Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Nach der Heimat«

von Jakob Neumaier
 

Unter den Augenzeugen des Krieges und der Gefangenschaft ist Jakob Neumaier einer der wichtigsten. Seine Tagebucheintragungen decken den gesamten Zeitraum von den letzten Junitagen 1914 bis zur Rückkehr in die Heimat Anfang März 1920 ab. Er schildert seine Erlebnisse bewusst aus der Perspektive des einfachen Soldaten, ohne »Feldherrnattitüde«, mit guter Beobachtungsgabe und mit viel Liebe zum Detail.

Der achte und letzte Teil aus Neumaiers Bericht schildert die Zeit vom Abschied in Japan bis zum Insichtkommen der Heimatküste.

Die hier benutzte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von dem leider verstorbenen Bochumer Sammler Walter Jäckisch zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in Fußnoten.

Übersicht:

  1. Abschied und Ausreise
  2. Ein letzter Besuch in Tsingtau
  3. Von Tsingtau bis Port Said
  4. Von Port Said bis zur deutschen Küste

 

1. Abschied und Ausreise

Weihnachtstag mittags. Nebel lag über dem Barackenlager, verdeckte noch die Sonne, deren Schein jedoch langsam durch das Grau drang. Am Fußballplatz standen wir in Reih und Glied, mit Sack und Pack zum Abmarsch angetreten. Der japanische Oberst, von seinen Offizieren und dem alten, recht gebrechlich aussehenden Dolmetscher begleitet, erschien am Platze und wurde von unseren Offizieren begrüßt. Sichtlich bewegt stellte sich der Oberst dann vor unsere Reihen und begann eine Ansprache, die Abschiedsrede. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, und seine Worte gingen uns zu Herzen, als würden wir sie verstehen, als wären sie uns aus der Seele gesprochen. Der Dolmetscher übersetzte dann die Rede etwa wie folgt:

»Endlich, nach fünf Jahren, öffnen sich die Tore des Gefangenenlagers, und Sie können wieder in Ihre Heimat, in die Freiheit zurückkehren. Wir Japaner haben die deutsche Kriegerehre und Disziplin kennengelernt und schätzen sie hoch. Wir haben uns bemüht, Ihr Los in der Gefangenschaft möglichst erträglich zu gestalten. Wir haben immer im Auge behalten, dass Sie ehrenvolle Kriegsgefangene sind, wenn es auch manchmal Missverständnisse zwischen Japanern und Deutschen gab und Verfehlungen einzelner Gefangener von uns bestraft werden mussten. Wir verstehen, dass die Verzweiflung über die lange Dauer der Gefangenschaft den Gefangenen manchmal zu unbesonnenen Handlungen hinriss und dass die Unterschiede im Wesen der Deutschen und Japaner oft zu Missverständnissen Anlass gaben. Aber dennoch hat man sich bemüht, die Unstimmigkeiten zu beseitigen. Auch Sie haben sich darum bemüht und ich spreche Ihnen dafür meinen Dank aus. Ich wünsche Ihnen auch im Namen meiner untergeordneten Beamten eine recht glückliche Heimreise und ein recht glückliches Wiedersehen mit Ihrem Vaterlande und Ihren Lieben. Erzählen Sie es in Ihrem Vaterlande, dass die Japaner Sie gut behandelt haben und dass Japan die baldige Besserung der Verhältnisse in Ihrer schwergeprüften Heimat wünscht.«

Unsere Achtung vor den Japanern war in dieser Stunde gewaltig gestiegen. Große Freude neigt zu versöhnlicher Stimmung.

Der Oberst schritt noch einmal unsere Reihen entlang und sprach noch da und dort in seinem gebrochenen Deutsch: »Sagen Sie in der Heimat, Sie sind gut in Japan behandelt worden!« Er drückte noch jedem unserer Offiziere die Hand. Dann traten die Posten heran. Einer unserer Offiziere übernahm das Kommando. »Mit Gruppen rechts schwenkt, marsch!« Es ging zum Tore hinaus über die braune, öde Ebene des Truppenübungsplatzes Narashino. Hinter uns im Nebel entschwanden die grauen Baracken, die hohen Pfähle mit dem Stacheldraht. Vor uns lag die Freiheit. Jeder Schritt führte näher der Heimat.

Zwei Stunden marschierten wir bis zur Bahnstation Tsudanuma. Wir stiegen in den Zug, traten die Fahrt nach der Heimat an. Was sind Worte! Die Welt tat sich wieder vor uns auf. Alle Erbitterung schien vergessen. Wir sangen im Zuge Heimatslieder, bis wir heiser waren. Nebel lag über der braunen Ebene. Der Heilige Berg Fuji-san war nicht zu sehen. Unsere alten Ostasiaten sagten, das sei ein Zeichen, dass wir Japan nie wieder sehen würden.

Am nächsten Morgen kamen wir nach Tokyo. Klarblauer Himmel. Im Norden ragte der hellblaue Kegel des Fujis-an mit seiner Schneekappe vor der braunen Ebene zum Himmel, zum Greifen nahe schien der Heilige Berg. Wir würden Japan wiedersehen, sagten unsere Alten. Von einem Bahnhof zum anderen fuhren wir immer wieder in weitem Bogen durch die Riesenstadt, an den Vorstädten vorbei. Wohl ein Dutzend Mal wurde der Zug umrangiert, Ein Häusermeer, dass wie eine unübersehbare Heimgärtensiedlung mit Tausenden alter und neuer Gartenhäuser anmutete, breitete sich zu beiden Seiten der Bahn aus. Einzelne nach europäischer Art gebaute massive Paläste ragten aus dem niederen braunen Gewirr der Holzdächer hervor, einzelne Holztempel mit geschwungenen Dachrändern. In den Straßen, Geschäftshäusern und Werkstätten tummelte sich das fleißige Volk. Alltag in der Großstadt. Wir hatten das lange nicht mehr gesehen, achteten aber in unserer Festtagsfreude wenig auf die bunten Straßenbilder. Was galt uns noch die Fremde, selbst die Riesenstadt Tokyo, die berühmte japanische Landschaft, die wir zum letzten Male sehen konnten! Der Weg über die weiten Meere lag vor uns, ein langer Weg noch, aber er war frei, wurde mit jedem Täge freundlicher, anheimelnder. Am Ende lag das Ziel unseres jahrelangen Hoffens, die Heimat.

Am 27. Dezember kamen wir nach Kobe, marschierten noch unter japanischer Bewachung zum Hafen. Am Kai, vor einem großen Lagerhause, empfing uns der Schweizer Gesandte mit einer freundlichen Ansprache. Die japanischen Posten traten weg, marschierten ab. Zum ersten Male nach fünf Jahren waren wir wieder ohne Bewachung.

