Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

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Mit "Patricia" am 12.01.1914 von Cuxhaven nach Tsingtau

von Otto Hänsch
 

Der letzte Ablösungstransport für die Tsingtauer Garnison verließ Cuxhaven mit dem Dampfer Patricia. Der vogtländische Matrosenartilerist Otto Hänsch hat darüber im ersten Band seiner Tagebücher berichtet. Die erste Eintragung lautet "Fukuoka, den 9. Dez. 1914", wurde also in Gefangenschaft vorgenommen (möglicherweise auf der Grundlage provisorischer Aufzeichnungen). Der Reise-Bericht beginnt mit Seite 7 und endet auf Seite 36 des Manuskripts.

Der Redakteur bedankt sich herzlich bei den Nachkommen von Otto Hänsch, die das Manuskript in Maschinenschrift übertragen haben! Schreibfehler (in Original oder Abschrift) wurden korrigiert, Abkürzungen aufgelöst, Anmerkungen vom Redakteur in [...] oder als Fußnoten hinzugesetzt.
 

12. Januar 1914. Der letzte Tag vergeht, mit ihm so manches Glas Bier. Mit dickem Kopf und leerem Beutel rückt unsere Abteilung unter den altbekannten Klängen des Liedes "Muss i denn...." nach dem neuen Hafen. Das Seebataillon hat sich ebenfalls schon eingefunden. Nach langem Warten und halb erfroren werden wir endlich eingeschifft. Der erste Mittag an Bord, hungrig wird das Essen verschlungen. Doch bald geht es wieder an Oberdeck, um Abschied zu nehmen von so manchem Bekannten, und noch ein Auge voll von der lieben Heimat zu nehmen. Eine unzählige Menschenmenge hat sich auf der noch nicht ganz hergestellten neuen Mole eingefunden und harrt trotz der schneidenden Kälte der Abfahrt des Transportdampfers.
Endlich gegen 4 Uhr nachmittags ertönt die Dampfpfeife und gibt mit tiefem mächtigen Brummen das Zeichen zur Abfahrt. Bald ist mit dem Loswerfen des letzten Tampens die Verbindung mit der Heimat abgebrochen. Einer der neuen Schlepper für die Imperator-Klasse1 setzt uns von der Mole ab.

Die Musik läßt Abschiedslieder erklingen, und unter tausendstimmigen, nicht enden wollenden Hurrarufen fängt die Schraube im trüben Wasser an zu wühlen und entfernt sich immer mehr vom Lande. Bald verschwinden die am Strande stehenden einzelnen Menschen in der Menge, die uns mit Tüchern den letzten Abschied zuwinken. Leb wohl, wer weiß, was uns die Zukunft bringt und was uns im fernen Lande blüht.
Bald senkt sich die Nacht mit ihren Schleiern auf die endlose Wasserfläche, nur "Elbe 5" und nachher folgende Feuerschiffe schicken uns den letzten Gruß nach. Schon macht sich die Seekrankheit bemerkbar. Ganze Strahlen gießen sich über Bord, vielleicht auch die Folgen von der letzten Bierreise in Cuxhaven. Weiter geht die Fahrt an Helgoland vorbei, von dem leider wenig zu sehen ist, nur der Leuchtturm schickt dem Seemann seine warnenden Strahlen entgegen.

13. Januar 1914. Der nächste Morgen findet uns schon auf hoher See, von Land weit und breit nichts zu sehen.
England - Brest. Gegen Abend Land Steuerbord voraus in Sicht. Wir nähern uns der Küste Englands. Schroffe, steil ins Meer abfallende Kreidefelsen leuchten uns mit ihrem Weiß entgegen. Noch lange schon nachts ist die Küste durch lange sich am Wasser hinziehende Lichterreihen erkenntlich. Ein Beweis, wie dicht England bevölkert ist. Von der französischen Küste ist nichts zu sehen, nur das gleichmäßige Aufblitzen eines Leuchtfeuers verrät uns auch an Backbord Land.

Am 14. Januar mittags nähern wir uns demselben. Die Halbinsel Brest streckt sich Backbord mit mehreren vorgelagerten Inseln aus. Ein französischer Kreuzer zieht unsere Aufmerksamkeit an sich. Er manöveriert mit 4 Torpedobooten zusammen, was auffallend, da ja unsere Hochseeboote selbstständig Manöver unternehmen. Nicht weniger als 6 Schornsteine weist der Kreuzer auf, ebenso auffallend sind die hohen Aufbauten.2 Weiter geht die Fahrt, 13 Seemeilen in der Stunde, nicht viel, und doch sind wir schon ein beträchtliches Stück gefahren. Das Leben an Bord ist soweit ganz angenehm, allerhand Kurzweil wird in den angesetzten Dienststunden getrieben, Schinkenklopfen und dergleichen.

