Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Kurume

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Anekdoten aus dem Kriegsgefangenlager Kurume

gesammelt von Ernst Kluge


Die folgenden Anekdoten stammen aus dem Nachlass von Ernst Kluge. Sie nehmen bestimmte Verhaltensweisen des japanischen Bewachungspersonals, aber auch von Mitgefangenen aufs Korn. Der Humor ist mitunter, wie nicht anders zu erwarten, etwas derb.

Die hier verwendete Version der Anekdoten hat Kluges Sohn Christian zur Verfügung gestellt, dem dafür herzlich gedankt sei. Von insgesamt 15 Gescbichten (nebst Fotos) sind vier weggelassen; drei davon gehören in einen anderen Kontext (Garnison Tsingtau bzw. Heimreise), die vierte folgt als gesonderter biographischer Beitrag zu »Käpt'n Taudien«. Die Anekdoten 12 und 13 sind einer anderen Fassung entnommen, die aus dem Nachlass von Hans Gallinat stammt.

Die Rechtschreibung wurde behutsam angepasst, der Text im Übrigen nicht verändert; Nummerierung und Anmerkungen stammen vom Redakteur.

  1. Das Signalhorn
  2. Oberleutnant Yamamoto lernt Marine-Deutsch
  3. Feueralarm im Tempellager
  4. Noch eine Geschichte von der Feuersgefahr
  5. Die Stiefelbestände stimmen
  6. Die Bekämpfung der Rattenplage
  7. Der Kater des Leutnants M.
  8. Der umgelegte Zaun
  9. Der lange Marsch des „kleinen Hauptmanns”
  10. Vom Soldatenrat im Lager Kurume
  11. Der Donnerpastor
  12. Einige kleine Schnurren
  13. Stegreim-Verse
 

 
[1] Das Signalhorn

Einer unserer Spielmöpse hatte das Kunststück fertiggebracht, sein Signalhorn durch alle »Filzereien« nach Kurume mitzubringen. Er hielt es sorgfältig versteckt, und niemand ahnte etwas davon.
Eines Tages hatte der Küchenbulle, Gefreiter Uhlig, Geburtstag. Er lud eine größere Anzahl von Kameraden – darunter auch unsern Spielmops – zu einem »comfortionösen Schwah« in seine Küche ein; ein Küchenbulle hat ja einiges zu bieten, und es ging bald hoch her. Die Begeisterung wurde so groß, dass unser Spielmops plötzlich auf den Gedanken kam, sein Horn zu holen und als Beitrag zur Feier japanische Signale zu blasen: »Seesoldat mach' schnell noch mal Pipi«, »Der Jodo ist da« und den schönen japanischen Parademarsch: »Kann ich nicht, kann ich nicht, bin ein armer Sack« und andere.
Da die Lagerwache nahe der Küche lag, konnte nicht ausbleiben, dass die japanische Wache die aus der Küche hallenden wohlvertrauten Klänge hörte, und so rückte der Wachhabende mit ein paar Mann mit großem Ui!-Ui! heran.
Glücklicherweise bemerkten die Feiernden die herannahende Gefahr noch so rechtzeitig, dass das kostbare Horn noch versteckt werden konnte, aber als die Wache, verstärkt durch den Dolmetscher, in die Küche eindrang und fragte: »Wer hier geblasen?«, konnte die Tatsache, dass hier geblasen worden war, nicht gut geleugnet werden, und die Tatsache als solche wurde daher ohne weiteres zugegeben. »Womit geblasen?« Peinliche Frage, aber einer der Männer hatte einen genialen Einfall: Er ergriff den Blechtrichter der Fleischermaschine und behauptete kühn, hierauf wäre geblasen worden. »Solcher nicht möglich!« »Doch«, erwiderte der Mann, setzte den Trichter an den Mund und entlockte ihm einige mißtönende, krächzende Töne, die irgendwie nach japanischen Signalen klangen. Die Japaner wurden etwas unsicher, glaubten nicht recht daran, aber schienen die Möglichkeit nicht ganz ausschließen zu wollen; daher die nächste Frage: »Wer hier geblasen?« Keiner meldete sich. »Wenn sich keiner meldet, dann alle werden bestraft.« Gut, dann werden eben alle bestraft. Zur weiteren Klärung der Angelegenheit nahm die Wache den Gefreiten Uhlig mit aufs Büro zum wachhabenden Offizier. Die Feier war beendet.
Am nächsten Morgen beim Appell wurde ein Lagerbefehl verlesen, der wie folgt lautete: »Der Gefreite Uhlig wird mit 3 Tagen Arrest bestraft, weil er aus verschiedenen Verhältnissen wissen musste, wer geblasen hat!«1
Uhlig brummte die 3 Tage ab; Hauptsache: das kostbare Horn war gerettet!
 