Am Kai lag ein großer Frachtdampfer, die Kifuku Maru von der Kawasaki-Reederei. Wir gingen an Bord. Karten der Schifffahrtsgesellschaft wurden uns ausgehändigt. Es stand darauf in deutscher Sprache: »Wir wünschen herzlich Ihre glückliche Seereise! Kifuku Maru. Kawasaki-Dampfschifffahrtsgeseilschaft 1919.« Drüben im freien Wasser vor Anker lag der Dampfer Hofuku Maru, bereits von Gefangenen aus Nagoya und Kurume belegt,1 klar zur Abfahrt, als erster, wie es hieß. Unser Dampfer sollte Tsingtau anlaufen, hörten wir.

Am 28. Dezember früh morgens fuhr unser Schiff ab, als erstes, an der noch still liegenden Hofuku Maru vorbei. Winken und Lachen hinüber und herüber und Rufe: »Schiebung«. Größte Heiterkeit. Die Fahrt ging durch die japanische Inlandsee. Hügeliges, kahles Land, graue niedere Felsen und Klippen lagen zu beiden Seiten. Der Nordwind jagte weiße Gischt über die dunkelgrüne Flut. Sturm war gemeldet. Im Sturm erreichten wir die offene Suo-Bucht und liefen abends in den Hafen von Moji ein. Wir gingen zunächst vor Anker. Ein Amerikaner-Dampfer, der wegen des Sturmes aus dem Gelben Meer zurückgekommen war, hatte unseren Kapitän vor dem Auslaufen gewarnt. Der Kapitän, ein ziemlich junger Japaner, der angeblich zum ersten Male sein Schiff nach Deutschland führte, ließ denn auch die ganze Nacht das Schiff vor Anker liegen.

Am frühen Morgen ging die Fahrt weiter durch die Straße von Schimonoseki. Eisiger Nordwind fegt über das Japanische Meer, summt um die stählernen, grauen Masten und durch die Wanten des Dampfers, der mit stolz qualmendem roten Schornstein aus der Straße von Schimonoseki nach Westen zieht. Hochauf steigt der schwarze Schiffsrumpf und sinkt wieder donnernd ins Wellental, in unabsehbarer Weite türmen sich dunkelblaue Wellenberge, schnellen zischende Schaumkämme in den Wind, versprühen weiße Sturzseen.

Zwischen dem vordersten Backbordboot und dem Ankerkettenluk auf dem glatten, reingespülten Eisendeck gehe ich mit Oehlsen2, einem Kameraden aus der Baracke, gemächlich auf und ab, mit breitem Seemannsschritte, der sich dem wankenden Boden anzupassen weiß. Die zwei dünnen Stahlstangen der Reeling trennen uns von der brüllenden Tiefe, wo das dunkle Meer wütet und brausende Sprühregen zu uns herauf schleudert. Massive Wogen donnern gegen die eiserne Bordwand. Oehlsens graue, scharfe Seemannsaugen schweifen in die Ferne, freiheitsdurstig und doch voll eiserner Resignation. Er atmet tief auf: »Tut einem ordentlich wohl, die freie Seeluft.« »Nach der ewigen Barackenluft«, sage ich, doch er fällt mir barsch ins Wort: »Hör mir auf mit dem...!« Schweigen. Schwarze Wolkenfetzen jagen, zum Greifen niedrig, über die dunkelblauen, sprühenden Wellen. Im Westen leuchtet der Himmel grellgelb. »Das ist ein Schlachtfeld«, sagt Oehlsen, »hier haben die Japaner das Baltische Geschwader des Admirals Rostjetztwenstdi, wie wir ihn nannten, in den Grund geschossen; 's liegt mancher russische Seemann da unten mit seinem Kasten. Da hat's gefunkt. Ich weiß es noch gut, wie die Zäsarewitsch nach der Schlacht in Tsingtau einlief, zerfetzt wie ein alter Blechtank...«

Weit und breit heult die See ihr uraltes Lied. Die Sonne steht rotschimmernd im Westen, legt ihre Glut in die Wolkenränder und auf die Kronenperlen der jagenden Wogen. Wie zur festlichen Feier der Freiheit flammen Himmel und Wellen in unendlicher Weite vor uns auf und drohen zugleich geheimnisvoll im Brüllen des Sturmes. »Jeder Schraubenschlag näher der Heimat«, sagt Oehlsen. Er ist kein Schwärmer, schimpft über die »Skrupellosigkeit« des japanischen Kapitäns, dass er unser Schiff eine Nacht in Moji liegen ließ wegen des Amerikaners, der vor dem »Taifünchen« Angst hatte. Weit und breit ist kein Schiff in Sicht. Im Südwesten am Horizont ist ein grauer Landstreifen mit einem stumpfen massigen Kegel schwach erkennbar. »Die Insel Quelpart«, sagt Oehlsen. »Wie kommt sie eigentlich zu dem französischen Namen. Was heisst Quelpart?«, versucht er mich zu foppen. Ich denke nach und erkläre: »Ein Teil oder irgendein Teil oder irgendwo«, aber er lacht mich aus und sagt, der Name sei koreanisch. Mir auch egal. Beide wissen wir, dass wir kein Interesse daran haben und nur der guten Stimmung irgendwie Ausdruck verleihen wollen. Hart nach Steuerbord überhängend kämpft das Schiff gegen die Wellenberge an. Grell leuchtet der Himmel im Westen, und der graue Felskegel im Osten rückt langsam hinter strichweise niedergehenden Regenschauern in verschwommene Ferne. Japan ist weit hinter uns am Horizont entschwunden.
 

2. Ein letzter Besuch in Tsingtau

Früh morgens am 2. Januar 1920 kam die chinesische Küste in Sicht. Das Meer war ruhig, ein milder Widerschein der Morgenröte lag im Westen auf langen Wolkenzungen und ließ die Konturen der schwarzen, bergigen Küste schärfer hervortreten. Höher und deutlicher, anheimelnd, stieg das Land am Horizont auf, die Küste von Tsingtau. Die zackigen Gipfel des Lauschan, die stahlblauen Riesenwände, die Prinz-Heinrich-Berge, die kahlen gelben Hänge des Perlgebirges waren zu erkennen. Die Inseln Max und Moritz tauchten auf, und deutlich traten dann die Kegel des Iltis- und Bismarckberges hervor.