Golf von Biskaya. Unser Dampfer nimmt jetzt südlichen Kurs und durchquert jetzt den Meerbusen von Biskaya. Schweinsfische, auch Tümmler genannt, kreuzen unseren Weg oder schwimmen [eine] Zeit lang mit dem Schiffe um die Wette. Sie haben ungefähr eineinhalb Meter Länge und sehen plump und unbeholfen aus. Wellenförmig bewegen sie sich in und aus dem Wasser.

Am 15. Januar treffen wir auf 3 englische Kriegsschiffe, die hier Manöver vornehmen. Es sind mächtige Bauten und sollen 3 von den neuesten Schiffen – "Dreadnoughts" – sein. Sie befinden sich anscheinend auf der Fahrt nach Gibraltar, denn wir behalten sie fast den ganzen Tag in Sicht, obwohl wir sie längst überholt hatten.

Am 16. Januar Backbord Land in Sicht, wir nähern uns der Küste Spaniens und Portugals. Das Klima wird jeden Tag milder. Ein Beweis, dass wir uns dem Äquator nähern. Hier ist schon nichts mehr von dem heimischen Winter zu merken. Warme Luft umgibt uns, das Wetter klärt sich auf. Wir hatten bis jetzt zeitweise Regen, die Sonne strahlt uns wärmer entgegen.
Wir hatten heute morgen einen wunderschönen Sonnenaufgang, ein schönes Bild bot sich unseren Augen. Vor uns das leicht bewegte Meer mit seinen grünen Wellen, kleine weiße Schaumkronen tänzeln auf den Spitzen, dahinter hohe Berge, steil ins Meer abfallende rötliche Abhänge, unterbrochen durch grüne Matten, weiter im Hintergrund eine noch höhere Bergkette, dunkelgrün in ihrer Färbung, auf den höchsten Spitzen zerfallene Ruinen, die von vergangener maurischer Baukunst zeugen. Scharf abgezeichnet vom Morgenrot und das alles vergoldet vom Lichtschein der aufgehenden Sonne.
Den ganzen Tag hält unser Dampfer Kurs längs der Küste. Bemerkenswert ist die sich immer mehr steigernde Brandung, trotz des verhältnismäßig ruhigen Wetters. Haushoch zerstiebt das Wasser an den Felswänden und Klippen und sprüht in Millionen von Wassertröpfchen, Regenbogenfarben im Sonnenschein hervorzaubernd, in die Luft, alles in eine Art Nebel hüllend. Der Golfstrom soll sich hier direkt gegen die Küste richten, daher dieses großartige Schauspiel bei schönem Wetter. Daraus ist ebenfalls der Wellengang im Golf von Biskaya zu erklären, der ja wegen seiner schlimmen Stürme von den Schiffern gefürchtet ist. Wir hatten zufällig günstiges Wetter, trotz alledem fing Patricia bedenklich an zu stampfen.

Lissabon - Gibraltar. Diese Strecke hatten wir glücklich überstanden und nähern uns nun der Hauptstadt Portugals, Lissabon. Gegen Abend passieren wir die Bucht, an welcher es liegt. Leider senkt die Nacht ihre Nebelschwaden übers Wasser und verhüllt alles in Dunkelheit. Ein Leuchtturm grüßt uns nur noch von den Stätten menschlichen Fleißes.

17. Januar. Der Morgen findet uns immer noch längs hoher Gebirgsketten. Nachmittags dreht Patricia Backbord bei. Zu unserer Überraschung teilt sich jetzt das Gebirge, wir fahren in die Meerenge von Gibraltar ein. Backbord Spanien, Steuerbord Afrikas Küste, das hohe Atlasgebirge mit seinen mächtigen Gebirgskegeln, die ihre Spitzen in die Wolken stecken. Wir befinden uns im mittelländischen Meer. Gibraltar schiebt sich auf spanischer Seite wie eine trutzige Festung weit ins Meer. Auf der Nord- und Westseite steil und schroff, die Ost- und Südseite etwas schräger nach dem Wasser zu abfallend. Man kommt unwillkürlich auf den Gedanken, dass zwischen Kleinasien und Afrika früher eine Verbindung bestanden haben muss, eine Gebirgskette von den Atlasbergen nach Spaniens Küste, die aber das rastlose Meer mit der Zeit durchbrochen hat. Man meint, die Berge brauchten nur umzufallen, um das Mittelmeer zu einem Binnensee zu machen.

