Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Die deutschen Kriegsgefangenen in Japan«

Von Karl Fydrich
 

Vorbemerkungen des Redakteurs

Der Oberartilleristenmaat Karl Fydrich gehört zu jenen, die sehr viel Mühe und Zeit auf das Verfassen eines Augenzeugenberichts verwendet haben. Seine unveröffentlichte, 340-seitige »Geschichte des deutschen Schutzgebiets« aus dem Jahre 1942 konzentriert sich auf die Kriegsereignisse 1914, bezieht aber die Vorgeschichte ausführlich mit ein und enthält darüber hinaus einen Epilog zur Gefangenschaft, der hier wiedergegeben wird.

Dieser Epilog ist aus drei Gründen bedeutsam:
1. Der Verfasser würdigt, als einer der wenigen vor 1945, die besonderen Verdienste des Lagerkommandanten Matsue.
2. Er ist auch einer der wenigen, die über politische Differenzen unter den Gefangenen berichten.
3. Hierbei greift er auf Darstellungsmuster zurück, die typisch für das Weltbild der Nazis waren. (In Ermangelung weiterer biographischer Daten stellt dieser Hinweis kein Urteil über den Verfasser dar!)
 

Fydrichs Augenzeugenbericht kam in den Besitz unseres Korrespondenten Jörg Torsten Nickel über dessen Großvater Otto Albin Krebs, der »einer der besten Kameraden« Fydrichs gewesen ist. Herrn Nickel, der 2013 auch Japan besuchte (siehe seinen Bericht), gebührt großer Dank, dass er das Werk zur Verfügung gestellt hat; weitere Auszüge sollen in diesem Projekt folgen.

Der Redakteur hat Schreibfehler im Original korrigiert, Zwischenüberschriften eingefügt, Abkürzungen aufgelöst und Anmerkungen in [...] oder als Fußnoten hinzugesetzt.
 

Auszug aus dem Augenzeugenbericht von Karl Fydrich

[I. Erträgliche Gefangenschaft in Japan]

Wenn man von der Überlegung ausgeht, daß Kriegsgefangene allgemein nicht den Anspruch erheben dürfen, als Ehrengäste im Lande des Siegers behandelt zu werden, denen man Triumphbogen errichtet und dem Einzuge durch höfliche Begrüßungsreden und Ehrenjungfrauen eine weihevolle Note verleiht, dann ist damit schon das Los der Bedauernswerten umschrieben, die als Anerkennung für ihre Pflichttreue nicht belohnt, sondern vom Schicksal in eine wenig beneidenswerte Lage gestoßen werden. Über die Behandlung der Kriegsgefangenen bestehen zwar internationale Abmachungen1, die dehnbar sind und von dem Sieger nach seinem Geschmack ausgelegt werden können.

Japan hielt sich korrekt an diese Abmachungen. Jeder Kriegsgefangene wird dieses bei ruhiger und leidenschaftsloser Beurteilung seiner Lage in den Jahren 1914 bis 1919 den Japanern zugute halten müssen. Die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in Japan war zum mindesten erträglich, in einigen Lagern sogar gut. Das kam ganz auf den Lagerkommandanten und seine Stellung zu Deutschland an. Es kam ganz darauf an, ob der betreffende Lagerkommandant »anglophil«, »francophil« oder »antideutsch« war. Aber auch unter dem Kommando der antideutschen Lagerführer blieb die Behandlung in den Grenzen internationaler Abmachungen. Gewiß, es kam vor, daß die Japaner schikanös wurden, aber nicht aus dem sadistischen Triebe, den wehrlosen Kriegsgefangenen zu quälen, sondern ihn für die Nichtbefolgung von Anordnungen zu strafen.