Das Städtchen Tsingtau lag vor uns. Etwas verändert kam es uns zwar vor. Große Dampfer lagen auf Außenreede. Neue Fabriken mit hohen Schornsteinen waren im Hafenviertel entstanden. Doch wie alte gute Bekannte grüßten uns vom grünen Strande am Fuße des Iltisberges unsere Kasernen und von der Stadt her die behäbigen Fronten der Hotels, des Gouvernementsgebäudes, die Christuskirche, das Observatorium, das Seemannshaus, die Bismarckkasernen, der Mathildenstein, die chinesische Hochschule, die Villen an der Adalbertstraße, das graue Häusermeer des Chinesenviertels Tapautau... Jeden Giebel, jeden Weg erkannten wir von Bord aus. Das ganze Städtchen sprach zu uns von der schönen Zeit, da es unsere zweite Heimat war.

Langsam lief der Dampfer in den Hafen. Deutsche Frauen und Kinder und Hunderte von Chinesen winkten uns da von der Mole aus entgegen. Deutsche Worte, auch von Chinesen gerufen, grüßten zu uns herauf, als der Dampfer anlegte. Die erste Heimatsluft fühlten wir hier. Tsingtau war nun japanische Garnison. Japanische Posten und Offiziere trieben sich am Kai herum. Wir sollten zwei Tage hier bleiben, hieß es. Deutsche Privatgüter würden an Bord genommen.

Wir durften an Land. Hunderte von Chinesen, Geschäftsleute, Studenten und Kulis umschwärmten uns, als wir in losen Gruppen vom Hafen nach der Stadt spazierten. Da und dort gaben sich Chinesen als alte Bekannte zu ernennen: »Master mich kennen, ich Kaufmann Dan von Friedrichstraße, deutscher Soldat immer bei mir gekauft...« »Ich Ordonnanz bei Landbauamt, ich Master noch gut kennen...» »Ich Fritz, die Kaufmann vom Iltisberg; Soldaten immer bei mir kaufen, Ansichtskarten, Zigaretten, Mandarinen...« Emton, unser Waschmann in der Iltiskaserne aus Tschanchan, tauchte plötzlich aus einem Rudel brauner, bezopfter Burschen auf und wurde mit großem Hallo begrüßt. Lun, unser Gerichtsboy, erkannte mich wieder und drückte mir mit tiefer Verneigung die Hand. »Wiederkommen, Deutsche bald wiederkommen, dann alles besser«, sagte er immer wieder. Alle die treuherzigen Kerle, die uns noch kannten und die ihr gebrochenes Deutsch noch nicht verlernt hatten, erzählten dasselbe: »Deutsche wiederkommen, wir mehr verdienen, Deutsche gut, wir nicht vergessen, wir bei Deutsche nicht Bambus bekommen, wie bei andere....« Emton, der Waschmann erzählte noch, dass er zwei Häuser in Tapautau gekauft habe von dem Gelde, das er bei den deutschen Soldaten verdient hatte, aber jetzt ginge das Geschäft schlecht.

Wir wanderten durch die Stadt. Große, neue Geschäftshäuser und Fabriken waren am Hafenviertel gebaut. Viele Straßen sind asphaltiert worden. Die Japaner schienen Tsingtau modern ausbauen zu wollen, aber es war auffallend still in den neuen Fabriken und Geschäftshäusern, und wir hörten auch, dass die neuen Betriebe wenig Absatz und Arbeit hätten und wohl langsam wieder eingehen würden, wie uns alte chinesische Geschäftsleute sagten. Die Straßen und europäischen Häuser schienen uns auch etwas verwahrloster, trotz moderner Aufmachung, als in unserer Zeit.

Wir besuchten den deutschen Friedhof am Hange des Bismarckberges, die Gräber unserer gefallenen Kameraden. In zwei langen Reihen ruhen sie hier, an die zweihundert Seebatailloner und Matrosen, Offiziere und Mannschaften nebeneinander, unter schmalen, schwarzen Grabhügeln. Eiserne Grabkreuze, der Form der Kriegsauszeichnung des Eisernen Kreuzes nachgebildet, schmücken die Gräber sowie Rosensträucher, auf denen weißer Rauhreif lag. Während wir die bekannten Namen an den Kreuzen lasen, stieg das Bild unseres friedlichen, sonnigen Tsingtauer Lebens im Geiste vor uns auf, der Schatten des Krieges und der Kampf. Froh und hoffnungsvoll waren diese unsere Kameraden mit uns in den Kampf gezogen, in gutem Glauben an das Recht der fernen Heimat gefallen. Wir kehrten heim in das zusammengebrochene Vaterland. Wir sahen über die Stadt, über die winterlichen Hänge des Iltisberges, wo die grauen Gebüsche, Akazien und Bambus in winterlichem Grau zu träumen und zu trauern schienen, sahen über die Bucht, von der das rhythmische Rauschen der Strandwogen wie ein Lied von längst vergangenen, sonnigen Tagen heraufdrang zum Hange des Bismarckberges, zu den stillen Gräbern. Verrauschend und wieder anschwellend wird die Brandung den Toten hier ein ewiges Lied singen und die Lebenden zum Gedenken an die stillen Helden, an deutsche Treue mahnen.

In unseren Abschiedsblicken auf die Gräber lag das Versprechen: Wir wollen euch nie vergessen, wollen die Heimat an euch erinnern und wollen im Geiste wieder zurückkehren zu euren Gräbern an den Strand von Tsingtau. Wir schritten den Abhang hinab zum Forstgarten, kamen an unseren Kasernen vorbei, wanderten den Iltisberg hinauf und kamen in unseren Batteriehof. Die zerschossenen Traversen und die Granattrichter waren von dichtem Gestrüpp überwuchert, die Geschütze entfernt, die grauen Betonwände vermorscht und abgebröckelt. Leer und dunkel gähnten Tür- und Fensterhöhlen. Vereinsamt und verlassen lag der Batteriehof.

Auf unserem Wiege über den Iltisplatz begegneten uns drei japanische Unteroffiziere, grüßten uns ernst, stramm militärisch. Sie trugen auf der Brust Orden, die sie vermutlich im Kampfe gegen uns verdient hatten. Auch in der Stadt grüßten uns oft japanische Soldaten. Vor dem Gouvernementsgebäude und dem Gericht standen japanische Posten. Sie hatten Ziegenfelle über den Schultern, Es herrschte eisige, trockene Kälte. Wer wohl jetzt in dem Zimmer, wo ich im Sommer 1914 hauste, wohnen würde, dachte ich mit gemischten Gefühlen, als ich an den Fenstern dieses Zimmers am Gerichtsgebäude vorbeiging! Die Fenster waren geschlossen und verstaubt.

