Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Ninoshima

StartseiteGefangenschaft in JapanLagerNinoshima → Lagerzeitung


Lager-Zeitung Ninoshima


ZeitungVorbemerkung

Hinweise auf eine Gefangenen-Zeitung im Lager Ninoshima finden sich im Ausstellungsführer 1919 (S. 33) und bei Rüfer/Rungas (S. 31). Jedoch hatte der Redakteur bislang kein einziges Exemplar zu Gesicht bekommen. Die jetzt aufgefundenen, doppelseitigen maschinenschriftlichen Blätter im Hochformat 352 x 252 mm tragen im Kopf die Bezeichnungen "No. 283 / Ninoshima, Freitag, den 10. Oktober 1919 / 5. Jahrgang" bzw. "No. 286 / Ninoshima, Montag, den 13. Oktober 1919 / 5. Jahrgang" .

Anscheinend hat die Jahrgangszählung bereits im Lager Osaka begonnen hat (Jahrgang 1 = 1915 als "Osakaer Lagerzeitung") und wurde in Ninoshima (ab 1917 als "Lager-Zeitung Ninoshima") fortgesetzt; die Ausgabenzählung lässt vermuten, dass die Zeitung auch samstags und sonntags erschien (der 10.10. war der 283. Tag des Jahres).

Die hier auszugsweise wiedergegebene No. 283 enthält ausschließlich Meldungen aus der "großen Politik" und am Schluß eine "lokale" Notiz. Ähnlich verhält es sich mit No. 286, jedoch reicht das nicht aus, um Rückschlüsse auf den Zeitungsinhalt insgesamt zu ziehen.

Weder die Ausgaben als Ganzes noch die einzelnen Artikel in der "einzigen deutschen Zeitung des fernen Ostens" (Eigenwerbung) sind namentlich gekennzeichnet. Im Ausstellungsführer sind jedoch angegeben: "Verantwortlicher Schriftleiter: W. Hinney / Technischer Leiter: Hugo Hirche."
 

Die beiden Blätter stammen aus dem Nachlass von Nikolaus Dörrenbächer, dessen Enkel Horst Dörrenbächer wir herzlich danken. Bei der Übertragung hat der Redakteur Abkürzungen ausgeschrieben, Orthografie und Interpunktion maßvoll verändert und Bemerkungen in [ ] oder als Fußnoten hinzugesetzt.


[Inhalt der No. 283 vom 10.10.1919]

A. Sydney 8.10. Kopenhagen.1 Ein Petersburger Telegramm meldet: General von der Goltz hat sich mit seinem Stabe auf die Seite der russischen gegenradikalen Partei gestellt. Die deutsche Regierung hat erklärt, dass sie mit dem Vorgehen des Generals von der Goltz in keinerlei Beziehung steht. Ein Berliner Telegramm sagt aber nichts darüber, ob die deutsche Regierung diesen Bericht bestätigt.2

M. London S.T. 6.10. Es wird erwartet, dass der Friedensvertrag mit Deutschland im Laufe dieser Woche durch 3 der fünf Grossmächte ratifiziert werden wird. Dann werden die Verbündeten die amtlichen Verhandlungen mit Deutschland eröffnen können. Weiter wird der ausführende Ausschuss des Völkerbundes einen höchsten Ausschuss, der in Danzig tagen wird, ernennen. Auch für das Saargebiet wird ein Verwaltungsausschuss gebildet.

M. Paris S.T. 7.10. Der italienische König hat den Friedensvertrag mit Deutschland und den Friedensvertrag mit Österreich ratifiziert.

M. Paris 4.10. Der französische Minister des Inneren Pams3 hat am 3. dem Senat den Friedensvertrag und den Vertrag über das französische, englische und amerikanische Bündnis vorgelegt. Der Senat wird wahrscheinlich am 9. die Erörterungen über die Verträge eröffnen.

A. Canton S.T. 8.10. Am 7. hat das Parlament von Canton einen Antrag, durch den der Krieg mit Deutschland als erloschen erklärt wird, angenommen.4

A. Paris S.T. 6.10. Der Leiter des Friedensausschusses im französischen Senat wird am 7. dem Senat einen Bericht einreichen. In diesem wird in der Shantungfrage der Beschluss des Ausschusses für Japan vorteilhaft sein.5

M. Paris 5.10. Der amerikanische Friedensbevollmächtigte House hat am 5. abends den französischen Premier Clemenceau besucht und hat in derselben Nacht die Heimreise angetreten. Der Oberst erklärte amerikanischen Berichterstattern gegenüber: "Nach Durchführung des Versailler Friedens wird die erste Versammlung nicht die Hauptversammlung des Völkerbundes sein, sondern eine über den Völkerbund beratende Zusammenkunft. Diese wird zwei Wochen nach Erledigung der Friedensverträge in Paris eröffnet werden. Die Versammlung muss gemäss den Bestimmungen des Friedensvertrages die Grenzen des Saargebietes festlegen. Falls Amerika als 3. Macht den Friedensvertrag ratifiziert, wird diese beratende Versammlung verschiedene andere Fragen erörtern können."