18. Januar ist ein Sonntag, der erste an Bord. Morgens gegen 9 Uhr Gottesdienst, angesichts der Nordküste Afrikas, welche sich [an] Backbordseite in langen mächtigen Bergketten hinzieht. Unser Dampfer nähert sich im Laufe des Tages immer mehr derselben bis auf ungefähr 3 km. Grüne Abhänge, freundliche Dörfer, die mit ihren weißen Häusern scharf abstechen, bis hoch hinauf an den Berghängen verbreitet, bieten sich dem Beschauer, bespült von den blauen Wogen der See. Was auffallend ist, sind die verschiedenfarbigen Färbungen des Wassers, die von der Tiefe desselben abhängen. Bei großer Wassertiefe hat das Meer eine tiefblaue Farbe, die mit abnehmender Wassertiefe heller wird und schließlich bei ganz niedrigem Wasser ins Grüne übergeht.

Bandilaria. 19. Januar vormittags kommt voraus eine Insel in Sicht, Bandilaria, eine italienische Verbrecherkolonie.3 Es ist eine hohe Bergkuppe, unfreundlich in ihrem Aussehen. Gespenstig leuchten die vielen, über alle Abhänge verstreuten Häuser aus dem dunkelschwarzen Grün der Berge. Eine Signalstation wechselt mit unserem Dampfer Flaggensignale. Noch lange nach Passieren der Insel blickt sie uns, man möchte sagen, drohend nach, bis sie endlich mit Einbruch der Dunkelheit außer Sicht kommt.

Malta - La Valetta. Der 20. Januar sollte uns endlich mal an Land bringen, sollte doch heute die Insel Malta, eine englische Besitzung, angelaufen werden. Voller Erwartung suchten wir den ganzen Tag den Horizont ab, aber nichts war zu sehen. Die Nacht bricht an, und durch die Finsternis leuchtet uns ein Feuer entgegen, gewiß war es unser heiß ersehntes Ziel. Endlich um 10 [22] Uhr liefen wir im Hafen – links und rechts ein Leuchtfeuer, grün rot lassend – ein und gingen vor Anker. Von Malta war wegen der Dunkelheit nichts zu erkennen, nur eine Menge von Lichtern erhob sich vom Wasser aus, reihenweise kreuz und quer, erkennen lassend, wie sich die Straßen an den Hängen in die Höhe wanden. Unruhig verging die Nacht, im ganzen Schiff ein Kriggeln und Kraggeln, bei dem kaum an Schlaf zu denken war.

21. Januar morgens 4 Uhr war schon alles auf den Beinen, froh, endlich einmal an Land zu kommen. Jeder hat schon eim paar Schilling in der Tasche, mit denen wir alles Mögliche zu kaufen dachten. Schon sollten wir ausgeschifft werden, als sich über unsere Köpfe ein dichter Platzregen ergoß, so dass wir eiligst unter Deck flüchteten, grad als wollte uns Petrus heute ausgerechnet ordentlich einseifen. Bald jedoch hatte der Himmel ein Einsehen und verschloss seine Schleusen. Der Tag brach an und schien uns für alles entschädigen zu wollen. Auf Schleppern und in Prähmen begann die Ausschiffung, endlich konnten wir einmal einen Fuß auf festen Boden setzen.
Malta oder vielmehr die Stadt La Valetta überraschte uns in ihrer Bauart: An vom Wasser steil aufsteigenden Berghängen erbaut, bietet sich von der Höhe ein schönes Panorama. Zu unseren Füßen der Hafen, in welchem mehrere englische Kriegsschiffe respektabler Größe vor Anker liegen. Alte Castells, schon halb verfallen, andere wieder ausgebaut und in Forts umgewandelt, umsäumen den Hafen und dahinter das blaue unendliche Meer.
Die Bevölkerung ist ausgenommen italienischer Herkunft und auffallend heruntergekommen. Bettelnde, vom Greis bis zum Kind, heften sich an unsere Fersen und suchen einen Heller zu erhaschen. Das echte orientalische Leben und Treiben ist uns etwas Neues, und mancher Penny fällt zu Gunsten der Bettler ab. Nachmittags geht's wieder an Bord, ziemlich schweren Kopfes, haben wir doch wacker von dem billigen Rotwein getrunken, der nicht schlecht mundete.
Gegen 6 Uhr abends lichtet dröhnend Patricia ihren Anker und weiter geht die Fahrt. Einen letzten Gruß sendet uns Malta mit seinen weißen Häusern nach, und bald verschwindet es in der hereinbrechenden Dunkelheit.

Am 22. Januar nichts als Wasser ringsum, einsam zieht Patricia ihren Weg. Nur ab und zu zeigt sich am Horizont ein Dampfer, ebenso verlassen seinen Weg ziehend. Nachts verrät uns ein Leuchtfeuer an Steuerbord die afrikanische Küste.
23. Januar wieder nichts als Wasser.