In der Schantungstraße in Tapautau hatte der alte Yinkee noch sein deutsches Kaffeehaus in Betrieb. Es hatte wohl nun einen anderen Namen. Wir statteten ihm noch einen Besuch ab zum Abschied. Das Lokal war voll von japanischen Zivilisten. Yinkee empfing uns mit vielen Verneigungen und verschaffte uns Plätze an den Tischen. Es gab, wie zu unserer Zeit, Bier, Kaffee und Pfannenkuchen zu fabelhaft billigen Preisen, und die Chinesenboys bedienten uns wie der alte Yinkee mit größter Aufmerksamkeit und Höflichkeit. Wir hielten uns jedoch nicht lange auf. In der etwas überlauten japanischen Gesellschaft kam uns so recht wieder zum Bewusstsein, dass wir in Tsingtau fremd geworden. Die japanischen Gäste, die sich hier laut und ungezwungen breit machten, schienen uns nebenbei zu belauern, schienen zu merken, dass eine stille Wut in uns kochte, steckten da und dort die Köpfe zusammen und sahen misstrauisch auf uns. Wir redeten und lachten auch deutlich, zogen Vergleiche zwischen einst und jetzt und mochten auch verächtlich auf sie gedeutet haben. Sie ließen auch merken, dass sie verstanden. Einige von ihnen schienen ihre Landsleute mit Geschrei gegen uns aufhetzen zu wollen. Zündstoff lag in der Luft. Doch wir warteten vergebens auf weiteres und verließen schließlich unter dem Gesang »Deutschland Deutschland über alles« das Lokal des Yinkee.

Wir gingen noch zu Takahashi, dem japanischen Photographen und Raritätenhändler, bei dem wir in Friedenszeit meist unsere Andenken an China und japanische Bilder, Seidenst ickereien, Postkarten und Lackwaren einkauften. Er empfing uns selbstverständlich äußerst höflich. Wir kauften kleine Andenken und er schenkte uns noch Postkarten, Fächer und andere Kleinigkeiten, sprach sein Bedauern über unserer Heimat Unglück und seine Freude über unsere Befreiung aus Gefangenschaft aus. Als er auch noch versicherte, dass er bessere Geschäfte machen würde, wenn wieder deutsche Besatzung in Tsingtau wäre, fanden wir das Kompliment doch nicht ganz aufrichtig. Es lag eine gewisse Verlegenheit in seines glatten Lächeln, und wir fühlten die Ironie heraus.
 

3. Von Tsingtau nach Port Said

Am 4. Januar nachmittags war unser Dampfer klar zur Abfahrt. Wir standen alle an Deck. Auf der Mole hatten sich wieder die noch in Tsingtau bleibenden deutschen Frauen und Kinder und Schwärme von Chinesen eingefunden. Während wir noch auf die Abfahrt warteten, lief ein großer amerikanischer Frachtdampfer ein und legte an der uns gegenüberliegenden Mole an. Er war voll besetzt mit Chinesenkulis, die wie eine zusammengedrängte Schafherde auf den Decks zusammengepfercht waren. Sie kamen, wie man hörte, aus Frankreich, sahen sehr abgemagert, verschmutzt und zerlumpt aus, waren wohl in Frankreich als Arbeitstiere verwendet worden. Der Dampfer trug den Hamen Dollar. Eine seltsame Ironie! War es nicht der Dollar, der Deutschland besiegt hatte? Waren nicht auch diese Kulis gekauft, von unseren Feinden für ihre Zwecke ausgebeutet und elendig und verkommen wiederin ihre arme Heimat, nach China, zurückgeschickt worden?

Am vorderen Maste unseres Dampfers wehte die deutsche Flagge. Es war schon die neue Handelsflagge, schwarz-weiß-rot mit schwarz-rot-goldener Gösch. Am Kai vor unserem Vorschiff führten noch zwei Chinesen zu unserem Abschied einen wilden Tanz auf, wobei ihre Körper, Arme und Beine nur so in der Luft herumwirbelten. Die Musik dazu machte ein dritter Chinese mit zwei rhythmisch klappernden Hölzchen in den Händen. Die Taue wurden losgeworfen und langsam glitt unser Schiff aus dem Hafen. Tausende Hände winkten uns nach, tausende guter Wünsche, auch von Chinesen, begleiteten uns. Am Oberdeck hatte unser Hornist,der kleine Obermatrose K., Posten gefasst und schmetterte aus seiner Trompete , die er aus Tsingtau über die Gefangenschaft herübergerettet hatte, die Melodie des Deutschlandliedes über den Hafen und nach der Stadt zurück Wir passierten die Junuisan-Landzunge, wo einst der größte Tsingtauer Leuchtturm stand, das Hufeisenriff, die Landzunge Huitschienhuk, wo unsere äußerste Küstenbatterie gelegen hatte. Dann ging es in die offene See hinaus, an den Inseln Max und Moritz vorbei nach Süden. Die Shantungküste, die Bucht, das Städtchen Tsingtau und die grünen Hügel werden uns immer als ein trauliches Bild unserer Heimat im Fernen Osten in Erinnerung sein.

Die chinesische Küste war außer Sicht gekommen. Mit Südkurs ging es durch das Ostchinesische Meer. Kein Land war zu sehen. Eine frische Brise wehte aus Osten und nahm von Stunde zu Stunde an Stärke zu. Auf der Höhe von Shanghai war das Meer schmutziggelb. Als wir in die Nähe von Formosa kamen, hatten wir richtigen Sturm, Windstärke 9. An dem Nachmittag, da der Sturm seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien, ging ich mit zwei Kameraden am Achterdeck, spazieren, geradezu aus Uebermut, weil es gefährlich zu werden schien und wir unsere Freiheit spüren wollten. Unaufhörlich schnellte das Schiff auf, stürzte wieder in die Wellenabgründe, wälzte sich. Das Eisendeck zitterte, Sturzseen zischten auf uns nieder und durchnässten uns, aber wir gingen spazieren, wollten das Toben der Elemente voll auskosten und kämpfen. Immer wieder warf uns das stoßweise Aufsteigen und Senken des Bodens gegeneinander, gegen Reling, Taurollen, Winden oder Ladebäume, und man musste sich da und dort wieder anklammern, um nicht an Deck herumzukugeln. Der Sturm schrie in den Stahltauen der Masten und Wanten, und alle Eisenwände ächzten und zitterten. Und wenn wir untergingen, dachten wir, wir würden wir doch in der Freiheit untergehen, in der Freiheit kämpfend.