M. New York S.T. 6.10. Die Tätigkeit des amerikanischen Senats wird beschleunigt. Man glaubt, dass die Führer der republikanischen und der demokratischen Partei bis zum 1. November die letzten Entscheidungen über den Friedensvertrag sprechen werden. Die Änderungsvorschläge in der Shantungfrage werden diese Woche den Stoff zu Erörterungen abgeben. Die Entscheidung wird wahrscheinlich am 9. erfolgen. Selbst Herr Borah (Republikaner) erwartet, dass der Shantungantrag am 9. begraben werden wird.6 Falls die Vorbehaltsbedingungen im Antrag des Herrn Johnson nicht geändert werden, so können sie auch nicht angenommen werden. Die Bemühungen des früheren Präsidenten Taft werden schließlich auf einen kleinen Erfolg beschränkt bleiben. Herr McCumber (Republikaner) erklärte: "Es ist klar, dass die letzte Einigung erzielt werden wird auf Grundlage des von den milderen Vertretern befürworteten Vorbehalts. Ein solcher Vorbehalt sieht aber anders aus als der von Taft befürwortete; er kann natürlich von den unterzeichneten Mächten anerkannt werden."

M. Paris 4.10. Die Havas Nachrichten-Gesellschaft veröffentlicht die ganze Denkschrift vom 4.9., die der französische Premier an den Obersten House gerichtet hat. Clemenceau zeigt in diesem Schreiben, dass die Hoffnungen, welche durch die Erwartung der Errichtung des Völkerbundes entstanden sind, erfüllt und die internationalen Fragen, welche alle Völker betreffen, gefunden werden müssen. Er spricht die Meinung aus, dass die erste Völkerbundsversammlung möglichst schnell in Washington eröffnet werden muss. Er hat vorgeschlagen, dass die Versammlung im November eröffnet werden soll, dass die Völker, welche mit der Gründung des Völkerbundes in Verbindung stehen, Einladungen erhalten sollen und dass eine möglich[st] starke Teilnahme angeregt werden soll.

M. London S.T. 6.10. Eine Nachricht aus dem Auswärtigen Amt, die von Amerika nach London gekommen ist, besagt, dass es nicht dahin kommen werde, dass die erste Völkerbundsversammlung in diesem Jahr eröffnet werde.

M. Paris S.T. 6.10. Die Zeitung Petit Parisiens erfährt: Unter den Friedensbedingungen gegen Ungarn befinden sich folgende Punkte: 1.) Ungarn verliert 18500 Quadratkilometer und 10 Millionen Einwohner. Es bildet einen Staat von 140000 Quadratkilometern mit 10 Millionen Einwohnern. 2.) Das südslavische Reich wird Kroatien, Slowenien, das Banat und das Temesvar mit 3 Millionen Einwohnern erhalten. 3.) Das tschecho-slowakische Reich wird die Gegend von Pressburg–Kaschau erhalten. 4.) Transsylvanien mit 3 Millionen Einwohnern fällt an Rumänien.

M. Paris S.T. 6.10. Die französische Regierung hat mit der belgischen Regierung Verhandlungen eröffnet über die Zukunft des Grossherzogtums Luxemburg. Das belgische Volk stimmt dem Antrage, dass durch Volksabstimmung über Luxemburg entschieden werden soll, nicht zu. Luxemburg hat dieselben Beziehungen zu Belgien wie Elsaß-Lothringen zu Frankreich. Da Elsass-Lothringen in Frankreich einverleibt worden ist, so hat jetzt Belgien das Recht, Luxemburg einzuleiben. Dieses wird jedoch die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Belgien nicht gefährden. Um ein inniges Zusammenwirken zwischen den drei Ländern herzustellen, besteht die Absicht, mit Freuden die luxemburgischen Eisenbahnen zusammen mit Belgien zu verwalten.

M. Paris S.T. 7.10. Graf Berchthold, der bei der Eröffnung des Krieges österreichischer Minister des Äusseren war, verteidigt die im österreichischen Rotbuch veröffentlichten Erklärungen. Er sagt: "Der deutsche Botschafter in Wien erhielt nur drei Tage vor Übergabe des österreichischen Ultimatums an Serbien Kenntnis von diesem Schriftstück."

