, wir hätten die japanischen Gesetze gut befolgt und sollten uns besonders mit dem Feuer in Acht nehmen. Er brachte auf die deutschen Offiziere ein dreimaliges »Banzai« aus, in das der Japankenner Gutmann versehentlich mit dem Ruf: »Katschi, katschi, katschi!« einstimmte.

Die Versöhnung ging inzwischen immer weiter. Die geschlossenen Tafelreihen lösten sich zu zwanglosen Gruppen auf. Klemann war von einem großen Kreise von Kameraden umgeben; er hatte mit Will Brüderschaft getrunken und unterhielt alle durch schalkhafte Erzählungen früherer Erlebnisse in der Gefangenschaft und anderswo. Er war so etwas wie der geistige Mittelpunkt des Festes.

An einer anderen Stelle klärte Leist auf und erforschte die Gesinnung des Lagers, kam aber nicht weit, da Trittel ihm in Lungenkraft und Opposition überlegen war; Einigung in allen Fragen wurde zwischen ihnen erst erzielt, als Trittel in elfter Stunde die ausdrucksvolle chinesische Sprache zu Hilfe nahm und Leist sich seinerseits durch Kanackerworte deutlicher machte. In der ganzen Zeit hatte Pfeiffer auf dem Mockierstuhl gesessen, er wurde von allen Seiten angeulkt und schnappte trotzdem nicht ein. Es war eben alles von eitel Versöhnungsgeist durchdrungen; auch Strantz lachte fröhlich, als Gaul ihm mit besonders geschicktem, Wurf ein Bierglas an den Kopf warf.

Zu einer kleinen Extrafeier am unteren Ende des Tisches hatte Merck einige Kameraden aufgefordert. Er war zwar selber sofort verschwunden, um anderswo Ma-Tjiau-Pai [?] zu spielen, aber die Konversation wurde doch lebhaft weitergeführt, hauptsächlich von Luyken, indem er die rechte Schulter hängen ließ und »Öh, öh« sagte, und von Steinbrück, der melodisch glucksend dazu lachte, während Schulz kleine wahre Geschichten aus seinem früheren Liebesleben erzählte. Steitz beschäftigte sich indessen mit versehentlichem Umwerfen von Flaschen und Gläsern.
Böhme hatte inzwischen die Umsitzenden reichlich gelangweilt mit Hervorhebung seiner eigenen lieben Person: Wie immer, wenn er anfing betrunken zu werden, gab er sich die Haltung eines könnenden Literaten; er tippte auf dem Tisch Verse ab, nun stand er auf, um in plötzlicher Begeisterung einen poetischen Erguss in die Menge zu schleudern – da wurde er nüchtern, sagte »Prost!« und setzte sich wieder.

Vom Podium tönte ein Trompetenstoß, von dem etwas schwankenden Herrmann sehr sauber ausgeführt, und herein rollte man ein großes kaltes Büfett. Gleichzeitig flammte ein Transparent auf: »Stiftung von Heintze und Tabbert.« Ganz im Stillen hatten die beiden sich in traulichen Gesprächen über Rechts- und diplomatische Fragen einander genähert, zur Bekräftigung ihrer Freundschaft diesen großzügigen hübschen Plan gefasst. Was tat’s, dass Perschmann von seinem Platz aus »Kursgewinne« und »Die Reichen« rief und dass sich Radke beleidigt fühlte, weil Borcke die Stiftung nicht in längerer Rede ankündigte. Die Kritik ging in einem Beifallsgeheul unter. Die ersten, die sich dem Büfett beschleunigt näherten, waren Odermann und Seiffert; ihr schwacher Magen forderte gebieterisch besondere Rücksicht, das sahen auch alle ein und murrten nicht über die reichliche Inanspruchnahme der leichteren Sachen wie Gänseleberpastete und Hummermayonaise. Etwas verstimmend wirkte es, dass Bieber sich die ganze Platte mit Hühnerbrüsten nahm und erst nach Protest wieder hinstellte mit dem Bemerken: »Ich dachte, für jeden sei eine Schüssel berechnet.« Es wurde gegessen, wie nur ausgehungerte deutsche Kriegsgefangene essen können.

Probst rollten die dicken Tränen über die Wangen und schluchzend brach er aus: »Wir leben und genießen; aber denken nicht an die armen Leute im Lager – ich habe schon nächtelang nicht schlafen können. Diesmal ist’s nicht Abzehrung, Entkräftung, hohle Augen, nein es ist größeres. Unsere armen Leute frieren. Seht sie draußen rumlaufen nur mit Pimmelhöschen [?] bekleidet (es ist im Mai), mühsam keuchend laufen einige im Trab um die Gegend, nur um sich warm zu halten. Wir müssen durch eine großherzige Schlußspende für warme Bekleidung sorgen, großherziger, wärmer als bei der Hungerspende; denn unser ist die Schuld an dem jetzigen Zustand. Den Leuten passt ihr früheres Zeug nicht mehr.«
In überquellender Teilnahme wünschte Langenbach sofortige einstimmige Annahme. Anders wollte Aufschiebung der Abstimmung bis zum Eintreffen in Deutschland mit Rücksicht auf die Notlage der Beamten, und Will als der geistige Nachfolger Meyer- und Zimmermanns bat um Abstimmung, ob und über welchen der drei Anträge abgestimmmt werden sollte. Da er aber nur ein klein bißchen bat und sich Zoepke, der zur Feier des Tages Strümpfe angezogen hatte, gegen jeden Antrag, gegen jede Abstimmung und überhaupt gegen alles aussprach, so ging der ganze Plan in der allgemeinen Unterhaltung unter, die »tipisch« für jede Offizierversammlung bei uns ist. Den kritischen Moment erfasste Bobers, er griff zur Laute und sang mit Gefühl das Gabellied [?]. Unendlicher Beifall lohnte ihn, als er zum Schluss das von Griesers Kalligrafenhand geschriebene Poem dem Obersten überreichte.
Andrée erklärte immer wieder, er wolle von diesem seltenen Verbrüderungsfest an auf jeden Gruß Dienstjüngerer verzichten und ohne Unterschied jeden zuerst grüßen.

Es war drei Uhr geworden. Viele Unfähige waren schon verschwunden. In einer Ecke nahm Tostmann im Stümperskat Kolster, Breternitz und Bier die letzten Sen ab. Rawengel, der alle Denkwürdigkeiten des Abends photographisch aufgenommen hatte, bemühte sich noch vergebens, die Gäste zu einer Schlussgruppe aufzustellen. Das Fest löste sich langsam auf. Rotenberg verabredete mit seinem Freund Grabow noch schnell eine Mauschel-Fortsetzung. Biester konnte seinen Hut nicht finden, den ihm jemand aus Schabernack abgenommen hatte, und Meyer erzählte im Fortgehen noch einmal schnell die Geschichte, wie er von der japanischen Sanität über den Fluss getragen wurde. Der Saal war leer. Kuhr weckte noch den eingeschlafenen Schulz und drehte dann als Hausoffizier die Lampen aus.

Am nächsten Morgen standen im Saal ein Paar Selbstmarschierer, die der japanische Zahlmeister unterm Tisch ausgezogen und vergessen hatte.
 

Anmerkungen

1.  Vermutlich geht es hierbei um eine Variante des Mah-Jongg-Spiels, das sich im Lager großer Beliebtheit erfreute.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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