Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Käpt'n Taudin

von Ernst Kluge (mit Ergänzungen des Redakteurs)


Zu den von Ernst Kluge gesammelten Anekdoten gehört auch die hier folgende, den Gefangenen Hugo Taudin betreffend. (Die Schreibweise »Taudien« ist wahrscheinlich korrekter, eine sichere Aussage ist jedoch nicht möglich, weil exakte Daten zur Person fehlen.)

Käpt'n Taudin, Vice-Steuermann d.R., alter »Beach-Comber«, kleiner, runder gemütlicher Ostpreuße, nicht mehr der Jüngste, hatte nach zwei Jahren Gefangenschaft die Nase voll. Seine »Tante« aus Shanghai schickte kein Geld mehr – das drückte auf die Alkoholversorgung (via Offizierskantine); seine Mutter, »die gute alte Schachtel«, ließ auch nichts mehr von sich hören, und Käpt'n Taudin beschloss zu fliehen, und nun wurde alles vorbereitet.


Erstes Problem: Wie kommt er aus dem Lager raus? Nun, das war verhältnismäßig einfach: Hinter der Lokuspromenade lag der etwa 2 m hohe, mit Stacheldraht geschmückte Bretterzaun. Längs des Zaunes auf der Innenseite standen in Abständen von etwa 50 m Schilderhäuser, davor je ein Einzelposten. In der Mitte zwischen zwei Schilderhäusern sollte Käpt'n Taudin, zunächst gedeckt durch zwei Lokusse, bereit stehen; dazu vier kräftige Leute, die ihn mit einer Stange, auf die er sich setzen sollte, über den Zaun wuchten würden. Gleichzeitig bildeten sich in der Nähe der Schilderhäuser unauffällig zwei Gruppen von Kameraden, die auf ein gegebenes Zeichen vor den Schilderhäusern Prügeleien veranstalten sollten, um die Posten zu beschäftigen. Dieser Augenblick sollte genutzt werden, um Käpt'n Taudin über den Zaun zu werfen.

Zweites Problem: Die Flucht musste möglichst lange unentdeckt bleiben, um einen guten Vorsprung zu sichern. Das war auch nicht sehr schwierig. Das »Abzählen!« begann beim Morgenappell bei Baracke 9 und lief dann auf unserer Seite bis Baracke 16 weiter. Sobald das Abzählen bei Baracke 9 vorüber war, lief einer der vier Portepée-Unteroffiziere hintenrum zu Taudins Baracke 12, reihte sich dort ein und wurde in der Lücke von Käpt'n Taudin noch mal mitgezählt, so dass die Zahl stimmte.

Nun kam der große Tag heran. Käpt'n Taudin bestand darauf, dass erst mal gründlich Abschied gefeiert würde. Das geschah, und als die festgesetzte Stunde herankam, war Käpt'n Taudin sternhagelvoll. Es klappte aber alles tadellos. Die Prügeleien hatten den gewünschten Erfolg, die Posten waren abgelenkt, griffen ein, und Käpt'n Taudin flog programmgemäß über den Zaun.

Drei Tage passierte gar nichts. Die Flucht blieb unentdeckt. Käpt'n Taudin hatte also einen ganz schönen Vorsprung. Am vierten Tag, am helllichten Vormittag, marschierte plötzlich Käpt'n Taudin zum offenen Lagertor herein. Er wurde von der Wache natürlich sofort festgenommen und erst mal ins »Eso« [Arrestzelle] gesteckt. Es gelang uns, ihm schnell durch ein Astloch einen Zettel zuzuschieben: »Deine Flucht ist noch nicht entdeckt.« Das war sehr wichtig, damit er seine Aussage entsprechend einrichten konnte. (Auf Fluchtversuch gab es 9 Monate Zuchthaus. Das war zwar nach der Genfer Konvention nicht zulässig, und daher gab es die Strafe nicht wegen der Flucht, sondern »wegen Diebstahl kaiserlich japanischen Eigentums«.)

Nach 30 Tagen war Käpt'n Taudin wieder raus. Nun ging natürlich ein großes Fragen los. Was hatte er gemacht? Nun, zunächst mal, als er über den Zaun geflogen war, blieb er wie ein Sack liegen und schlief seinen Rausch aus. Eine kostbare Nacht war nutzlos vertan, denn tagsüber konnte er sich ja sowieso nicht bewegen. Er blieb also gleich im Kauliang liegen, und der Durst kam, der grässliche Nachdurst! Nachts zog er dann los, Richtung Küste. Weit kam er nicht. Wieder eine Nacht im Freien und dann ein Tag, an dem er sich nicht rühren konnte, und so kam er dann zu der Überzeugung, dass es wohl doch nichts werden würde und dass es das beste sei, zurückzukehren – was er dann auch tat.

Sobald er wusste, dass seine Flucht noch nicht entdeckt war, schaltete er sofort richtig. Wie er aus dem Lager herausgekommen wäre, wüsste er nicht. Er hätte »gestern Abend einen genommen«, hätte sich dann draußen im Kauliang wiedergefunden, na und da wäre er eben ins Lager zurück gegangen, und da wäre er nun!