[2] Oberleutnant Yamamoto lernt Marine-Deutsch

In der ersten Zeit unserer Gefangenschaft gehörte zur japanischen Verwaltung im sogenannten Tempellager ein sehr netter Oberleutnant, Yamamoto, der sehr gut Deutsch sprach.2 Er war u.a. auch ein Jahr in Tsingtau gewesen. Er wollte es aber noch besser lernen und fragte mich eines Tages, ob ich bereit wäre, ihm Deutsch-Unterricht zu geben. Ich tat das sehr gern, zumal er sich bereit erklärte, mir als Gegenleistung japanischen Unterricht zu geben.
Wir lasen gemeinsam deutsche Bücher, trieben daneben deutsche Konversation, und u.a. kam es ihm auch darauf an, im Hinblick auf seine Aufgaben im Lager, mit dem Marine-Deutsch und überhaupt mit dem Kommiss-Jargon vertraut zu werden. Das war oft sehr lustig. Was war z. B. ein »armer Sack«? Wir einigten uns auf »okino-doku-no chito«.
Eines Tages sagte er mir, dass der Unterricht ein paar Tage ausfallen müsste. Es fanden im Kriegsministerium Verhandlungen zwischen hohen japanischen Offizieren und einer Gruppe deutscher Offiziere unter Führung von Excellenz Meyer-Waldeck statt wegen Übernahme der Bestände von Tsingtau, und er wäre als Dolmetscher hinzugezogen, weil er gut deutsch spräche und auch mit den Verhältnissen in Tsingtau vertraut war.
Als er wieder zurück war, fragte ich natürlich, wie alles gegangen wäre. Oh, es wäre sehr nett gewesen, und auch mit seinem Deutsch wäre es ganz gut gegangen. Nach den Verhandlungen hätte es ein gemeinsames Essen gegeben, und er fragte u.a. Excellenz Meyer-Waldeck, wie es ihm schmeckte. Nun zeigte es sich, was Yamamoto bei mir gelernt hatte! Als er auf seine Frage zur Antwort bekam: »Oh, ganz ausgezeichnet!«, fragte Yamamoto zurück: »Wollen Excellenz vielleicht einen doppelten Schlag stauen?«
Der Erfolg bei der deutschen Gruppe soll durchschlagend gewesen sein.
 