Unter dem Bootsdeck, an der Wand einer Deckskabine, war eine Seekarte angebracht, auf der durch eine kleine Flagge täglich der Standort unseres Schiffes bezeichnet war. Auf der Karte verfolgten wir das Fortschreiten unserer Reise. Der Weg, den die meisten von uns vor sieben Jahren in entgegengesetzter Richtung gemacht hatten, schien uns von Tag zu Tag anheimelnder. Die Welt war nicht groß. Wie man auf einem Sonntagsausflug auf der Kleinbahn die Stationen abliest, so ungefähr stellten wir auf der Karte fest, wo wir uns auf See befanden. In Höhe von Tongking, Siam, Malacca... In einer sternhellen Nacht passierten wir Singapore. Nur starker Lichtschein von der Stadt und dunkle Hügel waren zu sehen.

Dann ging der Kurs nach Norden. Wir sahen Asien wieder von der Westseite. Grünschillernde Palmenwälder leuchteten von der sonnigen Küste Malaccas und weit im Hintergrunde hellblaue Bergriesen. Freundlicher, schon traulicher als die chinesische Küste mutete die indische Westküste an. Spiegelglatt lag die Malaccastraße vor uns. Auch die Urwaldküste von Sumatra war zu sehen.

Ein Kamerad aus dem Gefangenenlager, Steuermann W., starb an Bord überraschend schnell an Lungenentzündung während unserer Fahrt durch die Malaccastraße. An einem sonnigen Nachmittag wurde der Tote dem Meere übergeben, Die Flagge wehte auf Halbmast, der Dampfer stoppte. Am Achterdeck hatten wir uns in stiller Trauer um den Toten versammelt, der, in graues Segeltuch gehüllt, das mit Eisenstäben beschwert war, mit der deutschen Kriegsflagge bedeckt an Deck lag. Einer unserer Offiziere sprach ein Gebet, während der Tote auf einer Planke an die Reling gebracht wurde. Zwei Mann hoben dann an der Reling die Planke an einem Ende hoch. Ein kurzer Aufschlag nur, am Wasser zeigten nur noch einige Wellenkreise das Grab des Kameraden. Tränen drängten sich in unsere Augen. Das Meer leuchtete so friedlich im Sonnenschein. Die Maschinen gingen wieder an, das Kielwasser rauschte, die Fahrt ging weiter. Die Flagge stieg in den Top. Weit hinter uns zogen weiße Möwen Kreise über der Steile, wo das Grab des Kameraden lag, das keine Blumen und kein Kreuzlein schmückte und das wohl niemand mehr finden wird. Das sonnige Meer hatte sich wieder darüber geglättet. Wir sahen noch lange zurück.

Wir näherten uns der Nordspitze von Sumatra, der Insel Poeloe Weh, wo wir Kohlen nehmen sollten. Auf ziemlich schmaler Fahrstraße fuhr der Dampfer bald zwischen sattgrünen Urwaldufern in weitem Bogen nach dem Innern der Sabang-Bay. Es schien uns, als wären wir in ein Paradies voll von gigantischen, fremden Waldszenerien gekommen. Der Dampfer legte an einer großen Holzbrücke, in deren Nähe riesige Krane und Kohlenberge waren, an. Wir konnten an Band gehen. Das Städtchen Sabang liegt auf einer Anhöhe an der schmalen Bucht, von Palmen, Urwaldriesen und Tropengebüsch fast verdeckt. Mit einigen Kameraden machte ich einen Spaziergang in die Urwaldwildnis der Umgebung. Ein schmaler Weg, von den dichten Aromen der turmhohen Bäume überdeckt, an beiden Seiten von undurchdringlichem Gebüsch, Bündeln von Schlingpflanzen und üppigen Sträuchern begrenzt, führte den Berg hinan. Einige junge Malayinnen mit nackten Oberkörpern, glänzender brauner Haut, schnitten am Wege große Blätter vom Buschwerk. Wir kamen auf ein großes Plateau, an einen stillen, grünen Bergsee, wo eine Badeanstalt war, nahmen da ein Bad, für das der Malaye, der die Aufsicht hatte, einen Gulden pro Mann verlangte. Dann wanderten wir noch ein Stück weiter in den Urwald. Ein Abkommen vom Wege war unmöglich, die Wildnis zu beiden Seiten war zu dicht. Mein Freund Oehlsen wollte sich hier einen kleinen Urwaldaffen für die Heimat mitnehmen, hatte sich das aber zu einfach vorgestellt. Wir sahen wohl einige graue Affen in den Baumkronen herumhüpfen und sich an den Schlinggewächsen schaukeln, aber ihnen nachzusetzen war undenkbar. Sogar die Affen schienen über unsere Pläne zu lachen. Seltsame buntfarbige Vögel waren manchmal in den Baumkronen und Büschen zu sehen. Man war versucht zu wünschen, dass wir länger hierbleiben könnten, um diese herrliche Wildnis näher kennen zu lernen.

Nachdem wir in die Stadt zurückgekehrt waren, in der die holländischen Master in ihren Villen sehr zurückgezogen zu leben schienen, besuchten wir die die Kaserne der holländischen Kolonialtruppe. Es dienten da weiße Holländer und Malayen. Viele Holländer sprachen auch Deutsch. Sie klagten meist über die Einsamkeit, in der sie hier lebten, schwärmten von ihrem Mutterlande und einige, die schon in Deutschland waren, auch von unserer Heimat. Ein älterer Unteroffizier sagte uns: »Hier ist das Soldatenleben gefährlich; die Sehnsucht nach der Heimat, nach der zivilisierten Welt, der Schnaps und die Weiber richten manchen von uns zugrunde. Jeder wartet mit Schmerzen, bis die fünf Jahre Dienstzeit herum sind.« Wir konnten das nachfühlen. Die Kasernen waren sehr sauber und luftig. In den Kantinen ging es äußerst lebhaft zu, und wir merkten, dass viele der Kolonialsoldaten im Trinken die einzige angenehme Abwechslung suchten.

Es herrschte eine Hitze von etwa 50 Grad Celsius. Auf freiem, besonntem Platze konnte man es kaum aushalten. Es fiel uns auf, dass es hier sehr viele japanische Geschäfte gab. Diese wie auch die Geschäfte der Malayen und der wenigen Europäer führten Schmucksachen, Wäsche, Stickerei, Teppiche, Lackwaren, Seide, Schnitzereien, meist Schundwaren, Massenartikel aus europäischen Fabriken. Wir hofften, hier billige Rauchwaren zu bekommen, sahen uns aber sehr enttäuscht. Alles war ungemein teuer mit Ausnahme der Tropenfrüchte, Kokosnüsse, Bananen, Mandarinen, Ananas usw. Einige unserer Kameraden wollten noch in der Bucht baden, wurden aber von Holländern davor gewarnt, da sich, wie diese sagten, in der Bucht oft Haifische herumtrieben.
Als am 20. Januar nachmittags unser Dampfer zum Auslaufen klar war, trieben sich am Kai mehrere betrunkene Kolonialsoldaten herum, die versuchten, zu uns an Bord zu kommen, vermutlich um mit uns zu fahren. Einige bewaffnete holländische Patrouillen am Kai und die Besatzung eines Polizeibootes passten scharf auf, dass kein Fremder sich zu uns schmuggelte. Gegen Abend verließ unser Schiff Sabang.