Am 24. Januar wieder mal [an] Steuerbord Land zu sehen. Lange Küstenstriche von gelben Sandwüsten, ab und zu durch Hügel unterbrochen. Ein herrlicher Sonnenaufgang war zu beobachten. Glutrot stieg die Sonne hinter den den gelben Sandhügeln auf, die Wellen, alles schien in Gold getaucht.
Port Said - Suez-Kanal. Heute sollten wir die 2. Etappe unserer Reise, Port Said, erreichen. Nachts 12 Uhr kamen wir an. Leider sollten wir nicht an Land kommen, da bereits in früher Morgenstunde die Reise weitergehen sollte.
Unser Dampfer musste für die Reise durch den Suez-Kanal einen Scheinwerfer an Bord nehmen, um bei Nacht ein sicheres Fahren zu ermöglichen. Jeder größere Dampfer musste das Gleiche tun. Der Scheinwerfer wird am Bug außenbords angebracht und durch einen Dynamo gespeist, welcher wiederum mit einer Dampfmaschine gekuppelt ist, die den nötigen Dampf von irgendeiner Leitung der Dampfwinschen des betreffenden Schiffes erhält.
Arabische und indische Kaufleute umdrängten unser Schiff mit kleinen Kähnen und boten ihre Waren marktschreierisch an, ihre paar Brocken Deutsch herschnatternd. Apfelsinen und sorstige Südfrüchte, vor allen Dingen "Simon Arzt"-Zigaretten, die hier an ihrem Fabrikationsort besonders billig sind, kauften wir nach Herzenslust zusammen, soweit unsere paar Pfennige reichten.
Von Port Said konnten wir sonst weiter nichts sehen als endlose Lichterreihen, die der Stadt bei Nacht ein fast europäisches Gepräge gaben.

25. Januar 1914. Der nächste Tag, Sonntag, findet uns bereits im Kanal. Langsam, mit halber Fahrt, streicht Patricia in dem schmalen grünen Wasserstreifen durch gelbe, endlose Sandwüsten dahin, das Wasser gleichmäßig höher drückend, ist sie doch der größte Dampfer, der bisher den Suezkanal durchquert hat.4 Achtern hinter den Schrauben bilden sich Wirbel, die mit uns gleichen Tritt halten und an den Seiten mit leisem Rauschen wieder auf den alten Stand zurückfallen.
Ein wunderschöner Sonntagmorgen ist heute, grade wie zu Hause ein warmer Sommertag. Keine Wolke am Himmel, kein Lüftchen regt sich, Friede liegt über den eintönigen gelben Sandmassen, die sich dicht bis an den Kanal herandrängen, an Stellen denselben zu verschütten drohen, wenn nicht dauernd Bagger bemüht wären, das Fahrwasser frei zu halten. Backbord ist das Ufer noch im Bau, während die rechte Seite fertig ist. Schwarze, halbbekleidete Gestalten arbeiten an der Fertigstellung desselben, staunen uns an, wenn wir längsseits kommen, rufen uns unverstandliche Worte zu und laufen wohl ein Stück am Ufer nebenher.
Zu unserer Rechten zieht sich dicht am Ufer hin ein Eisenbahnzug, kommt uns entgegen gefahren, von unserem hohen Deck wie ein Spielzeug anzusehen. Kleine Seen unterbrechen das ewige Einerlei. Ebenso verleihen freundliche, wie kleine Bauerngehöfte aussehende Signalstationen auf Steuerbord und kleine verkrüppelte [?] Fichtengruppen dem Auge einige Abwechslung.
Kurz vor Mittag treffen wir zu unserem nicht geringem Erstaunen Königin Luise im Kanal vor Anker, die zusammen mit Patricia von Jahr zu Jahr den Transport nach China ausführt.5 Sie kommt von den Südseeinseln und hat hier festgemacht, um uns passieren zu lassen. Ganz dicht Bord an Bord gleiten wir an ihr vorbei, Grüße mit den Passagieren austauschend.