Käpt'n Taudin hatte Glück. Der kleine dicke Kerl sah ja wirklich nicht nach strapaziösen, gefährlichen Unternehmungen aus, und so nahm man ihm den Schwindel ab, sah in seinem Verschwinden keinen Fluchtversuch, und er bekam nur 30 Tage wegen groben Unfugs aufgebrummt. Und so hat dann der gute Käpt'n Taudin mit uns seine 5 Jahre bis zum Kriegsende im Lager verbracht.
 

[Ergänzung Kluge]

Taudien und KomplizenSpäter kam heraus, dass Käpt'n Taudin gar kein Kapitän war. Er war Matrose. Und Vice-Steuermann der Reserve war er auch nicht. Auch militärisch war er nur Matrose, hat sich aber, als er 1914 in Tsingtau zu den Fahnen eilte, dreist und gottesfürchtig als Vice-Steuermann der Reserve ausgegeben und so immerhin fünf Jahre Gefangenschaft in weißer Wäsche und Einzelzimmer zugebracht.

Dieses war sein erster Streich, doch sein letzter kommt sogleich: Viele Jahre später schickten uns Freunde aus Tientsin eine Zeitung mit der Schlagzeile: »PIRATEN IN TIENTSIN GEHÄNGT«. Einige deutsche Seeleute hatten auf einem kleinen chinesischen Dampfer angemustert mit der Absicht, die chinesische Mannschaft zu überwältigen, dann mit dem Dampfer nach Südamerika zu schippern und ihn dort zu verkaufen. So geschah es. Die zehnköpfige chinesische Besatzung wurde überwältigt und ermordet. Leider musste man noch einmal auf Taku-Reede zurück, um Wasser für den langen Törn zu übernehmen. Dort wurde die Sache ruchbar. Die Bande kam hinter Schloss und Riegel. Alle wurden zum Tode verurteilt und gehängt. Der Anführer der Bande war unser guter, lieber, alter Käpt'n Taudin!
 



Ergänzungen des Redakteurs

1. Der Fluchtversuch Taudiens fand am 16.07.1916 statt, die 30-Tage-Arreststrafe wurde am 23.08. verhängt. Am 16.09., also noch während der Arrestzeit [?], wurde Taudien mit fünf anderen Gefangenen ins Lager Aonogahara verlegt. (Ungewöhnliche Begegnungen, S. 51)

2. Das amerikanische Magazin TIME berichtete in seiner Ausgabe vom 18.05.1935 unter der Überschrift »JAPAN: Atrocities« über den Strafprozess gegen »Captain Hugo Taudien« und seine Mitangeklagten, worunter sich drei weitere Deutsche (Müller, Schroeder und Westermann) und ein Schweizer (Gautschi) befanden.

Hiernach hatte Taudien am 26.06.1933 unweit Tientsin den russischen Kapitän des Frachtdampfers Sheng An dazu bewogen, ihn und seine Freunde an Bord zu nehmen; der Kapitän war völlig arglos, er schien Taudien zu kennen (»Ah, my good friend Captain Taudien, this voyage will be a joy!«) und bewirtete ihn mit Wodka, Lachs und Kaviar. Als das Schiff auf hoher See war, etwa 200 Seemeilen von Shanghai entfernt, erschossen die Täter alle Besatzungsmitglieder. Die Bande wurde jedoch gefasst; Taudien und Westermann wurden nach einigem Hin und Her von einem japanischen Gericht zum Tode verurteilt, Gautschi und Müller zu lebenslänglicher und Schroeder zu 10 Jahren Haft. — Als der deutsche Schulkreuzer Köln im Juli 1933 den Hafen Dairen anlief, waren diese Ereignisse Gegenstand vieler Presseberichte; das deutsche Ansehen hätte dadurch, wie der Kommandant notierte, »schweren Schaden erlitten«.

3. Der "SPIEGEL" berichtete 1951 ausführlich über das Leben von Richard Sorge, der in Ostasien für die Sowjetunion spionierte, und dessen Helfer. In seiner Ausgabe vom 18.07.1951 wurde erwähnt, dass Max Klausen, der für Sorges Funkverbindungen zuständig war, Anfang 1933 »in die Hände einer Gruppe von Deutschen [fiel], die im Fernen Osten Schiffbruch erlitten hatte. Der Fleischermeister Westermann aus Hannover betrieb in Schanghai ein kleines Bierlokal. Sein Kompagnon war der ehemalige Handelsschiffskapitän Taudien aus Königsberg. In dem Lokal war ein schweizerischer Kellner, Schenk, angestellt, der als Steward auf einem britischen Schiff gefahren und in Schanghai an Land geblieben war. Der vierte Mann im Bunde war ein deutscher Maschinenschlosser, der in Schanghai von einer deutschen Firma herausgeworfen worden war. [...]« — Diese Schilderung weicht vom TIME-Bericht in einigen Details ab, denen wir nicht weiter nachgehen können.

4. Ob Taudien Handelsschiffskapitän gewesen ist, wie berichtet wird, ist fraglich. Überhaupt ist es unklar, wie es ihm gelingen konnte, Behörden und Kameraden so nachhaltig zu täuschen. Jedenfalls ging er bei seiner Hochstapelei sehr konsequent vor; beispielweise richtete er aus dem Lager Aonogahara einen Brief an den niederländischen Generalkonsul in Shanghai mit der Absenderangabe »H. Taudien, Vice-Steuermann der Seew.« (Beleg aus der Sammlung Seitz)
 

© Hans-Joachim Schmidt
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