[3] Feueralarm im Tempellager

Das Tempellager, in dem wir bis Frühjahr 1915 untergebracht waren, war ein richtiger alter Tempel, also ganz japanische Bauweise, zweistöckig, alles Holz und Papier, Strohdach, auf den Fußboden Tatami, Pappwände, Papier-Fenster- und Schiebetüren, kurz – wie überall in Alt-Japan und daher äußerst feuergefährdet, zumal es auch noch Winter war und die Heizung, wie üblich, durch offenes Kohlefeuer in Hibachis erfolgte. Die Feuerverhütungsvorschriften waren daher ganz groß geschrieben und wurden immer wieder in Erinnerung gebracht, und da wir uns ja beim Kommiss befanden, mußte so etwas auch mal »geübt«; werden, und so gab es eines schönen Nachmittags Feueralarm!
Die Reaktion unserer Leute war natürlich wie zu erwarten. Ein »alter Mann« lässt sich nicht gern »bewegen«, und wir waren ja alles »alte Männer« oder »alte Kolonisten", wie es bei uns hieß. »Die denken wohl, die können uns bewegen!« »Alter Mann ist kein Torpedo-Boot.«
Nach dem Alarm mit dem geretteten GepäckDie Japaner fingen nun an zu drängeln. Oben auf dem Umgang standen noch Leute herum, die heruntergescheucht wurden. Als letzter stand da noch der 1,95 m lange Unteroffizier Carl Weis (Aloys). »Unteroffizier Weis, Sie können nicht mehr runter. Treppe brennt schon«, krähte Yamamoto. »Was kann ich nicht?« rief Weis zurück und sprang mit einer eleganten Flanke über das Geländer dem verdutzten Yamamoto direkt vor die Füße.
Nun waren wir alle aus dem Bau heraus, aber das genügte nicht. »Sie müssen auch Ihre Sachen retten!« Also, alles noch mal rein und »die Sachen« geholt. Natürlich nur die eigenen. Das war aber auch nicht das Richtige. »Sie müssen nicht nur Ihre eigenen Sachen retten, sondern auch kaiserlich japanisches Eigentum.«
Diese Aufforderung hatte einen ungeahnten Erfolg. Binnen fünf Minuten war der Tempel ratzekahl leer. Tische, Stühle, Betten – kurz: alles Inventar flog im großen Bogen aus den Fenstern und Türen (auch der oberen Etage!). Wir bekamen ein großes Lob. »Deutsche Soldaten sehr gut, alles sehr schnell gegangen«, und dann durften wir wegtreten.
Eine Stunde später ging unser Spieß, »Pan Schlieter", leicht grinsend mit einer Aufstellung in der Hand ins Büro. »Tja, Herr Oberleutnant, da ist ja nun dies und jenes kaputt gegangen – es mußte ja sehr schnell gehen!« »Na gut, was ist's denn?« »Na, ich habe hier mal eine kleine Aufstellung gemacht: 26 Stuhlbeine, 6 Tische kaputt, 18 Glühbirnen kaputt, 3 Kabel gerissen, etc.«
Die Gesichter der Japaner wurden immer länger; der Zahlmeister insbesondere erbleichte. In den kommenden fünf Jahren haben sie keinen Feueralarm mehr mit uns gemacht. »Alter Mann ist kein Torpedoboot!«: Das hatten sie eingesehen.
 

[4] Noch eine Geschichte von der Feuersgefahr

Wie gesagt, die Feuersgefahr war ja wirklich groß – auch nachher im Barackenlager, da die Baracken wirklich mit allen Drum und dran ausschließlich aus Holz bestanden.
In jeder Baracke standen im Winter drei oder vier große Hibachis – massive Holzkisten, die mit Zement ausgefüttert und mit Sand gefüllt waren, auf dem die Holzkohlen brannten. Jeden Abend mussten mit dem Zapfenstreich die Feuer gelöscht sein, und eine halbe Stunde danach kontrollierte eine Streife, und wehe, wenn sie irgendwo Feuer fand!
Eines Abends fand die Streife in unserer Baracke einen Hibachi, in dem noch Feuer brannte. (Es brannte nicht lichterloh, aber immerhin, ordnungsgemäß gelöscht war es nicht.) Natürlich großes Halloh! Ein Dolmetscher wurde herbeigeholt, und es gab ein großes Palaver. »Sie nicht haben Feuer gelöscht.« »Doch, wir haben gelöscht.« »Aber hier doch Feuer drin!« und nun kam die verwirrende Antwort: »Das ist kein Feuer, das ist Glut!«
Nun gab es eine große Auseinandersetzung, was Feuer wäre und was Glut. Der Dolmetscher mochte keine mangelnden Sprachkenntnisse zugeben, aber er wollte offenbar auf eine brauchbare Definition hinaus, was nun eigentlich Feuer und was Glut wäre, und er fragte also: »Wie groß solcher Glut?« Als Antwort kam prompt: »Achtzehn bis dreiundzwanzig Centimeter.«
Die Sache ging aus wie das Hornberger Schießen. Die Baracke wurde nicht bestraft, weil wir hartnäckig darauf bestanden, dass wir kein Feuer gehabt hätten, sondern nur Glut, aber es wurde dann angeordnet, dass wir nicht nur Feuer, sondern auch »solcher Glut« zu löschen hatten.
 