In zehntägiger Fahrt bei spiegelglatter See kamen wir durch den Indischen Ozean und das Arabische Meer. Am 2. Februar morgens passierten wir die schwarzen Felsen, zwischen denen die englische Hafenstadt Aden liegt. Nachmittags fuhren wir in die Meerenge von Perim. Im Westen wie im Osten begrenzte schwarzes, hügeliges Land die Meerstraße. Kein Baum, kein Strauch, kein grünes Fleckchen ist an diesen Küsten zu sehen, nur trostlose, ausgebrannte Erde, die in der Sonne wie eine erstarrte Lavaflut glänzte. Fast unerträgliche Tropenglut lag auf dem stillen Wasser und auf den ausgestorbenen Ufern. Hier am Tor der Tränen, Bab el Mandeb, wie es heisst, sind früher viele Schiffe an den Felsenriffen zerschellt und ruhen am Grunde.

Im Roten Meer kam leichter Westwind auf. Es herrschte trotzdem noch Tag und Nacht schwüle Luft. Graue, nackte Felseninseln tauchten vereinzelt in scharfen Umrissen auf. Ein eigenartiger Zauber, den wir schon auf unserer Ausreise gespürt hatten, liegt besonders in der Nacht auf dem Roten Meere. Das Schiff wirft da seltsam phosphoreszierende Wellen, die sich wie grünlich schillernde Perlenschleier an den Bordwänden entlangziehen. Die Flut ist wie schwer fallender, dunkler Samt. Der letzten Nacht im Roten Meer erinnere ich mich noch deutlich. Vor uns kreuzte in der sternhellen Nacht ein schwarzes Fahrzeug mit schlackernden viereckigen Segeln, rauschte geisterhaft vor unserem Bug vorbei mit Kurs nach der arabischen Küste. Ein rotgelbes Feuer flackerte am Bug des nächtlichen Seglers, und eine dunkle Gestalt zerrte an den Leinen der Takelung. Das dunkle Meer war leicht bewegt. Am klaren Nachthimmel leuchtete das Sternbild »Kreuz des Südens« wie ein segnendes Zeichen aus dem geheimnisvollen, sternflimmernden Firmament hernieder. Fern im Osten lag ein roter Schein am Horizont.

Im Scheine der Morgensonne sahen wir im Nordosten die hohen rotgelben Wände des Sinaigebirges. Seezeichen, Bojen, zeigten den Weg zum Suezkanal. An der Einfahrt zum Kanal begegnete uns ein großer Frachtdampfer. Er fuhr unter englischer Flagge und trug den Namen Kurland. Es war ein deutsches Schiff, das nach dem Friedensvertrag an England ausgeliefert worden war. Am Heck war auch noch die deutsche Bezeichnung Kurland Hamburg zu sehen. Ein Reservist von uns sagte, er sei auf dem Schiff früher schon als Steward gefahren. Im Suezkanal, in den Bitterseen begegnete uns wieder ein deutsches Schiff unter englischer Flagge. Es trug noch den Namen Prinz Ludwig. Die ersten Zeugen des verlorenen Krieges bekamen wir so vor Augen. Bitterkeit stieg wohl in jedem von uns beim Anblick dieser Schiffe auf.

An den Ufern des Suezkanals sahen wir dann auch die ersten Zeichen der nun beendeten Kämpfe des Weltkrieges, den wir fünf Jahre lang nur aus Zeitungsberichten kennenzulernen suchten. Stacheldrahtverhaue zogen sich an den sandigen Ufern des Kanals hin. Im Osten und Westen lag blendend die weiße Landwüste im Sonnnenschein. Nur am westlichen Ufer, an dem eine Bahnlinie entlang führt, sind einzelne Palmen und kleine, luftige Stationsgebäude zu sehen, Mit langsamer Fahrt passierten wir Kantara, das uns aus Zeitungsberichten als Kampfplatz bekannt war. Vor dem großen Lagerhaus am Ufer stand eine Reihe schwerbepackter Kamele. Braune, in wallende leichte Mäntel gehüllte Araber oder Mohammedaner standen bei den Kamelen herum. An beiden Ufern waren tausende grauweißer Zelte aufgeschlagen. Es war ein großes englisches Militärlager da zu beiden Seiten des Kanals. Farbige und weiße englische Soldaten kampierten hier. Einige weiße £ngländer standen am Anlegesteg der Fähre und grüßten zu uns herauf, als unser Dampfer langsam vorüberglitt. Nachlässig erwiderten wir das Winken. Ein dicker Engländer, anscheinend Offizier und alter Kolonist, rief uns zu: »Let us forget the war!« Er hatte leicht reden, sagten wir.
An einem Sontagnachmittag liefen wir in Port Said ein, gingen vor Anker. Steuerbord lagen eine Menge größerer und kleinerer Handelsschiffe, leer, unbelebt, verblasst in den Farben und rostig. Auch deutsche waren darunter. Einige hatten Sprenglöcher an den Bordwänden und teilweise zertrümmerte Decksaufbauten. Die Schiffe lagen noch vom Kriege her; die Engländer hatten wohl keine Verwendung dafür. Wir sahen immer mehr vom Kriege, kamen dem ehemaligen Kampfgebiet immer näher. Wir nahmen Kohlen und Proviant, lebendes Vieh, abgetriebene, splitterdürre Rinder, an Bord. Seit den sieben Jahren, da ich Port Said nicht mehr gesehen hatte, schien sich hier nicht viel geändert zu haben. Wie damals, auf unserer Ausreise, drängten sich nun wieder Scharen von arabischen und jüdischen Händlern an Bord, meist schmierige Gestalten, die uns ihren glitzernden Schund, Schmucksachen, Stickereien, Tabakspfeifen usw. aufzudrängen suchten. Das Volk der Händler und Hafenarbeiter, meist verschmutzte Orientale und Europäertypen von wenig vertrauenerweckendem Aussehen und Benehmen, schien, wie früher, aus dem Abschaum der Menschheit zusammengewürfelt zu sein. Wir blieben nur einen Tag hier und kamen nicht an Land. Es hatte auch keiner großes Verlangen nach einem längeren Aufenthalt oder nach einem Bummel in Port Said.
 