Die Japaner sind allgemein als ein höfliches Volk bekannt, nichts kränkt sie mehr als die Nichtbeachtung ihres nationalen Selbstgefühls. Dann konnten sie böse werden und griffen zu dem Mittel der "feinen Nadelstiche", die nicht bluten, aber doch schmerzen. Und ging man der Ursache auf den Grund, dann stieß man auf diesen oder jenen aus den eigenen Reihen, der durch Überheblichkeit, Unbesonnenheit oder charakterliche Minderwertigkeit die heilige Ordnung der disziplinaren Gebote übertreten hatte.2 Alles in allem war das Leben hinter dem japanischen Stacheldraht auch in den schlechten Lagern immerhin erträglich.
 

[II. Lager Bando und sein Leiter]

Zu den guten Lagern gehörte insbesondere das Kriegsefangenenlager Tokushima und später Bando auf der Insel Schikoku, das unter dem Kommando des Obersten Matsuye [Matsue] stand. Oberst Matsuye war ein Verehrer des Generals Meckel, des preußischen Exerziermeisters der japanischen Armee, und ein Bewunderer Deutschlands. In seiner Bewunderung ließ er auch nicht nach, als Deutschland durch das Versagen des eigenen Volkes3 und durch den Übermut [die Übermacht?] seiner Feinde am Boden lag. Er sagte gelegentlich zu einem Zeitungsberichterstatter: »Ein Heer, das 4 Jahre lang in allen Erdteilen gegen eine zahlenmäßig erdrückende Übermacht siegreich gekämpft hat, und ein Volk, das in dieser Zeit derartige Leistungen aufgebracht hat, werden nicht untergehen. Unser eigenes Volk kann von dem deutschen viel lernen.«

In einer großzügigen Weise gewährte er seinen Kriegsgefangenen weitgehendste Freiheiten in ihrem Eigenleben und freute sich, wenn der deutsche Schaffensdrang und die Pflege des deutschen Geisteslebens zur Entfaltung kamen. Und man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Ausflüsse des deutschen Kulturlebens in ihrer Nutzanwendung auf die Japaner anregend wirkten. Sie trugen mit zu dem Verhältnis bei, das später beide Völker verbinden sollte. Es lohnt sich schon, einen Blick in das von dem Obersten Matsuye geführte Kriegsgefangenenlager zu werfen.

Vorweg sei bemerkt, dass der Gemeinschaftsgeist in diesem Lager in einer nahezu vorbildlichen Weise zum Ausdruck kam. In erster Linie sei an den Sport gedacht, der zur Stählung von Geist und Körper eifrig betrieben wurde. Es war schon zu einer Regel geworden, daß die Lehrer der umliegenden Ortschaften mit ihren Schülern den Sportveranstaltungen beiwohnten und aus den turnerischen und sportlichen Darbietungen Nutzen zogen. Weihnachten 1914 überraschten vier Musikfreunde ihre Kameraden mit kleinen musikalischen Darbietungen. Aus diesem bescheidenen Anfange entwickelte sich das später über das Lager hinaus bekannte und wegen seiner künstlerischen Leistungen geschätzte »Tokushimas-Orchester«, das unter der Stabführung des Musikzugleiters der Matrosenartillerie Kiautschou, Oberhoboistenmaat Hermann Hansen aus Flensburg, stand und von Kapitänleutnant Dümmler tatkräftig gefördert wurde.

Das Orchester, das mit mehr als 200 volkstümlichen und Symphoniekonzerten unter anderem auch Beethovens IX. Symphonie zu Gehör brachte, stellte sich uneigennützigerweise auch der japanischen Öffentlich keit mit einem Wohltätigkeitskonzert für die Lungenfürsorge zur Verfügung, was von der Tokushimaer Bevölkerung mit dankbarer Genugtuung aufgenommen wurde und zu einem guten Verhältnis zwischen Japanern und Deutschen beitrug. Das Orchester hatte auch die Ehre, vor einem Mitgliede des japanischen Kaiserhauses in einem Sonderkonzert zu musizieren. Eine mit den denkbar einfachsten Hilfsmitteln zustande gebrachte Ausstellung für Kunst- und Handfertigkeiten wurde von nach Tausenden zählenden japanischen Besuchern bewundert. Die japanische Eisenbahnverwaltung schlug in einer zugkräftigen Reklame die Werbetrommel für diese Ausstellung. Auch diese Veranstaltung der deutsohen Kriegsgefangenen wurde von einem japanischen Prinzen besucht. War es da ein Wunder, dass durch die Anerkennungen hochstehender Japaner der Schaffensdrang immer neuen Antrieb erhielt?