[5] Die Stiefelbestände stimmen

Mit der Übergabe Tsingtaus an die Japaner waren natürlich auch alle Vorräte, Lager, Kammerbestände etc. japanische Beute geworden, darunter auch eine Menge funkelnagelneues Schuhwerk. Letzteres konnten die Japaner überhaupt nicht gebrauchen, da ihre Schuhgrößen um mehrere Nummern kleiner waren, und so lagen Tausende von neuen Schuhen nutzlos »auf Kammer«.
Je länger die Gefangenschaft dauerte, um so trauriger sah es mit unserem Schuhwerk aus: Es zerfiel allmählich, war nicht mehr reparabel, und damit wurde der Wunsch immer drängender, irgendwie an die Beutebestände heranzukommen. Offizielle Anträge blieben ohne Erfolg, aber hintenrum wurde über Beziehungen zu Wachmannschaften doch immer mal das eine oder andere Paar »organisiert«. Das ging eine ganze Weile gut, bis eines Tages der Zahlmeister abgelöst wurde und damit eine Bestandsübergabe fällig wurde. Da stellte es sich heraus, dass am bestandsmäßigen Soll 37 Paar Schuhe fehlten! Was tun?
Der abgelöste Zahlmeister, der ja übergeben musste, kam auf einen Einfall, der jedem Kammerverwalter in der ganzen Welt zur Ehre gereicht hätte. Es erschien im Lager folgende Bekanntmachung: »Wer zwei Paar Schuhe abliefert, ganz gleich in welchem Zustand, bekommt ein Paar Neue.«
Es dauerte keine 24 Stunden, da waren 74 Paar vollkommen unbrauchbare Schuh-Überreste abgeliefert und zur Kammer gegeben. Dafür musste die Kammer zwar weitere 37 neue Paare an die überglücklichen Empfanger herausrücken, aber was schadete das, dafür waren ja 74 Paare eingegangen und damit das ursprüngliche Soll wieder in Ordnung, und Ordnung muss sein beim Militär!
 

[6] Die Bekämpfung der Rattenplage

Es konnte ja gar nicht anders sein: Im Lager gab es Ratten, viele Ratten, immer mehr Ratten. Sie hausten unter den Barackenböden, die etwa einen Meter über dem Erdboden lagen (von außen unzugänglich, da die Seitenwände der Baracken bis auf die Erde reichten), sie tobten nachts quietschend im Dachgebälk herum und fielen uns gelegentlich in die Betten, wenn ihre Hochzeitstänze da oben gar zu wild wurden, und eines Tages beschloß das »Büro«, dass etwas geschehen müßte.
Es wurde also verkündet, dass für jede gefangene und getötete Ratte eine Belohnung von 5 sen ausgesetzt wurde. Beweismittel war der abzuliefernde Schwanz. Und nun hub ein fröhliches Jagen an. In der ersten Zeit war die Beute groß, so dass geschickte Fallensteller sich Tag für Tag eine oder gar mehrere Schachteln Zigaretten »erjagen« konnten, und wir hatten geschickte Fallensteller, insbesondere unter den k.u. k. Kameraden von der Kaiserin Elisabeth, die ja stark östlicher Provenienz waren. Der anerkannte König der Fallensteller aber war der k.u.k. Matrose Adamczyk, Ungar von Geburt.
Die Aktion war ein guter Erfolg, d.h. ein Erfolg für die veranstaltende Behörde; für die Fallensteller sanken leider die Erfolge. Nun einem blieb der Erfolg treu: Adamczyk! Er brachte immer wieder Schwänze an, und als die meisten das Rennen schon aufgegeben hatten, kam Adamczyk immer noch hier und da mit einem oder sogar ein paar Schwänzen. Seine Fangkunst grenzte an Zauberei. »Wie machst du das bloß, Adamczyk?« Aber Adamczyk grinste und schwieg, bis er eines Tages blau war. Da juckte es ihn, er winkte sich einen Kameraden heran, öffnete unter seinem Bett eine geheime Klappe im Fußboden und sagte nur: »Da, sieh Dir an!«
Adamczyk hatte unter dem Barackenboden eine Rattenzucht angelegt.
 

[7] Der Kater des Leutnants M.

