Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Mit Dr. Othmer in japanischer Gefangenschaft

von Richard Bergemann

Richard Bergemann, vormals leitender Verwaltungsbeamter des Tsingtauer Gerichts, hat 1934 aus Anlass des Todes von Prof. Dr. Wilhelm Othmer an dessen Tätigkeit in den Lagern Osaka und Ninoshima erinnert. Der folgende Text wurde der Ostasiatischen Rundschau, Jahrgang 15 (1934), Heft 4, S. 87 entnommen.
 

In der "Ostasiatischen Rundschau" vom 16. Januar 1934 hat Professor Dr. Lessing, einer der Begleiter Sven Hedins auf seinen Reisen in der Mongolei, seinem Freunde Dr. Othmer einen Nachruf gewidmet, der mit dem Herzen geschrieben ist und ein geradezu plastisches Lebensbild des Verstorbenen darstellt, wie es auch besser nicht gezeichnet werden kann.

Wenn ich ihm trotzdem noch ein paar Zeilen widmen darf, dann fühle ich mich in gewissem Sinne im Namen aller der Kriegsgefangenen dazu verpflichtet, die, ich darf es ruhig sagen, den Vorzug und das Glück hatten, mit einem solchen Mann mehr als fünf Jahre hinter dem drei Meter hohen Bretterzaun zu leben. Erst der oben erwähnte Nachruf hat uns klar vor Augen geführt, mit wem wir unser hartes Los teilen mußten. Das war nicht einer der vielen Kriegsgefangenen schlechthin, sondern eine wissenschaftliche Größe, die wir in Japan nie richtig erkannt haben. Woher sollten wir es auch wissen? Othmer war bis zum Ausbruch des Krieges Dozent an der Deutsch-Chinesischen Hochschule in Tsingtau gewesen, äußerlich in der Kolonie nie hervorgetreten, weil das seinem Wesen gar nicht lag. Und als sich Tsingtau zur Verteidigung rüstete, da erschien er, dessen Stolz es war, daß er einen Hindenburg während seines Dienstjahres im 3. Garde-Regiment zu Fuß zum Kommandeur gehabt hatte, als Reserveoffizier neben vielen anderen und tat seine Pflicht auf dem Posten, auf den er gestellt wurde.

Othmer hat sich niemals die gute Laune verderben lassen. Sein Tagewerk war vom ersten Augenblick an geregelt. Während viele, vielleicht die meisten zunächst nicht wußten, was sie mit der Zeit anfangen sollten, saß er schon am Kasernentisch und arbeitete weiter an der deutsch-chinesischen Sprachlehre (Lessing/Othmer), die wohl das heute vorhandene beste Lehrbuch dieser Art bildet. Trotzdem war er kein Stubenhocker, aber sein Stundenplan war festgelegt. Es währte nicht lange und man trat an ihn mit der Bitte heran, chinesischen Unterricht zu erteilen. Im Lager war eine ganze Anzahl Kaufleute, die nach dem Kriege im Fernen Osten ihre Geschäfte wieder aufnehmen wollten und sich mit Recht Erfolg von der Beherrschung des Chinesischen versprachen. Es war nicht nur der Wille der Schüler, sondern vielmehr die Art, wie Othmer lehrte, daß hier Vortreffliches erreicht wurde. Kein anderer Lehrer hätte das geschafft; denn es handelte sich doch auch nicht mehr um junge Leute, sondern überwiegend um Familienväter in vorgerückten Jahren. Ein Lehrkursus erzeugte, ich möchte sagen, automatisch den anderen. Und auch andere im Lager befindliche Lehrkräfte wurden um ihre Mitwirkung angegangen. So änderte sich Osaka bald zu einem Schullager um, wie es besser nicht gedacht werden konnte. Wo immer es möglich war, wirkte Othmer mit. Wir hatten auch ein paar junge Leute unter uns, die das Gymnasium in Tsingtau bei Kriegsausbruch hatten verlassen müssen und gern die Einjährigen-Prüfung ablegen wollten. Othmer allein war der Mann, der einen solchen Kursus einrichten konnte. Dazu fanden sich dann noch einige Mannschaften und Unteroffiziere, Leute, die nur die Volksschule hatten besuchen können. Eine Lehrkommission unter dem Vorsitz des rangältesten Offiziers wurde gegründet und nach gegebener Zeit bestanden in Osaka und später in Ninoshima nicht weniger als zehn Schüler die Prüfung, die dann später in neun Fällen von der deutschen Regierung anerkannt wurde. Kein anderes Kriegsgefangenenlager in Japan konnte einen solchen Erfolg verzeichnen, wenn auch in einigen auf anderem Gebiet Hervorragendes in Kunst und Wissenschaft geleistet wurde.

