Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Nagoya

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"Strategisches Preisrätsel"

Wie überall versuchten die Gefangenen in Nagoya, sich die Zeit so gut wie möglich zu vertreiben. Im elften Monat der Gefangenschaft entstand unter den Offizieren – vermutlich bei Hermann Voigtländer – die Idee, ein Preisausschreiben zu veranstalten zur Frage: Wo stehen unsere Armeen Ende Oktober?
Wer sich mit was beteiligte, ist unbekannt, nur das preisgekrönte Gedicht von Voigtländer ist überliefert. Es enthält die typischen Ingredienzen dessen, was unter den Offzieren geredet wurde: der unbedingte Glaube an den Sieg (verbürgt vor allem durch Hindenburg, wenn auch zu einem ungewissen Termin), die Schuldzuweisung an England usw. samt einer (eher untypischen) Prise Selbstironie.

Der Redakteur bedankt sich bei Familie Voigtländer für die Überlassung einer Durchschrift des maschinengeschriebenen Textes. Er hat Schreibfehler berichtigt, Anmerkungen in [] oder als Fußnote hinzugesetzt und gesperrt geschriebenen Text kursiv wiedergegeben.

 

Freiwillige Offiziers-Vereinigung Nagoya1

Strategisches Preisrätsel
aufgegeben am 15.9.1915

Wo stehen unsere Armeen am 31. Oktober 1915?
(Preisgekrönte Lösung.)

    Das Prophezei'n, du lieber Gott, ist undankbar und schwer.
Und gar noch in politicis, da rät man hin und her,
Der eine grad', der andere krumm, der eilt, und der bleibt steh'n,
Der eine hält um Dwinsk2 herum, nach Petersburg zieht's den.

    Und wenn der Herren Elfe3 nun ihr'n Glauben kund hier tun,
Dann gibt's der Ansichten genug, ich lass' die Feder ruh'n.
Auch das Kroki4, das man gewünscht, das mache hier nicht ich,
Das überlass' ich – Hindenburg, der zeichnet es für mich:
Nicht Optimist, nicht Pessimist, er zeichnet wie er's kann,
Und darum schliess' ich ganz und gar mich seiner Meinung an.

    Denkt er zu geh'n nach Petersburg, ich folge seinem Schritte,
Nimmt übers Meer er Finnland ein, ganz meine Ansicht, bitte!
Odessa ist 'ne schöne Stadt, am Ural lässt sich's leben,
Nimmt Stellung dorten Mackensen – ich denk' genau so eben.
Gräbt Hindenburg im Baikalsee ins Eis den Schützengraben,
Dann staunt man wohl und sagt "Ach nee!" – ich wollt's genau so haben.
Doch ist er schon zufrieden gar, wenn Pinsk, Minsk, Dwinsk erreichet,
Und wartet dort, bis nach Neujahr der Schnee von neuem weichet –
(Sein Hauptquartier wird Riga dann, vielleicht auch Dünaburg) –
So disputiert und staunet man, und recht – hat Hindenburg.

    Im Westen wird es ähnlich sein, was nützt's, was wir hier sagen,
Und wenn wir's noch so heftig tun, uns kriegen fast am Kragen:
Der Führer dort geht unbeirrt den aussichtsreichsten Gang,
Der sicher uns zum Frieden führt, ob's kurz währt oder lang.
Ob Durchbruchs-, ob Umgehungsschlacht, ob Arras, ob Ardennen,
Ob Compiègne, ob Ypern gar als Wende man wird nennen;
Ob übern Tag, ob übers Jahr man gegen England zieht,
Dass endlich wird den Briten klar vom deutschen Hass das Lied,
Ob Unterseeboot, Zeppelin, Schlachtschiff, Torpedoboot,
Ob "dicke Bertha" (die von Krupp) den Krämern donnert Tod –
Ich weiss es nicht – wir wissen's nicht, drum sag' ich unbeirrt:
Wie's wird, das raten wir hier bloss, ich weiss nur, dass es wird!