Leutnant M.3 hatte einen wunderschönen Kater – nicht etwa einen Kater von gestern Abend, nein, einen richtigen, lebendigen, großen, starken, schön gestreiften Kater, an dem er sehr hing, wie ja überhaupt der Wunsch, ein eigenes Tier zu besitzen, bei einem Kriegsgefangenen begreiflicherweise sehr groß war.
Allerdings war das nicht leicht, da die Japaner Schwierigkeiten machten; Hunde z.B. waren grundsätzlich verboten, und kaum ein Tierliebhaber ist über Vögel hinausgekommen, aber Leutnant M. hatte es geschafft und besaß einen Kater.
Nun ist ein schöner Kater zwar nett anzusehen, aber wenn Kater nächtlicherweise auf den Dächern ihrer Liebe Leid singen, können manche Menschen nicht schlafen, und so wurde Leutnant M. von verschiedenen Seiten gebeten, die lästige Bestie wieder abzuschaffen. Er lieB sich aber nicht erweichen, und es blieb alles beim alten, bis der Kater eines Tages verschwunden war. Das fiel zunächst nicht weiter auf, denn Kater haben nun mal ihre »Touren«.
Um diese Zeit geschah es, dass ein paar Kameraden sich zusammentaten, um ein kleines Herren-Essen zu veranstalten. Irgendeiner hatte einen Hasen geschickt bekommen und lud einige Kameraden dazu ein, darunter auch Leutnant M. Der Koch tat sein Bestes. Er zauberte eine vollendete Sahne-Sauce, Preiselbeeren und Apfelmus wurden auch aufgetrieben, und es wurde ein rundes sehr gelungenes Fest.
Aber als dann der Kater weiterhin verschwunden blieb und die Vermutung Raum gewann, dass er vielleicht doch entlaufen sein konnte, kam es dann langsam heraus, dass der »Hase« gar kein richtiger Hase gewesen war, sondern ein »Dachhase«, und dass Leutnant M. mit größtem Appetit mitgeholfen hatte, seinen schönen Kater zu verspeisen. Das war die Rache der Schlaflosen!
 

[8] Der umgelegte Zaun

Der japanische Soldat ist ein sehr guter und vor allem sehr tapferer Soldat; insbesondere hat ihn seine – religiös bedingte – Todesverachtung immer zum gefürchteten Gegner gemacht. Andererseits ist er in der Fähigkeit zum selbständigen Denken und Handeln dem europäischen Soldaten zweifellos unterlegen; zum mindesten war das damals so – es ist ja schon 50 Jahre her –, und insbesondere rekrutierten sich die in Kurume liegenden Regimenter 48 und 56 aus einer noch sehr primitiven Landbevölkerung, die zum Teil noch in fast mittelalterlichen Verhältnissen lebte. Die Leute waren also »stur«. Einen bestimmten Befehl führten sie stur aus; darüber hinaus war Feierabend.
Diese These vertrat auch sehr nachdrücklich unser Kamerad Leutnant Scriba, der selbst Halb-Japaner war, aber deutscher Staatsangehöriger und Reserve-Offizier. (Darum saß er auch mit uns in Kurume.) Wenige Tage nach einem solchen Gespräch ergab sich eine Gelegenheit, um die Richtigkeit seiner Auffassung schlagend zu beweisen.
Lokuspromenade in Kurume Zum besseren Verständnis muß ich vorausschicken, dass unsere japanischen Wachmannschaften besonders scharfe Instruktionen bezüglich der Vorschriften zur Verhütung von Feuersgefahr hatten. So war u.a. das Wegwerfen von Zigaretten-Stummeln sowohl in Baracken als auch im Freien strengstens verboten, und wer dagegen verstieß und erwischt wurde, bekam unnachsichtig drei Tage [Arrest]. Jeder Posten war darauf gedrillt, und wenn wir auf unserer »Lokuspromenade« unsern Spaziergang machten, bestand die Haupttätigkeit der Posten darin, darauf zu achten, dass niemand etwa einen Stummel wegwarf.
Eines Tages nun hatte es einen Orkan gegeben, der eine ganze Längsseite unseres Lagerzaunes umgelegt hatte. Die Japaner stellten sofort verstärkt Posten längs des umgelegten Zaunes aus, um zu verhindern, dass etwa jemand auf den Gedanken kommen konnte, die schöne Gelegenheit zu benutzen, um mal etwas entfernter von den Lokussen im Freien zu lustwandeln. Die Lokuspromenade wurde natürlich an diesem Tag besonders eifrig benutzt – war doch schon der Blick ins Freie eine Sensation.
Wir, d.h. ein paar Kameraden einschließlich Scriba, waren natürlich auch dabei. Da steckte sich Scriba eine Zigarette an, tat ein paar tiefe Züge und knallte die brennende Zigarette einem Posten direkt vor die Füße. Es passierte gar nichts! »Seht Ihr«, sagte Scriba, »der hat die Instruktion, darauf zu achten, daß niemand die Lagergrenze überschreitet; für mehr reicht's nicht.« – Quod erat demonstrandum.
 