4. Von Port Said bis zur deutschen Küste

Wir waren froh, als es »Anker auf« hieß und es an der langen Kaimauer, an der Riesenstatue Lesseps vorbei, wieder in die offene See hinausging, Einige Seemeilen außerhalb des Hafens sahen wir an Steuerbord mehrere Mastspitzen von versenkten Schiffen aus dem Meer aufragen. Ein englischer Kreuzer lag in der Nähe vor Anker, und die Tommies winkten zu uns herüber. Die gesunkenen Schiffe waren wohl Opfer des Krieges, der Minen oder U-Boote. Das Mittelmeer war stürmisch. Ein eisiger Wind jagte schwarze, tiefhängende Wolken ständig vom Westen her. Wir froren elend, zumal wir die Kälte, nach fünf Wochen Fahrt in wärmeren Zonen, nicht mehr gewöhnt waren. Wir kamen in noch gefährliche Seekriegszonen. In den Gewässern bei Alexandria und Tripolis sollten noch ausgedehnte Minenfelder liegen, wurde bekannt. Wir mussten nachts Posten am Vormast aufstellen, die nach eventuell im Wasser treibenden Minen Ausguck halten sollten. In den stockdunklen Nächten bei dem wilden Seegang eine treibende Mine rechtzeitig zu sehen, war allerdings unwahrscheinlich, aber wir machten den Postendienst mit Vergnügen. Es gab überhaupt auf der ganzen Reise keine Unstimmigkeiten über die Anordnungen unseres deutschen Transportführers, des Kapitäns V., wie es auch zwischen den anderen Vorgesetzten und den Mannschaften auf dieser Reise keine Reibereien mehr gab, obwohl oder vielleicht gerade, weil keine strengen und kleinlichen Vorschriften über das Verhalten und den täglichen Schiffsreinigungsdienst gemacht worden waren. Wir bekamen gutes Essen, Offiziere und Mannschaften gleiche Kost, reinigten täglich unsere Räume und die Decks und hielten ohne Aufsicht musterhafte Ordnung. Unser Transportführer ließ auch nur anordnen, was jeder als vernünftig und zweckmäßig anerkennen musste, und das wurde bereitwillig getan. Jeder wusste, dass wir bald in der Heimat nach allen Richtungen verstreut werden würden, und keiner dachte noch daran, sich um Kleinigkeiten mit Vorgesetzten oder Kameraden, mit denen man die gleichen schönen und traurigen Erinnerungen teilte, noch zu verkrachen. Wir waren an Bord eine große, friedliche Familie, die ihre Schwächen und starken Seiten kannte, sich des gemeinsamen Unglücks und Glücks bewusst war und nur zunächst ein Ziel hatte: eine glückliche Ankunft in unserer deutschen Heimat.

Auf der Fahrt durch das östliche Mittelmeer hatte das Schiff andauernd schwer gegen den Sturm zu kämpfen. Viel zu langsam für unsere Vorfreude auf das Wiedersehen in der Heimat kamen wir vorwärts. Nur 4 bis 5 Seemeilen die Stunde machte das Schiff im Sturm, während es bei ruhiger See 10 bis 12 Seemeilen fuhr. Das Fähnlein auf der Seekarte rückte täglich nur eine winzige Strecke vor. Auf der Höhe von Kreta begegnete uns in der Abenddämmerung ein großser, weißer Passagierdampfer, der die englische Flagge führte, alle Decks und Kabinenfenster hell beleuchtet hatte, so dass er aussah wie ein riesiges schwimmendes Hotel zur Nachtzeit. Als der Dampfer nahe an uns vorbeirauschte, lasen wir an seinem Bug den Namen Gablonz. Es war ein Schiff vom Österreichischen Lloyd, das nun wohl auch den Engländern gehörte.

Als wir in die Nähe von Sizilien kamen, flaute der Sturm ab und der Himmel heiterte sich auf. An einem sonnigen Nachmittag sahen wir dann im Süden die gelbroten Felsen der Insel Malta aus der blauen Flut aufleuchten. Vor sieben Jahren, auf der Ausreise, waren wir als Rekruten einen Tag auf Malta, in La Valetta, an Land gewesen und hatten die erste Bekanntschaft mit englischen Matrosen gemacht. Damals gehörte uns noch sozusagen die Welt.

Das schöne Wetter hielt nur wenige Tage an. Auf der Höhe von Algier wehte wieder der schönste Weststurm, der seinen Höhepunkt erreichte, als wir in die Straße von Gibraltar kamen. Die Meerenge passierten wir in der Nacht. Eine schaurige Sturmnacht war es, in der das Schiff bald zwischen brüllenden Wellenbergen untertauchte, bald wieder hochgeschnellt wurde, so dass ständig alle Spanten, Nieten und Wände knirschten, oft die Schiffsschrauben in der Luft wirbelten und der ganze Kasten zu bersten drohte. An Deck konnte man sich kaum mehr halten. Die Sturzwellen vertrieben auch mich vom Deck. In der Koje liegend, wurde ich vom Rollen des Schiffes hin und her gewälzt. Blecheimer, Kisten und Schüsseln kollerten krachend und klirrend am Boden herum. Woge auf Woge donnerte gegen die Bordwände, und in dem ohrenbetäubenden Rauschen, dem Ächzen und Krachen der Verstrebungen des Schiffsrumpfes glaubte man jeden Augenblick das Bersten der Wände und das Hereinstürzen der Wassermassen zu hören. Es war, als wollte der Meergott Neptun nun mit aller Gewalt das Schiff noch zertrümmern und in die Tiefe reissen. Das Wutgeheul des Sturmes drang bis in die untersten Räume. Die Nacht schien mir eine Ewigkeit zu dauern. Zum ersten Male fühlte ich wirkliche Angst. Ich dachte schon zu viel daran, dass wir vor den Toren der Heimat waren. Alle schienen mehr als sonst daran zu denken und waren darum besorgt schweigsam.

Am Morgen ließ der Sturm merklich nach. Wir fuhren im Atlantik. Langgezogene Wellenhügel rollten unentwegt vom Westen heran, die Luft war klar und die grauen Wolken zerteilten sich langsam am aufhellenden Himmel. Wir fuhren nördlichen Kurs. Im Osten kam die portugiesische Küste, Kap St.Vincent, in Sicht, dann grüne sanfte Hügelzüge. Von grünem Gipfel grüßte das Königsschloss von Lissabon. Beinahe heimatlich muteten uns die Wälder und grünen Halden der Hänge an, zu deren Füßen die tiefblaue See sanft wogte. Eine graue Felsenküste, Kap Finisterre, sichteten wir noch kurz, dann lagen die Länder des sonnigen Südens hinter uns.