    Ob Frieden wird in kurzer Zeit, ob nötig noch Geduld,
Wann endlich es gelingen wird, zu strafen Englands Schuld;
Ob Russland geht die Puste aus, ob bald es kommt zum Schluss,
Wie ungern jüngst Fürst Nikolaus im fernen Kaukasus;5
Rumänien, ob's vom Leder zieht, ob's lieber friedlich bleibt,
Byzanz6, ob's sieg- und kraftdurchglüht die Engländer vertreibt;
Ob Hauptmann wird d'Annunzio, ob kämpft er wie gemeldet; –
Und ob Italia wirklich froh, ob's nicht verschnupft, erkältet –
Ich weiss es nicht, wir wissen's nicht, drum sag' ich unbeirrt:
Wie's wird, nur raten können wir, ich weiss nur, dass es wird!

    Ob Malta einmal boairisch [bayerisch] wird, ob polnisch Österreich,
Ob Finnland mal an Schweden fällt, ob an das Deutsche Reich,
Ob spanisch wird Gibraltars Fels, ob englisch bleibt Calais;
Ob St. [San] Marino Suez kriegt, dass frei dann wird die See,
Ob Portorico 's Schwarze Meer in seine Tasche steckt,
Ob Luxemburg die Marmara als Binnenmeer erhält,
Ob Holland als ein Bundesstaat in Preussens Arme fällt,
Ob Tsingtau mal chinesisch wird, ob es japanisch bleibt,
Ob "streng neutral" von Wilson wird Mexiko einverleibt,
Ob man die Schweiz, wenn sie neutral geblieben bis zum Schluss,
Wohl mit Sizilien belohnt, ob mit dem Bosporus?
Ob London wird die Garnison vom neuen III. S.B.,
Ob Schmalz, ob gar der Herr von Schlick dort Kommandant in spe,
Ob Polen wird ein Königreich, Rogalla Kammerherr,
Ob Serbien wohl türkisch wird, ob Sachsen kommt ans Meer –
Wir reden, raten unbeirrt, besprechen's hin und her,
Im Meinungstausch verteilen wir die Länder kreuz und quer....

Wie's wird, das liegt in andrer Hand, und da liegt's, glaub' ich, gut!
Wie's wird, das schmiedet 's Vaterland mit Eisen und mit Blut;
Wie's wird, das weiss der Kanzler nicht, der Kaiser selbst noch nicht,
Sie trauen auch nur, dass es wird, dass Deutschland steht und siegt!

    Vertrauen darum soll'n auch wir,
          der Zukunft, unserm Heer,
    Dem Kaiser, unserm Vaterland
          Je länger, desto mehr.

    H. V.
    "Enfant terrible"7

Nagoya, Japan, in Kriegsgefangenschaft
20. September 1915.
 

Anmerkungen

1.  Der Begriff ist bisher nirgendwo sonst aufgetaucht.

2.  Name der lettischen Stadt Daugavpils (deutsch: Dünaburg) zwischen 1893 und 1920.

3.  Im Lager waren 12 Offiziere (Ahlers, Bleyhoeffer, Bringmann, Graenzer, Kessinger, Reimers, Reymann, Rogalla, Schlick, Schmalz, Schulz, Voigtländer); vermutlich hat sich Kessinger an dem Preisausschreiben nicht beteiligt (oder war Preisrichter).

4.  "Kroquis" (französisch "croquis") ist eine aufgrund von Erkundungen angefertigte Skizze bzw. ein militärisches Geländebild, hier im Sinne einer Landkarte verwendet.

5.  Hier liegt eine Fehlinformation vor: Großfürst Nikolai Nikolajewitsch Romanow war zwar ab 21.08.1915 russischer Oberkommandierender an der Kaukasusfront, hatte jedoch dort kaum Probleme; im Gegenteil führten seine Truppen Anfang 1916 einen erfolgreichen Angriff gegen die Türken.

6.  Steht wegen des Versmaßes hier für "Osmanisches Reich".

7.  "H.V." sind die Initialen von Hermann Voigtländer, "Enfant terrible" ist möglicherweise das Pseudonym, unter dem er das Gedicht beim Wettbewerb eingereicht hat.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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