[9] Der lange Marsch des »kleinen Hauptmanns«

Hauptmann Sodan, ein kleiner, lebendiger Königsberger Pionier, war allgemein beliebt bei Deutschen und Japanern und im ganzen Lager bekannt als der »kleine Hauptmann«. Während viele seiner Kameraden mehr oder weniger zurückgezogen in der etwas abseits gelegenen Offiziersbaracke lebten, war der »kleine Hauptmann« dadurch besonders populär, dass er jeden Tag im Mannschaftslager seine Runden um die »Lokuspromenade« zog. Er hatte ein starkes Bewegungsbedürfnis, und sein Rezept zur Erhaltung seiner Gesundheit und Elastizität hieß Laufen, und so umkreiste er Tag für Tag mindestens zwei Stunden das Lager.
Auf die Dauer mag ihm das etwas stumpfsinnig erschienen sein, und so kam er auf den Gedanken, die gelaufenen Kilometer zu registrieren und gedanklich zu einem Fußmarsch nach Königsberg auszubauen. Die Sache wurde im Lager bekannt: »Hauptmann Sodan läuft zu Fuß nach Königsberg!«, und mit steigendem Interesse nahm das ganze Lager an dem langen Marsch Anteil.
Die markantesten Punkte wurden gebührend vermerkt und begossen! »Hauptmann Sodan überschreitet heute den Ural!« »Heute morgen traf der kleine Hauptmann wohlbehalten in Moskau ein!« Und nun wuchs die Spannung von Tag zu Tag. Nach ein paar weiteren Wochen überschritt unser rüstiger Wanderer die russisch-ostpreußische Grenze bei Eydtkunen, und dann kam der große Tag: Der kleine Hauptmann traf in seiner Heimatstadt Königsberg ein. Das war ein Festtag im ganzen Lager.
Nun folgte eine kurze Zeit wohlverdienter Ruhe, aber leider war ein Ende des Krieges noch nicht abzusehen, und da Hauptmann Sodan sich in Königsberg nicht auf die faule Haut legen wollte, beschloss er eines Tages, den Marsch in umgekehrter Richtung anzutreten, um seine Kameraden in Kurume zu besuchen.
Es spielte sich nun also alles noch einmal in umgekehrter Reihenfolge ab, und eines schönen Tages »durchschritt der kleine Hauptmann, mit stürmischem Halloh begrüßt, das Tor des Lagers Kurume!«
Er hat dann noch einen zweiten Marsch nach Königsberg angetreten, konnte ihn aber nicht mehr vollenden, da er auf einen der vier Heimatsdampfer umstieg. Der sogenannte Frieden war ausgebrochen.
 