M. Paris S.T. 7.10. In Berlin haben 47000 Eisenarbeiter den Ausstand beschlossen. Der Streik dehnt sich auch auf andere Werke aus, sodass die Zahl der Streikenden 67000 erreicht. Infolge des Streiks fördern die entlassenen Arbeiter den völligen Stillstand der Produktion.

[...]

LOKALES.

Zu kaufen gesucht: Toussaint Langenscheidt Englisches Wörterbuch, große Ausgabe.
Zu verkaufen: Kragen aller Art.         A. Schröder


[Auszug aus No. 286 vom 13.10.1919]

[...]

LOKALES.

Herr Schmitz, früher Ingenieur bei der Nihon Kokan K.K., Kawasaki, Tokyo, sucht für Japan einen gelernten Eisengiesser, der auch Erfahrung im Hartguss hat. Es handelt sich darum, eine wirklich tüchtige Kraft zu gewinnen. Eventuelle Angebote mit genauen Angaben über frühere Tätigkeit usw. bitte an P. Schmitz, Bando, zu richten.
TOKYO, den 9. Oktober 1919   Jo. H.A.5344/20

Betr. Reservisten, Reisekostenentschädigung
Nachdem von zuhause die prinzipielle Einwilligung zur Reisekostenentschädigung gekommen ist und die Listen der Entschädigungsansprüche gesammelt und auf Veranlassung von Herrn Kapitän zur See Saxer zusammengestellt sind, haben wir nunmehr den schweizerischen Gesandten gebeten, im folgenden Sinne nach Hause drahten zu wollen:
    "Von Reservisten aufgestellte Reisekostennachweise Tsingtau rund vierzigtausend Dollars, fünfzehntausend Yen, sechzehnhundert Rubel. Punkt. Erläuterte Einzelzahlen durchgesehen, genaue Prüfung unmöglich. Bitte baldigst Geld und ob verschiedene Münzen gleichzusetzen."
Mit freundlichem Gruss!  Hilfsausschuss Tokyo  (gez.) A. Kestner.

Betrifft: Taschengeld für Oktober
Falls jemand sein Taschengeld nicht erhalten hat, bitte ich um Mitteilung bis morgen Mittag.
Nürnberger, Marine-Zahlmeister
 

Anmerkungen

1.  Die Bedeutung von "A.", später auch von "M." und "S.T." ist unklar.

2.  Gemeint ist Generalmajor Rüdiger von der Goltz, der am 12.10. das Kommando über seine Truppen abgeben musste.

3.  Jules Pams amtierte vom 16.11.1917 bis 20.01.1920.

4.  Nach Auflösung des Pekinger Parlaments im Juli 1917 hatte sich unter anderem in Kanton ein "Gegenparlament" konstituiert, das unter dem Einfluss von Sun Yatsen stand. Die Zentralmacht in Peking hatte den Vertrag von Versailles nicht unterzeichnet, sondern von sich aus am 15.09.1915 den Krieg mit Deutschland für beendet erklärt.

5.  Die "Shantungfrage" war der Grund für die Nichtunterzeichnung des Versailler Friedensvertrags durch China: Die deutschen Vertragsrechte von 1898 gingen nicht auf China über, sondern auf Japan. Insoweit sahen sich die Chinesen von den Alliierten, insbesondere den USA, getäuscht.

6.  William Borah, 1907-1940 Senator für Idaho, war – wie Johnson und McCumber – ein scharfer Gegner des Versailler Vertragswerks; er trug dazu bei, dass im US-Senat zweimal (19.11.1919 und 19.03.1920) die notwendige Mehrheit für die Ratifizierung – und zugleich für den Beitritt zum Völkerbund – verfehlt wurde. Die erwähnten "Vorbehalte" beziehen sich auf den Beitritt; eine starke Fraktion unter Führung von Henry Cabot Lodge (Massachusetts) wandte sich vehement gegen die Aufgabe von nationalen Rechten zugunsten des Völkerbunds mit der Folge, dass die USA der Gemeinschaft niemals beitraten. Für Präsident Wilson, der sie initiiert und dafür den Friedensnobelpreis erhalten hatte, bedeutete dies das Scheitern seines wichtigsten Vorhabens. Der Kriegszustand mit Deutschland wurde erst durch die Knox-Porter-Resolution beendet, die 1921 vom Kongress angenommen und am 02.07.1921 von Präsident Harding unterzeichnet wurde.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
Zuletzt geändert am .