Als wir 1917 in das Lager Ninoshima, auf einer einsamen Insel gelegen, kamen, in dem sich nicht einmal ein zum Fussballspiel genügend großer Platz befand, da wurde der Unterricht verboten. Erst das Erscheinen des schwedischen Pfarrers Neander vom Roten Kreuz, der uns eine tiefergreifende Predigt hielt und nachher erklärte, daß er befugt sei, alle unsere Beschwerden entgegenzunehmen, schaffte hier Wandel. Wir erhielten die Erlaubnis zum Unterricht. Mit Hilfe des deutschen Hilfswerkes gelang es uns, aus den von diesem zur Verfügung gestellten Mitteln eine für unsere Zwecke vorzüglich geeignete Schul- und Theaterbaracke zu errichten: vier Unterrichtszimmer und eine Bühne. Der Andrang zur Schule war erheblich. Und auch hier wurde Othmer wieder einer der Führenden; 23 Lehrkräfte auf jedem nur erdenklichen Gebiet stellten sich zur Verfügung, und täglich fanden etwa 16 Unterrichtsstunden statt. Mancher von uns wird trotz allem die Zeit segnen, die es ihm dort draußen möglich machte, nach Friedensschluß nicht ganz mit leeren Händen dazustehen.

Aber Othmer lehrte nicht nur, er lernte auch selbst. Während ihm bis dahin die japanische Sprache völlig fremd gewesen war, brachte er es doch lange vor Beendigung der Kriegsgefangenschaft zu dem erstaunlichen Ergebnis, daß er Japaner in ihrer eigenen Muttersprache unterrichten konnte. Und so war es ihm auch in den letzten Jahren ein leichtes geworden, täglich für unsere ungedruckte Lagerzeitung die Nachrichten vom Kriegsschauplatz aus den japanischen Zeitungen zu übersetzen, so daß wir in dieser Beziehung immer auf das Beste unterrichtet waren. Ich sehe noch, wie sich morgens eine große Zahl interessierter Kriegsgefangener vor dem Papierfenster Othmers sammelte, um das laute Diktat gleich mit anzuhören. Das war sein einziger Fehler. Er sprach jedes Wort bis in die Endsilbe laut und vernehmlich. Da unsere vier Schulzimmer nicht gerade schallsicher waren, mußten regelmäßig auch die anderen Klassen seinen Unterricht mitgenießen.

Wie ich schon oben ausführte, war 0thmers Wissen außerordentlich vielseitig. Ein Konversationslexikon hatten wir trotz einer guten Bücherei nicht im Lager. Und wie oft kamen naturgemäß Streitfragen, die keiner entscheiden konnte. Wozu lange streiten, sagten wir, gehen wir zu unserem wandelnden Konversationslexikon, zu Othmer! Mit Hilfe eines offenbar mnemotechnischen Systems war es ihm ein leichtes, die Regierungszeit eines längst verstorbenen Papstes, den Tag einer Schlacht aus dem grauen Mittelalter und dergleichen herauszubringen.

Wir ehemaligen Kameraden aus Tsingtaus schwerster Zeit trauern aufrichtig und tief um einen Prachtmenschen, der sein Volk und sein Vaterland über alles schätzte, von dem wir ruhig sagen dürfen, daß er sein Leben für seine Freunde gelassen hat. Er soll uns ein Vorbild, aber auch eine frohe Erinnerung bleiben, solange wir Überlebenden noch das Licht sehen.


 

©  Hans-Joachim Schmidt
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