[10] Vom Soldatenrat im Lager Kurume

Unser Baracken-Ältester – Baracke 9 – war der Oberwachtmeistersmaat Weishaupt. Er war zugleich der dienstälteste Unteroffizier überhaupt im Lager Kurume.
Weishaupt war ein Pfundskerl. Nicht übermäßig groß, aber breit wie ein Schrank und mit geradezu ungeheuren Körperkräften begabt. Ein gewaltiger Vollbart umrahmte seinen kantigen Westfalen-Schädel, der auf einem kurzen, sehr kräftigen Hals saß – kurz, er war eine wahrhaft urige Erscheinung. Dabei war er, wie starke Männer oft, eine Seele von Mensch, ruhig, zugänglich und rechtschaffen; nur im Suff konnte er gefährlich werden. Er neigte dann zum Jähzorn, und in Verbindung mit seinen gewaltigen Körperkräften gab es dann manchmal Kleinholz. Ältere aktive Kameraden, die ihn von früher her kannten, erzählten, daß er eigentlich schon seit Jahren hätte Deckoffizier sein müssen, aber das hatte nie hingehauen. Jedesmal, wenn er von einer Auslandsreise zurück kam, hatte er sich im ersten deutschen Hafen in der ersten Kneipe voll laufen lassen, und das hatte dann meistens damit geendet, dass ein Polizist lazarettfähig geschlagen war. – Dies, zum Verständnis des Folgenden vorausgeschickt, war der Oberwachtmeistersmaat Weishaupt.
Als nach dem Zusammenbruch in der Heimat die Revolution ausbrach, wurden natürlich alle Nachrichten mit regestem Interesse verfolgt, und als es in Deutschland zur Bildung von Soldatenräten kam, mehrten sich auch bei uns Stimmen, die meinten, dass wir diese Errungenschaft auch haben müßten. Nach wochenlangen Palavern kam es zur Bildung eines Soldatenrates, und der mußte natürlich auch Beschlüsse fassen.
Da war u.a. der Mißstand, dass die Mannschaften in gewissen Gruppen, immer umschichtig, zum Kartoffelschälen antreten mussten, wobei jeweils ein Unteroffizier die Aufsicht führte, das heisst also, nicht mitschälte. Das war mit dem Geist der neuen Zeit nicht vereinbar und ein schwerer »Missstand«, der abgestellt werden musste. Der Soldatenrat fasste also den Beschluss, dass ab sofort die Unteroffiziere mitzuschälen hätten, und beauftragte einen Mann, diesen Beschluss dem Oberwachtmeistersmaat Weishaupt als dem dienstältesten Unteroffizier zu eröffnen.
Ich weiß nicht mehr, wie der Mann hieß; er war ein Matrose, und ich kenne ihn nur noch unter seinem Spitznamen. Im Kameradenkreise hieß er S.M.S. Vierkant – das sagt schon einiges darüber, dass er ein ganz stabiler Brocken war.
S.M.S. Vierkant steuerte also einen schönen Tages »vierkant« auf Weishaupt los und eröffnete ihm in etwas unbeholfener Rede den »Beschluss«. »So«, sagte Weishaupt ganz ruhig und freundlich, »Ihr meint also, wir sollten nun Kartoffeln schälen!« – packte ihn mit beiden Fäusten am Jackett, hob ihn hoch über seinen Kopf und knallte S.M.S. Vierkant an Deck. »Dat blievt as dat is; merk di das, min Jung!«
Damit war der Fall bereinigt. Es zeigte sich wieder mal, dass Brachialgewalt, richtig eingesetzt, ein sehr überzeugendes Argument ist.
 

[11] Der Donnerpastor

Die seelsorgerische Betreuung im Lager war etwas dürftig. Für die Katholiken ging es noch einigermaßen. Irgendwo in Kyushu lebte ein Pater, der ziemlich regelmäßig ins Lager kam und für die Katholiken Gottesdienste abhielt. Wir »Ketzer« hörten die frommen, etwas eintönigen Gesänge von draußen an und bauten darauf ein recht unchristliches Schnapsgebet auf, welches lautete:
  Auf, lasst uns einen verlö - ö - ten!
  Denn wir haben es bitter von Nö - ö -ten!
  Denn morgen sind wir vielleicht schon flö - ö - ten!
Wir Protestanten hatten einmal einen sehr eindrucksvollen Gottesdienst. Es kam, vom Roten Kreuz vermittelt, der schwedische Pfarrer Neander von der Universität Uppsala, der in deutscher Sprache zu uns redete.4 Sonst kam noch, etwa einmal im Jahr, der deutsche Pastor Schröder aus Tokyo. (»Ohhh! Meine deutschen Brüder!«)
Für den Hausgebrauch hatten wir im Lager selbst einen Missionar-Schüler aus China. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß; wir nannten ihn den Donnerpastor.5 Er sprach etwas primitiv, mit der Tendenz, uns alle Höllenstrafen mit Donner-Stimme anzudrohen – daher der Name »Donnerpastor«. Und wenn ihm der Stoff ausging oder er den Faden verlor, stopfte er die Lücke mit Bibelsprüchen, die ihm reichlich zu Gebote standen. »Seelig sind, die geistig arm sind.« – »Tod, wo ist Dein Stachel, Hölle, wo ist Dein Sieg«. Letzteres war sein Lieblingsspruch, und er kehrte immer wieder.
Eines Sonntags, als wir uns nach dem sogenannten Gottesdienst in die Baracke verkrümelten, trafen wir auf dem Umgang den Gefreiten Todt. Hein Todt war ein prächtiger, blonder Friesenjunge. Es konnte ja nicht ausbleiben, dass wir ihm, noch frisch unter dem Eindruck des »Tod, wo ist Dein Stachel, Hölle, wo ist Dein Sieg« zuriefen: »Na, Todt, wo ist Dein Stachel?«
Aber Hein Todt war um eine Antwort keineswegs verlegen. Ganz treuherzig antwortete er: »Der hängt inne Büx!«
 

