Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Kurume

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"Der Rufer im Streit" Nr. 15 vom 24.06.[1915]

von Karl Vogt


RuferVorbemerkung

Im Lager Kurume gab es eine Lagerzeitung besonderer Art. Nachdem der Zeitungsbezug aus disziplinarischen Gründen verboten worden war, erhielt der prominente Gefangene Dr. Karl Vogt von der Lagerleitung die Erlaubnis, zwei japanische Zeitungen auswerten und den Inhalt seinen Mitgefangenen bekanntgeben zu dürfen. Vogt schreibt: "Das Büro abonnierte beide Zeitungen für mich, und so begann meine große, jahrelang geleistete Tagesarbeit für das Lager durch die Herausgabe von Kriegsberichten, die ich unter dem Titel 'Der Rufer im Streite' in allen Baracken aushängen ließ. Einige freundliche Helfershelfer nahmen mein Diktat mit den übersetzten Kriegstelegrammen auf zwei, drei Schreibmaschinen entgegen, und das ganze Lager war beglückt, nun wieder die Kriegslage an allen Fronten genau verfolgen zu können."1

Die hier wiedergegebene Ausgabe datiert vom 24.06.; die geschilderten Ereignisse (Dardanellen usw.) deuten darauf hin, dass es sich um das Jahr 1915 handelt. Vogt scheint also mit der Herausgabe unmittelbar nach dem Umzug am 09.06. ins neue Barackenlager begonnen zu haben. Der Redakteur vermag nicht mit Sicherheit zu sagen, ob es sich bei der links abgebildeten Seite um eine Kopie des Originals handelt oder um eine Abschrift. Ihm sind jedenfalls bis heute keine weiteren Exemplare des "Rufers" bekannt geworden.

Diese Ausgabe fand sich in der Sammlung Walter Jäckisch. Bei der Übertragung hat der Redakteur Orthografie und Interpunktion maßvoll verändert und Bemerkungen in [ ] oder als Fußnoten hinzugesetzt.


[Blatt 1]

Die Japan Times schreibt unterm 22.6.

Petersburg 18.6. Russische Gesandschaft.
Die Oesterreicher ueberschritten den Dniester unterhalb Nijniow in der Nähe der Dörfer Huryhladz & Dolissa mit starken Kraeften. Der Feind stiess auf unsern Widerstand bei dem Dorfe Koropec, welches innerhalb der zahlreichen Flusswindungen des Stromes liegt.
Heftige Kaempfe finden auch zwischen Pruth & Dniester statt.

Die Osaka Mainichi berichtet ueber die Lage der Russen folgendes.
Die Lage der Russen ist schlechter, als sie zu Beginn der Feindseligkeiten war. Starke deutsche & oesterreichische Kraefte druecken an der italienischen Grenze. Die Englaender laufen Gefahr, bei den Dardanellen herausgeworfen zu werden. Nichts von Bedeutung wird fuer die Verbuendeten in Frankreich & Flandern geschehen.
Die Verbuendeten koennen notwendigerweise nicht fuer ihre Taktik getadelt werden, den Krieg hinzuziehen. Aber ein Hinziehen & gleichzeitiges Rueckwaerts-Schreiten ist der Anfang des allgemeinen Niederbruchs.
Das Hinziehen sollte ab & zu durch eine vorgehende Offensive bekraeftigt werden.
Die Verbuendeten sind ihrem Feinde sowohl in Kriegsmaterial als auch in numerischer Staerke an Leuten ueberlegen. Mit solchem Vorteil, sagt die Mainichi, sollten die Verbuendeteten aufwachen zu dem, was von ihnen erwartet wird.

Im Gegensatz hierzu recht einfaeltig klingt der Schlusssatz in Leitartikel des Japan Chronikel: Je weiter die Deutschen in Galizien voranschreiten, desto länger die Linie, welche sie zu halten haben, desto weniger Leute haben sie fuer den westlichen Kriegsschauplatz.2 Trotz begreiflicher Freude koennen nachdenkliche Deutsche nichts anders sehen, als dass dieser Sieg sie schwaecht & sie in eine hoffnungslosere Lage denn je bringt.!!!!!!

[Blatt 2]

Die japanische Presse berichtet, dass in Tokio der Rat der Alten ("Die Genro's") zusammengetreten ist. (Er besteht aus 4 Maennern, welche die tatsaechlichen Herrscher Japans sind.)
Der Zusammentritt dieser Maenner zu so ungewoehnlicher Zeit, nach Schluss des Landtages,3 gibt der japanischen Presse zu vielen Vermutungen Anlass.
Der Zusammentritt soheint mit den Ereignissen auf den europaeischen Kriegsschauplaetzen und Anderem zusammen zu haengen.