Eine Lagerzeitung unterrichtete ihre Leser in den politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Gegenwartsfragen. Lagerdruckerei und Buchbinderei brachten mit primitiven Mitteln in einem umständlichen Verfahren mehrfarbig bebilderte Bücher und Druckschriften heraus. Hierbei mußte jeder Buchstabe auf Wachsmatritzen gezeichnet werden, was umständlich und zeitraubend war. Junge Handwerker hatten Gelegenheit, ihr handwerkliches Können zur Schau zu stellen. Andere Schicksalsgenossen füllten die hinter dem Stacheldraht besonders träge dahingehende Zeit dadurch aus, dass sie in vorzüglich geleiteten Unterrichtskursen ihr geistiges Rüstzeug für ihren Beruf und ihr späteres Leben vervollständigten.

Mit sichtbarem Behagen beobachtete Oberst Matsuye die Regsamkeit und Betriebsamkeit des Lagerlebens, die die Aufmerksamkeit der Anwohner auf sich zogen. Mit der Zeit hatte sich zwischen der japanischen Bevölkerung und den deutschen Kriegsgefangenen das Verhältnis einer gegenseitig vertrauensvollen Hochachtung gebildet. Als die Stunde der Befreiung schlug, schieden die Deutschen mit Freuden, die das Lager umwohnenden Japaner aber mit Bedauern von einander. Viele Japaner ließen es sich nicht nehmen, die Deutschen bis zum Einschiffungshafen Kobe zu begleiten.4

In den anderen Lagern waren die Daseinsbedingungen und das Los der Kriegsgefangenen schwieriger und härter. Durch den Druck der Lagerleitung und die Hoffnungslosigkeit auf eine baldige Befreiung wurde der Zermürbungsprozess an Geist und Körper beschleunigt. Wer sich nicht zusammenreissen konnte, unterlag der Kriegsgefangenenpsychose, die unter den Namen »Stacheldrahtkrankheit« besser bekannt ist. Gottlob waren es nur vereinzelte Fälle.
 

[III. Politische Bewertung]

In der Zeit, wo das Vaterland zusammenbrach und der rote Aufruhr durch seine Gaue raste, versuchten auch in den deutschen Kriegsgefangenenlagern in Japan »unter der Hand« charakterliche Minderwertigkeiten5 unter der Führung von Juden Kapital zu schlagen. In dem Lager Bando war es der jüdische Vizefeldwebel der Reserve Dr. Berliner, der allzugerne den Rufe einiger charakterlicher Minderwertigkeiten folgte und die geistige Führung der »neuen Richtung« übernahm.6 Diese Herren hatten vergessen, dass die Kriegsgefangenen unter japanischen Militärgesetzen standen und dass die Japaner eine Destruktion nie dulden würden. In einer Versammlung wurde »den Männern der neuen Zeit« gesagt, dass sie das Vertrauen der übrigen Lagerinsassen nicht besäßen und somit nicht berufen wären, die bestehende Ordnung über den Haufen zu werfen. So verlief die »Palastrevolution« in dem Kriegsgefangenenlager Bando wie ein Sturm im Wasserglase, bevor die Japaner etwas davon merkten.7