[12] Einige kleine Schnurren

Unter dem japanischen ständigen Wachpersonal war ein Sergeant, der, was selten war, einen Schnurrbart trug. Er hieß deshalb der »Schnurrbart-Sergeant« oder abgekürzt einfach »Snurrbarto«. Snurrbarto war ein netter Kerl, eifrig bemüht, deutsche Brocken aufzuschnappen und auch anzuwenden. (Er lispelte sehr stark, was sich im Folgenden schriftlich nicht wiedergeben lässt.)
Eines Morgens erschien Snurrbarto mit einem dick verschwollenen blauen Auge. Tatbestand: Er war am vergangenen Abend zu seinem Mädchen gegangen und in stockdunkler Nacht gegen einen Telegraphenpfahl gelaufen. Dies gab er folgendermaßen wieder: »Gestern Abend – ich Geisha gehen – keine Mond – ganz dunkel – ich, Kopf, Telegraphenstange – Buuh! – es smerzt.«
Snurrbarto war ein besonderer Freund des »kleinen Hauptmanns« Sodan. Er traf ihn oft, wenn Sodan seinen Marsch durchs Lager machte, und versuchte dann, ihn zu stellen, um ein paar Worte mit ihm zu sprechen und sein »Deutsch« an den Mann zu bringen. Einmal erlauschte ich folgende Unterhaltung.
Snurrbarto: »Na, kleiner Hauptmann, wie geht's?« Sodan: »Beschissen, du Idiot!« Snurrbarto: »Nein, nicht bessissen – ich weiss besser – sehr gut!«
 

[13] Stegreif-Verse6

Was tut man nicht alles, um einen Abend totzuschlagen. Einmal saßen wir in nettem Kreise beisammen, darunter auch der k.u.k. Linienschiffskapitän von Klobucar von der Kaiserin Elisabeth. Klobucar war Kroat, ein prachtvoller Kerl, hochgebildet, vornehm, sehr gut aussehend, beste k.u.k. Tradition. Sein Kroaten-Deutsch war natürlich hart, nicht immer einwandfrei, aber er beherrschte die deutsche Sprache doch recht gut.
Wir beschlossen, aus dem Stegreif Schnadahüpferln zu dichten, die besondere Charakteristika der Gefangenschaft zum Ausdruck bringen sollten. Klobucar schoss den Vogel ab. Sein Verslein lautete in seinem harten Kroaten-Deutsch:
  »Wenn es ist meeglick,
  besauf' ich mich täglick.«
 

Anmerkungen

1.  Der Bericht über die Verhängung der Stafe datiert vom 25.09.1916 (Ungewöhnliche Begegnungen, S. 51).

2.  Oberleutnant Shigeru Yamamoto wurde am 02.11.1914 nach Kurume versetzt und verließ es wieder am 26.1.1915. Ein Offizier namens Yamamoto, vielleicht derselbe, wirkte 1920 bei der Entlassung der Gefangenen mit. (Ungewöhnliche Begegnungen, S. 43, 45, 74).

3.  Alles deutet darauf hin, dass es sich um Karl Merck handelte.

4.  Ein solcher Besuch ist z.B. für den 07.01.1918 dokumentiert (Ungewöhnliche Begegnungen, S. 62).

5.  Es könnte sich um Jacob Gräf handeln, der freilich kein »Schüler« war.

6.  Im Original: »Stegreim-Verse«.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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