Nachmittags durchfahren wir den kleinen Bittersee und gelangen nach kurzer Fahrt im Kanal abermals in ein Gewässer. Hier müssen wir vor Anker gehen, da von der anderen Seite Dampfer gemeldet sind, die wir erst passieren lassen müssen. Zwei andere größere Schiffe liegen hier ebenfalls schon. Endlich, nach mehr als einstündiger Pause, geht die Fahrt weiter. Die Schiffe, unter denen besonders ein französischer Passagierdampfer zu erwähnen ist – 2 Schornsteine, 2 Masten, große Sonnensegel aufgespannt – haben endlich den Kanal passiert.
Weiter geht's durch die Wüste, die Nacht bricht herein, der Scheinwerfer tritt in Tätigkeit und beleuchtet gespenstig die schmale Wasserstraße, dass wir meinen, jeden Augenblick aufzufahren. Möwen fliegen im Lichtschein, über uns leuchtet der Himmel mit seinen unzähligen Sternen. Abends gegen 8 Uhr erreichen wir das Ende des Kanals, an welchem Suez liegt.
Mächtig tönt uns das Echo unserer Schiffskapelle von den Ufern zurück. Ganze Reihen von Laternen lassen uns die Straßen erkennen, die an den Kais auslaufen. Dampfer, welche eben in den Kanal einfahren wollen, schicken gespenstig erscheinende, lange Lichtstreifen voraus, so dass wir eine nächtliche Übung eines Geschwaders zu sehen vermeinen.
Nach kurzer Rast geht die Reise weiter, unser Scheinwerfer ist wieder abgegeben, ebenso ein Kutter mit zwei arabischen Kaufleuten, die während der Kanalfahrt auf Steuerbord-Vordeck ihre Waren mit sich immer wiederholenden Worten "Fein Cigarett, fein Simon Arzt, fein Schokolad" anboten, wird mittels eines Ladebaumes außenbords gesetzt.

Rotes Meer. Am Montag, dem 26. Januar, befinden wir uns im Golf von Suez, dem nördlichen Teil vom Roten Meer. Hohe, einförmige, gelbe, zerrissene Bergketten bieten sich beiderseits unseren Augen, die den ganzen Tag nicht außer Sicht kommen. Die Sonne schickt immer wärmere Strahlen herab, die Hitze wird schon lästig, trotz der Winterzeit. Sonnensegel werden aufgespannt, um den Aufenthalt einigermaßen erträglich zu machen. Das Mittagessen wird zur Last, der Schweiß rinnt in Strömen übers Gesicht, wie wird's hier erst im Sommer sein.
Nächsten Tag ist Kaisers Geburtstag. Aus diesem Anlass wird achtern eine Bühne aufgebaut, um auch in fernen Landen den Tag würdig zu begehen.

27. Januar ist vormittags Andacht, Anzug Parade, weiße Mütze, Hemd und Hose. Einige Biermarken sollen unseren Durst mildern, bei dieser Hitze ein Tropfen auf den heißen Stein.
Gegen Abend, nachdem wir endlich die öden Gebirgszüge außer Sicht haben und jetzt im eigentlichen Roten Meer sind, geht's nach dem Achterdeck. Einige lustige Aufführungen sowie Gesangsvorträge helfen angenehm über die sonstige Langeweile hinweg. Dazwischen turnerische Vorführungen und Konzertstücke, unter anderen die Nationalhymne und das Kaiserlied kommen zum Vortrag. Spät in der Nacht geht's in die Koje.

Am 28. [Januar] wurde ich leider auf drei Tage abkommandiert und konnte so die Vorgänge in der Außenwelt nur durch ein Bully verfolgen, zu welchem Zweck ich mir fast den Kopf ausrenken musste.6
Und die Hitze obendrein,
rein zum Hühner braten.
Ich will keinem mehr raten,
den Aufenthalt so ganz allein,
es ist fürwahr 'ne große Pein,
wie ich mich auch leg und streck,
zum Teufel mit den Decken weg.
Die ganze Nacht, welche Qual,
ich wollt ich könnte sein ein Aal
zu kriechen durch das Bully klein
kopfüber in die Fluten rein.
Doch alles geht einmal zu End,
drei Tage lang gehn doch behend
auch ihrem Ende zu,
dann aber laßt mich bloß in Ruh
mit eurer stillen Klause,
ich fühl mich dort doch nicht zu Hause.

Endlich nach langer Sitzung werde ich abgelöst. Wie froh bin ich, wieder andere Luft zu atmen.
Der Dampfer hat mittlerweile das Rote Meer durchschifft, ebenso das Tor der Tränen, die Einfahrt in dasselbe. Afrikas Nordostspitze sendet die letzten Grüße herüber, weiter geht die Fahrt.
Wir schreiben heute den 31. Januar. Die Hitze hält an. Auf Oberdeck werden achtern und vorn große Badesegel angebracht, mit Wasser vollgepumpt, in die wir uns mit Gebrüll stürzen, endlich eine Abkühlung.