Asahi vom 24.6.
Der Rat der Alten ist zu einer wichtigen Beratung in innern & aeussern Angelegenheiten zusammengetreten.

Berlin meldet 22.6. ueber New York
Die Umfassungsarmee Lembergs unter Mackensen hat die Bahn Lemberg-Rawa-Ruska besetzt & damit den Russen den Rueckzug nach Norden abgeschnitten. Die Russen zogen sich auf Lemberg zurueck. Ihr Widerstand dort diente nur dazu, die voellige Vernichtung & den Verlust des gesamten Kriegsmaterials zu vermeiden.
Die deutsch-oesterreichische Armee hat mit ungeheurer Macht angegriffen.

Petersburg 22.6.
Die Russen halten noch Verteidigungsstellen 7 km noerdlich Lemberg. Da die Räumung der Stadt nicht mehr zu vermeiden ist, sind die Hospitaeler & der ganze Verwaltungsapparat von Lemberg zurueckgezogen. Die Russen befuerchten, dass ihnen die Rueckzugslinien von Lemberg nach Russland durch Vorstoesse der deutschen Nordarmee, welche bei Rawa-Ruska steht, abgeschnitten werden.

United Press vom 22.6.
Die Russen haben Lemberg geraeumt & befinden sich in vollem Rueckzuge.
Ein Telegramm aus Kopenhagen bestaetigt obige Meldungen.

Reuter 22.6.
Militairische Sachverstaendige in Petersburg erklaeren, dass Lemberg von den Russen nicht auf Verteidigung gegen Westen hin eingerichtet worden sei.
Als Bahnknotenpunkt habe es zwar eine gewisse Bedeutung gehabt, aber jetzt habe die Verteidigung Vorrang.

[Blatt 3]

Petersburg 22.6.
Der Rueckzug der Russen von Lemberg wird auch eine Neugruppierung der Dniester Front noetig machen.

Reuter 22.6.
Der [osmanische] Sultan ist schwer erkrankt.
Ein Spezial-Arzt aus Berlin ist eiligst hinzu gezogen.

Reuter 21.6.
Die Verbuendeten haben einen allgemeinen Angriff zu Wasser & zu Lande & aus der Luft auf die Dardanellen & die Gallipoli-Halbinsel gemacht. Sie wollen viele Munitionsdepots, Werften & [...] zerstoert haben.

Konstantinopel 22.6.
Die Tuerken melden dagegen, dass alle Angriffe der Verbuendeten abgeschlagen sind.

Asahi 24.6.
Das japanische Ministerium hat ein Telegramm erhalten, wonach 7 Deutsche U-Boote Gibraltar passiert haben & in das Mittellaendische Meer eingedrungen sind. Das heute Morgen von uns bereits veroeffentlichte Telegramm, wonach die italienische offensive eingestellt sei, beruht auf einer via Amerika deutsch-amtlichen hierher gelangten Meldung.

Reuter 22.6.
Duenkirchen vird wieder von den langen Gustavs heimgesucht.4

Reuter 22.6.
Der Munitions-Minister Lord George5 erklaert, dass es notwendig sei, einen frischen Zug in die Kriegslieferungen zu bringen. Er will ein Komitee aus Mitgliedern der Industrie bilden.

Reuter 22.6.
Bonar Law, der neue Kolonial-Minister, erklaert, dass die Regierung in nicht zu ferner Zukunft in der Lage sein wuerde, ueber den ost-afrikanischen & central-afrikanischen Kriegsschauplatz zu berichten. (Anm. d. Red. Zur Zeit scheint hier also noch nichts [...])6
 

Anmerkungen

1.  Aus Band 2 seiner"Lebenschronik" (1962), S. 119

2.  Was Vogt hier als "einfältig" bezeichnet, war Gegenstand ständiger Diskussion innerhalb der deutschen Obersten Heeresleitung.

3.  Damit ist das japanische Abgeordnetenhaus (Kogisho) gemeint, vielleicht auch der Reichstag als Ganzes.

4.  Offenbar ist eine Kanone der Firma Krupp gemeint, deren Bezeichnung/Bauweise jedoch unklar ist; in der Literatur wird "langer Gustav" fast immer auf das großkalibrige Geschütz aus dem Zweiten Weltkrieg bezogen.

5.  Gemeint ist David Lloyd George; er erhielt erst kurz vor seinem Tode (1945) den Titel Earl und einen Sitz im Oberhaus.

6.  Der Text endet hier abrupt – möglicherweise gibt es eine vierte Seite, die aber nicht vorliegt.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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