Durch den ewig unruhigen Golf von Biskaya ging die Fahrt. Land war nicht zu sehen. Weit im Norden stieg gelbgrauer Nebel auf und kroch langsam näher. Bald waren wir dicht von den Nebelschwaden umhüllt. Der Dampfer verlangsamte die Fahrt. Den ganzen Tag und die Nacht über fuhren wir langsam. Am Morgen war der Nebel so dicht, dass man von der Kommandobrücke aus Masten und Deck kaum mehr sehen konnte. Das Schiff fuhr ganz langsam. Keine drei Meter weit konnte man noch sehen. Die Sirene heulte und die Schiffsglocke wurde andauernd in regelmäßigen Zeitabständen angeschlagen. Warnend drangen das Heulen und der Glockenschlag in den Nebel. Es klang seltsam scharf, wie in einem engen Boot. Angestrengt starrte man in den dichten gelben Dunst, horchte auf das Rauschen der Wogen, gefasst auf das Auftauchen eines Schiffsbugs aus der Nebelwand dicht vor oder neben unserem Schiffe. Man fühlte, die Gefahr war größer als im Sturme.

Lange schlich so das Schiff mit halber Fahrt dahin, da wurde es plötzlich vor uns heller, die Nebelwand trat zurück und einige hundert Meter vor unserem Bug sahen wir graue nackte Hügel und einen kleinen schwarz-weißen Leuchtturm. Gellend läutete unser Maschinentelegraph, ein Zittern ging durch den Schiffskörper, »Äußerste Kraftzurück« arbeiteten die Maschinen, das Schiff stand, ging langsam zurück. Wir glaubten, den Sand unter dem Schiffsboden knirschen zu hören. Auf der Kommandobrücke herrschte einige Aufregung. Bei dem japanischen Kapitän standen mehrere unserer Seeoffiziere mit Ferngläsern, Sextanten und Karten. Der Kapitän hatte den richtigen Kurs verloren und den Leuchtturm, den die Seeleute den »preußischen Grenadier« nannten, gesucht. Beinahe wären wir dabei auf die französische Küste aufgefahren, aber wir hatten den Leuchtturm vor uns. Wir hörten, dass unsere Seeoffiziere, die die Küste und die Gewässer hier gut kannten, sich erboten, das Schiff nun weiter zu führen, doch das ließ der Japaner nicht zu. Er hatte den Ehrgeiz, die Fahrt zu Ende zu führen und die Verantwortung zu behalten. Er wollte allerdings hier liegen bleiben, bis der Nebel sich genügend verzogen haben würde. Der Anker rasselte in die Tiefe und – wir fluchten, grimmig ob der Aussicht, hier vielleicht noch tagelang warten zu müssen. Die Nacht brach an und der Nebel lag dichter denn je um uns. Spät gingen wir in unsere Schlafräume unter Deck, und unter dem regelmäßigen Aufheulen der Sirene und dem Anschlagen der Glocke schliefen wir ein.

Am Morgen war der Nebel weit zurückgetreten. Anker auf! Mit voller Fahrt ging es nach – Westen. »Nach Amerikal«, sagten wir lachend. Es wurde heller. Die gelben Dunstschwaden zogen sich immer weiter nach dem Horizont zu. Im Norden sichteten wir einen großen schwarzen Frachtdampfer mit zwei Schornsteinen und amerikanischer Flagge. Er hatte Nord-Ost-Kurs. In weitem Bogen nach Nordost abschwenkend, folgte unser Dampfer nun dem Kurse des Amerikaners, der gefunkt hatte, dass er auf der Fahrt nach Hamburg sei. Nun konnte uns nichts mehr fehlen. Unser Kapitän brauchte sich nur im Kielwasser des Amerikaners zu halten, dann kamen wir ja wohl nach Deutschland.

Klarblauer Himmel. Die Mittagssonne hatte den Nebel vollends verjagt. Wir fahren im Kanal zwischen Dover und Calais. Die leichtgekräuselte Flut glänzt weithin silbern und blendend im Scheine der Vorfrühlingssonne. Die Herzen schlagen freudiger, die Augen leuchten im Freiheitsgefühl. Es geht in das deutsche Meer, in unsere Nordsee. Mit voller Kraft laufen die Maschinen, fröhlicher und eiliger scheinen die Schiffsschrauben zu arbeiten, und traulicher rauschen uns die Wellen um die Bordwände, In die Heimat, in die Heimat...

Sinnend blicke ich über die weite, flimmernde See. Sehe ich dort nicht viele weiße Kreuze mit Kränzen dicht unter dem grünsilbernen Wogenschleier! Tief unten am Meeresgrunde ruhen unzählige Kameraden, gefallen auf Schlachtschiffen, Kreuzern, Torpedobooten und U-booten, auf Minenschiffen und Wachbooten. Die See rauscht ihr ewiges Lied über ihre Leiber. Werden wir ihrer, ihres guten Glaubens an deutsches Recht, immer gedenken?

Die Sonne sinkt, feuerrot leuchtet die See. Starker Wind kommt auf. An Steuerbord voraus sichten wir braune holländische Fischerboote. Sie tanzen in den vom Abendrot durchglühten Wogen wie in einem Flammenmeer. Wir fahren nahe an den Booten vorbei, und wettergebräunte, biedere Fischer winken herzerfreuend zu uns herauf. Die Nacht ist sternklar und mild. Wir bleiben an Deck, gehen in mühsam verhaltener Unruhe auf und ab. Niemand will schlafengehen. Die Blicke richten sich immer wieder nach Osten, nach dem Horizont, wo der grünlichblaue Nachthimmel sich scharf abgrenzt auf dem schwarzen Wasser. Spät in der Nacht ist dort ein schwacher Lichtschein erkennbar, der langsam, ganz langsam sich am Horizont ausbreitet. Der Schein der Leuchtfeuer von Helgoland, von den Inseln vor dem Jadebusen, von Wilhelmshaven. Der erste, leuchtende, schweigende Gruß des Heimatlandes.
 

Anmerkungen

1. Hauptsächlich fuhren die Leute aus Bando mit der Hofuku Maru.

2. Unbekannter Name! Dieses Problem stellt sich häufiger, wobei es nicht klar ist, ob der Verfasser für einige Leute Spitz- oder Ersatznamen statt Klarnamen verwendet hat oder schlicht ein Schreibfehler vorliegt. Der Redakteur verzichtet auf weitere Anmerkungen in solchen Fällen.
 

© Jakob Neumaier: für diese Fassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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