Ceylon. Der Dampfer hält jetzt Kurs auf Colombo, wo wir wieder an Land kommen sollen. Am 4. Februar jedoch, kurz vor unserer Ankunft, erhalten wir Funkspruch, dass dort die Pest ausgebrochen sei. Schade, wir hatten uns zu bald gefreut, nun mußte es weitergehen.
Singapore sollte nun angelaufen werden. Am selben Tag umschifften wir die Halbinsel, auf welcher Colombo liegt. Land ist zu sehen, flache Küstenstreifen, bewachsen mit Palmengruppen und anderen tropischen Gewächsen. Leichte Kanus schaukeln auf den Wellen, anscheinend mit Fischen beschäftigt. Bald jedoch verschwindet der Küstenstreifen, der Dampfer hält jetzt geraden Weges auf Singapore zu.
In diesen Tagen starb ein Seesoldat, der erste Tote auf dieser Reise.7 Er soll an Bord bis zur Ankunft in Tsingtau behalten werden und dann mit der Bahn in die Heimat befördert werden.

Am 9. Februar Land in Sicht (morgens). Backbord kleinere bewaldete Inseln, Steuerbord die holländische Besitzung Sumatra. Hohe, bis in die Wolken ragende Berge, bewachsen bis zur Spitze mit saftigem Grün. Lange schmale Landstreifen als Ausläufer der Berge strecken sich weit ins Wasser, fast gleichmäßig mit Palmen, von weitem langen Alleen gleichend, bewachsen. Das Wasser zeigt statt der bisherigen tiefblauen Färbung ein hellgrünes Aussehen, ein sicherer Beweis, dass die Meerestiefe abnimmt und wir in Landnähe sind. Augenblicklich sind wir in der Straße von Sumatra.
10. Februar. Am nächsten Tag Steuerbord nur ein kleiner Landstreifen zu sehen, im Nebel fast verschwindend. Backbord kommen wir dem Lande Malakka immer näher.

Am 11. Februar immer noch dasselbe Bild. Vormittag kommt ein Kriegsschiff in Sicht, dass sich beim Näherkommen als das Flaggschiff unseres ostasiatischen Geschwaders, S.M.S. Scharnhorst, entpuppt.
Patricia stoppt, ein Dampfbeiboot von Scharnhorst kommt längsseits. Braune, sonnenverbrannte Gesichter blicken uns entgegen, denen wohl ihr Aufenthalt im Süden anzusehen ist. Mehrere Leute werden ausgeschifft.
Unser Transportführer, Korvettenkapitän S[?], fährt ebenfalls, um beim Admiral Meldung zu machen. Nach längerer Zeit kommt er wieder zurück, weiter geht die Reise. Das Beiboot legt ab, ein Affe achtern am Ruder sitzend, bietet uns zum Abschied seinen Allerwertesten. Scharnhorst folgt langsam unserem Kurs.

Singapore. Mittags 2 Uhr Singapore in Sicht, durch Inseln geht es dem Hafen zu. Zahllose Dampfer liegen hier vor Anker, vorwiegend Engländer, und wechseln hier ihre Ladung. Ein wahrer Mastenwald. Fahrzeuge aller Nationen sind hier vertreten. Gegen 4 Uhr legen wir an einer Holzmole an.
Eingeborene kommen von allen Seiten mit schmalen kleinen Kanoes angeflitzt und tauchen geschickt nach den ins Wasser geworfenen Geldstücken. Eigentlich sollte heute noch ein Teil von uns an Land geschickt werden, leider war dies nicht der Fall. Etwas Neues sollten wir noch erleben: Tropenhelme werden ausgegeben, was uns zu allerhand Späßen Veranlassung gab.
12. Februar. Nächsten Tag ging's an Land. Singapore hat ein fast europäisches Aussehen. Eingeborene ziehen im Laufschritt einen leichten zweirädrigen Wagen (Rikscha) und bieten uns dieses eigenartige Fahrzeug zur Beförderung an.
Das Leben hier ist dem Fremden neu. Inder bieten auf der Straße ihre Waren an, vorwiegend Südfrüchte wie Bananen, Ananas und Kokosnüsse. Bald geht der Urlaub zu Ende und wir müssen zurück an Bord.
Nachmittags 4 Uhr, nach Einnahme von Süßwasser und Kohlen, geht die Reise weiter. Durch Inseln sucht unser Dampfer den Ausweg ins offene Meer.

Am 13. Februar sind wir wieder auf hoher See, ringsum nichts als Wasser. Fliegende Fische begleiten uns. Es ist komisch anzusehen, wie sie aus dem Wasser schnellen, mit einer Art Flügel schlagen, oft lange Strecken den Flug eines Vogels nachahmen und mit leisem Aufspritzen des Wassers in ihrem Element verschwinden. Ganze Scharen von ihnen trieben ihr Spiel, unser Auge wird nicht müde, ihrem Fluge zu folgen.
Die Witterung läßt nach, die Tage werden langsam kälter, ein Beweis, dass wir Kurs nach Norden haben. Die Zeit vergeht, wir sehen tagelang nichts als Wasser, nur ab und zu zeigen eine Rauchwolke, ein paar Mastspitzen am Horizont den Kurs eines Dampfers an.