Gerade in dieser politisch verworrenen Zeit zeigten die Kriegsgefangenen in Japan eine von großer Vaterlandsliebe getragene Haltung. Gesund an Leib und Seele und unangefressen von dem Gift der zersetzenden marxistischen Ideologie kehrten die Japangefangenen im Februar und März 1920 in die Heimat zurück. Sie blieben sich und dem Vaterlande treu. Fünf Jahre seelischer Leidenszeit hinter dem Stacheldraht und dann der politische Wirrwarr in Deutschland knüpften ein festes und unzerreissbares Band um die Verteidiger deutscher Ehre in Ostasien. In treuer Verbundenheit hielten sie zu ihren Offizieren und einstigen militärischen Führern. Diejenigen, die den moralischen Halt verloren hatten und sich in den Strudel des politischen Durcheinanders hineinziehen ließen, dürften zu zählen sein.8

Allgemein betrachtet, waren die fünf Jahre hinter dem Stacheldraht nicht ein nutzlos vertaner Verlust der besten Lebensjahre. Durch die Haltung und die geistige Regsamkeit der deutschen Kriegsgefangenen haben weite Kreise des japanischen Volkes einen Begriff vom deutschen Volke bekommen. Somit hatten die deutschen Kriegsgefangenen in Japan eine politische Mission erfüllt, deren Früchte sich später im Antikominternpakt und im Bündnis mit Japan zeigen sollten.9
 

Anmerkungen

1.  Als der Autor dies schrieb, galt bereits die Genfer Konvention von 1929, worin der Versuch unternommen wurde, völkerrechtliche Grauzonen zu beseitigen; vollständig ist dieses Ziel kaum zu erreichen.

2.  Dass der Verfasser – im Gegensatz zu anderen – die Japaner hier in Schutz nimmt, ist zum einen dem Zeitgeist (1942!) geschuldet und entspricht zum anderen den Tatsachen.

3.  Dieses »Versagen« ist eine explizit nazistische Formel, die Hitler noch 1945 kurz vor seinem Tod benutzte.

4.  Hierzu geben die Quellen nichts weiter her; Kobe ist doch recht weit von Bando entfernt.

5.  Gemeint sind »charakterlich Minderwertige« (Personen) aus der zeittypischen Sicht des Verfassers (1942!); hierbei konnte es sich gemäß dem perversen nazistischen Weltbild nur um Juden handeln. Dass Fydrich und Berliner seinerzeit die gleiche Liebe zur Musik verband, fällt nunmehr unter den Tisch.

6.  Zur »Führungsrolle« von Berliner (und zur Frage, worin sie bestand) geben die Quellen nichts her.

7.  Der Redakteur vermutet, dass auch in Bando – ähnlich wie in Ninoshima – vereinzelt die Forderung erhoben wurde, einen Soldatenrat zu bilden. Genaueres ist aber nicht bekannt. – Dass es zu diesem Zeitpunkt durchaus unterschiedliche politische Meinungen über die Zukunft Deutschlands gab, belegen einige Beiträge in der Bandoer Lagerzeitschrift »Die Baracke« von Anfang 1919.

8.  Als »Verlust des moralischen Halts« galt aus der Nazi-Perspektive insbesondere jedes Eintreten für die neue deutsche Republik. Richtig ist wohl, dass die Zahl der in diesem Sinne Tätigen unter den ehemaligen »Tsingtauern« gering war; das bekannteste Gegenbeispiel ist aber der frühere Gouverneur Truppel, welcher sich ab 1919 in der republiktreuen Demokratischen Staatspartei engagierte.

9.  Dass die Kriegsgefangenen das Deutschlandbild der Japaner maßgeblich geprägt hätten, wird häufiger behauptet, lässt sich jedoch empirisch nicht belegen; dies gilt insbesondere auch für das spätere (in Wahrheit frucht-lose) deutsch-japanische Bündnis. Es handelt sich hier um den Versuch, den fünf Jahren Gefangenenschaft einen »Sinn« zu unterlegen.
 

©  für diese Fassung: Hans-Joachim Schmidt.
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