Am 15. Februar nachts 11 Uhr durchbricht der Schreckensruf "Mann über Bord" die Ruhe. Alles stürzt an Deck, nur halbbekleidet. Die Maschine stoppt, das Schiff dreht Backbord bei. Ein flackerndes Licht läßt die Stelle erkennen, wo die sofort geworfene Rettungsboje treibt.
Bange Erwartung bemächtigt sich unser, alles fragt durcheinander: Wer ist's gewesen, ob er an der Boje hängt, Unglücksfall oder Selbstmord?Das Rettungsboot wird zu Wasser gelassen, mit kräftigen Ruderschlägen geht's dem flackernden Licht zu. Jetzt sind sie da, ist er gerettet?. Wohl nicht! Fast 1 Stunde kreuzt das Boot auf den lang rollenden Wellen, endlich kommt es zurück, ohne den Mann gerettet zu haben. Wer war's nun? Die Kompanien treten an, alles vollzählig. Ein Mann von der Besatzung soll's gewesen sein. Er hat unbewacht im Lazarett gelegen und ist in seinem Fieberanfall über Bord gesprungen. Schon längst werden ihn die gierigen Haie verschlungen haben.8

Hongkong. Am 16. Februar nichts als Wasser. Nächsten Tag soll unser Dampfer in Hongkong eintreffen. Vormittag Land in Sicht, Backbordseite hohe Bergketten.
17. Februar. Näher der Küste kommend fährt Patricia in eine langgestreckte Bucht ein. Häusergruppen, längsseits der Küste lange Straßen, auf welchen ein reger Straßenbahnverkehr herrscht, unterbrochen durch Fabrikgebäude, anscheinend große Werftanlagen, Docks, in welchen Dampfer zur Reparatur liegen, beleben das Ufer.
Berge, steil nach dem Wasser abfallend, begrenzen die Bucht, die Gipfel in die Wolken steckend. Mehr im Hintergrund liegt die eigentliche Stadt Hongkong, der wir uns mit halber Fahrt nähern. Fahrzeuge aller Art, vom kleinsten Dampfboot bis zum großen Ozeanriesen, liegen hier vor Anker. Von allen Seiten tönen uns die verschiedenartigen Stimmen der Dampfpfeifen entgegen. Unser Dampfer geht auf der Reede vor Anker, da Molen mit solchem Tiefgang nicht vorhanden sind. Von allen Seiten kommen chinesische Boote heran und bieten uns Mandarinen, Eier und dergleichen zum Kauf an. Bald entsteht ein reger Verkehr außenbords; mittels langer Stangen, an deren Ende ein Korb befestigt ist, reichen die Chinesen ihre Waren – natürlich nur gegen vorherige Bezahlung – an der hohen Bordwand hinauf. Die Boote, Sampans genannt, bilden anscheinend die Wohnung immer einer ganzen Familie.
Schmutzig von oben bis unten kugeln die jüngsten Sprossen dieses edlen Geschlechtes auf Deck herum, so dass einem fast der Appetit an den verlockenden Sachen vergeht.
Bald geht's an Land. Mittels Prähmen und kleinen Dampfbooten werden wir an Land gebracht. Ein reges Leben herrscht in den Straßen, Vertreter aller Nationen gehen ihrem Geschäft nach. Lange Häuserreihen mit europäischer Bauart geben der Stadt das Aussehen einer großen europäischen Handelsstadt. Lange Reklameschilder im chinesischen Viertel mit den ominösen Schriftzeichen hängen auf der Straßenfront herab und geben der Stadt ein messeähnliches Gepräge.
Rikschas regeln neben der Straßenbahn den regen Verkehr. Bald ist der Urlaub um, die Nacht bricht herein, wir müssen an Bord zurück. Dort hat sich mittlerweile ein reges Schaffen entwickelt. Zu beiden Seiten liegen Kohlenprähme, auf welchen es von schmutzigen Gestalten wimmelt. Männlein wie Weiblein schleppen Kohlenkörbe heran, die alle von dem unersättlichen Riesenleib des Dampfers verschlungen werden.
Von Bord aus bietet sich uns ein schöner Anblick. Ringsum an den Berghängen scheint alles illuminiert zu sein. Ein unendliches Lichtermeer erstreckt sich an den Ufern entlang. Signalstationen, vor Anker liegende Kriegsschiffe senden in ununterbrochener Reihenfolge Morsezeichen in die Dunkelheit. Die Nacht vergeht unter dauerndem Arbeiten der Kräne, und längsseits liegende Wasserprähme lassen ihr gleichmäßiges Stampfen der Pumpen vernehmen.

Am 18. Februar geht's wieder an Land. Diesmal soll ein mit der Zahnradbahn erreichbarer Berg bestiegen werden. Ein schönes Panorama bietet sich von der Höhe, die ganze Bucht umsäumt von hohen Bergen, das Wasser belebt von vielen Fahrzeugen, die Kinderspielzeug gleichen. Unter den Kriegsschiffen ist auch ein deutsches Kanonenboot, S.M.S. Vaterland, welches friedlich mit den anderen Vertretern der Mächte zusammen vor Anker liegt. Der Tag vergeht unter Besuch von sehenswerten Gebäuden und sonstigem Zeitvertreib.
Gegen Nachmittag wird alles wieder eingeschifft, und weiter geht die Fahrt. Wir sind ietzt im Gelben Meer, das wegen der häufigen Seestürme (Taifun) bekannt ist. Das Wasser nimmt tatsächlich eine schmutziggelbe Färbung an. Dies ist verursacht von dem chinesischen Strom Yang-se-kiang, welcher hier seine lehmfarbenen Fluten ins Meer wälzt. Das Wetter wird unfreundlich. Ein kalter Wind, unterbrochen von Regenschauern, bläst uns entgegen. Schwer kämpft das Schiff dagegen an, lang rollt und stampft es in der gelben Flut. Chinesische Fahrzeuge seltsamer Bauart, mit der Schnauze fast im Wasser verschwindend, achtern hochgebaut, schaukeln auf den Wellen. Dschunken werden sie genannt. 3 oder 5 unregelmäßig aufgestellte Masten geben großen Segeln Halt, die, aus vielen Stücken zusammengeflickt, durch lange Bambusrohre in der Querrichtung gestützt sind.

Die Zeit vergeht unter dem Hundewetter langsam. Am 21. Februar klärt sich dasselbe etwas auf, doch die Sonne vermag nicht, die Nebel zu verscheuchen. Zeitweise geht's mit halber Fahrt, um in dem dichten Nebel nicht in Kollision eines anderen Schiffes zu geraten. Die Dampfpfeife heult in gleichmäßigen Abschnitten in den Nebel hinein, um ein entgegenkommendes Fahrzeug rechtzeitig zu warnen.

Ankunft in Tsingtau. Endlich, am 22. Februar, sollten wir mit fast zweitägiger Verspätung in Tsingtau ankommen. Es ist gerade Sonntag. Das Wetter ist etwas besser geworden, der Nebel zeitweise zerrissen. Gegen 9 Uhr Land in Sicht. Berge von mittlerer Höhe können wir durch die Nebelfetzen erkennen, Häuser, eine Landzunge, an deren Ende ein schöner, weiß-rot gestrichener Leuchtturm uns einen freundlichen Gruß entgegensendet, mehrere hohe Schornsteine zeigen unseren neugierigen Blicken die neuerwachte deutsche Kolonie Kiautschou.
Mit halber Fahrt geht es um den Leuchtturm in die Kiautschoubucht, dem Hafen zu. Schon von weitem tönt uns Musik entgegen, die ganze Mole ist voller Menschen. Auf dem Molenkopf hat sich die Seebataillonskapelle postiert, empfängt uns mit bekannten Klängen, abgelöst von der M.A.-Kapelle, die mehr in der Mitte der Mole Stellung genommen hat. Angehörige der Matrosenartillerie und des Seebataillons begrüßen lebhaft unsere Ankunft, die des dicken Dampfers. Bald liegt Patricia an der schönen Mole fest. Laufstege werden befestigt, bald betreten wir schwerbeladen mit Kisten und Kleidersäcken den so lang entbehrten deutschen Boden.

[Die Fortsetzung des Tagebuchs behandelt das halbe Jahr bis Kriegsbeginn.]
 

Anmerkungen

1.  Die "Imperator"-Klasse waren drei Passagierschiffe der HAPAG, die seinerzeit (bis 1935) die größten der Welt waren; freilich ist keines von ihnen jemals in Tsingtau gewesen.

2.  Einziger Kreuzer mit 6 Schornsteinen war und blieb die 1902 in Dienst gestellte Jeanne d'arc.

3.  Hierbei kann es sich nur um die Insel Pantelleria handeln.

4.  Die Quelle dieser Information ist unklar.

5.  Siehe unsere Übersicht.

6.  Der Autor schreibt nicht, wohin/wozu er abkommandiert wurde. – Die folgenden Reime sind stehen im Manuskript als Fließtext.

7.  Die Identität des Toten ist unklar.

8.  Auch die Identität dieses Toten ist unklar. Ähnliche Vorfälle (siehe auch Fußnote 7) sind auch in Bezug auf andere Ablösungspransporte berichtet worden.
 

©  Karl Heinz und Renate Hänsch; für die Internetfassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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