Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Biographien

StartseiteBiographien → Kluge


Ernst Kluge in Tsingtau und Kurume

Ein Rückblick nach 90 Jahren von Christian Kluge
 

Die folgenden, im Dezember 2007 abgeschlossenen Aufzeichnungen beruhen auf dem, was Ernst Kluge seinem Sohn über die Ereignisse vor 90 Jahren erzählt und an Dokumenten hinterlassen hat. Der Text wurde vom Redakteur durch eine Gliederung sowie einige Anmerkungen ergänzt und um einige Bilder gekürzt.


 

Einleitung
 
Ernst Kluge 1914

Dies ist die Geschichte meines Vaters, der 1914 als Einjährig-Freiwilliger seinen Wehrdienst auf eigenen Wunsch beim III. Seebataillon in Tsingtau ableistete.

Er geriet dort nach heftigen Kämpfen in japanische Kriegsgefangenschaft und verbrachte 5 Jahre im Kriegsgefangenenlager in Kurume auf der Insel Kyushu. Die Bedingungen, unter denen die deutschen Kriegsgefangenen dort lebten, kann man heute in Kenntnis dessen, was im Zweiten Weltkrieg an Schrecklichem in deutschen, russischen und auch in japanischen Lagern passiert ist, nur als paradiesisch bezeichnen.

Bild 1: Ernst Kluge in Tsingtau (1914).

Ich habe über die Geschichte meines Vaters im Oktober 2007 auf Einladung des in Japan bekannten Meizen-Gymnasiums in Kurume einen Vortrag vor über 1000 – überwiegend jungen – Zuhörern gehalten. Zu dieser Einladung kam es, weil ich in über 20 Jahren auf vielen Geschäftsreisen nach Japan so manchem meiner Partner und Geschäftsfreunde diese für Japan überaus positive Geschichte erzählte. Einer von ihnen stellte den Kontakt zwischen mir und dem Stadtarchiv in Kurume her, als er erfuhr, dass ich der Stadt Kurume ca. 100 Originalfotos, zahlreiche Dokumente und die Tagebücher meines Vaters schenken wollte. Er selbst brachte den ersten Teil meines Materials persönlich nach Kurume, wo diese angeblich ersten Originalbeiträge von der deutschen Seite – nach fast 100 Jahren! – ziemliche Begeisterung auslösten. Mein restliches Material durfte ich bei meinem Besuch in einer feierlichen Aktion dem Bürgermeister selbst überreichen.1 Man hat meine Frau und mich 6 Tage lang sehr großzügig betreut und uns an all die aus alten Fotos identifizierbaren Stätten geführt, wo auch die Kriegsgefangenen waren.

Schon in meiner frühen Kindheit hatte ich verstanden, dass ein Ort namens Kurume in Japan eine große Rolle im Leben meines Vaters gespielt haben musste. In der Familie wurden sogar einige japanische Worte benutzt, die wir so oft von meinem Vater hörten, dass ich drei davon bis heute behalten habe: Das wichtigste war "Yeroshii-des"; das sagte mein Vater immer, wenn ihm das Essen geschmeckt hatte. Ein zweites Wort war "Akemono", seine Bezeichnung für den Flaschenöffner, und schließlich erinnere ich Zeit meines Lebens "Matsutake"-Pilze, von denen mein Vater immer schwärmte und meinte, dass sie besser schmeckten als Steinpilze.

Ferner gab es da ein Teeservice aus hauchdünnem Porzellan, das eine japanische Winterlandschaft mit einer Pagode zeigte. Besonders gut gefielen mir die Tassen, weil man in ihrem Boden schemenhaft Figuren sah, wenn man sie gegen das Licht hielt, was ich unter Bewachung durch meine Mutter tun durfte. Dann gab es Fotoalben mit über 100 vergilbten Fotos, die ich mir immer wieder erklären ließ, zwei Alben mit sorgfältig eingenähten Briefen aus dem Lager an die Eltern, alle mit schönen japanischen Stempeln versehen und einer sogar mit einer echten abgeschnittenen Haarlocke meines Vaters. Und schließlich waren da drei Tagebücher in für mich unleserlicher Handschrift, Bücher und verschiedene Dokumente und ein hübsches kleines Ölbild, das eine Landschaft im Lauschan-Gebirge bei Tsingtau in China zeigte und das mein Vater auf einer Kunst und Gewerbeausstellung im Lager in Kurume erstanden hatte, wie er erzählte.

Aus den Erzählungen meines Vaters, aus den Anekdoten aus dem Lager Kurume, die er uns wieder und wieder erzählen musste – und die wir ihn schließlich baten aufzuschreiben, als er schon über 80 war –, aus dem Studium vor allem der Tagebücher und der Briefe hat sich für mich nach und nach ein ziemlich deutliches Bild dessen ergeben, was mein Vater damals in Tsingtau und in Kurume erlebt hat. Und mir wurde auch klar, dass es eine Zeit war, auf die er offensichtlich ohne Groll zurückblickte.
 

Tsingtau

Mein Vater wurde 1892 als Sohn des Generaldirektors einer kleinen Transportversicherungsgesellschaft in Berlin geboren. Nach dem Abitur und Auslandsaufenthalten in England und Frankreich beschloss er 1913, seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger bei der Marineinfanterie abzuleisten, und zwar in dem kleinen Pachtgebiet Kiautschou, welches das Deutsche Reich 1898 – nicht ohne Druck – auf 99 Jahre von China erworben hatte.
 
Cuxhaven 1913

Bild 2: Rekrutenausbildung beim III. Seebataillon in Cuxhaven 1913.

Überfahrt 1914

Bild 3: Im Januar 1914 erfolgte die Überfahrt nach Tsingtau mit dem Truppentransporter "Patricia".

Mein Vater lebte sich in der Stadt rasch ein, was ihm wohl auch deshalb leicht fiel, da er als Einjähriger nicht in der Kaserne wohnte, sondern auf eigene Kosten im Privatquartier. Er knüpfte zahlreiche gesellschaftliche Kontakte mit deutschen und auch englischen Familien, unternahm an freien Tagen im schönen Lauschan-Gebirge Bergtouren, z.B. vom Mecklenburghaus aus, und genoss das Leben.
 
Familie Roche Rikscha

Bild 4: Ernst Kluge zu Gast bei der Familie von Mary Roche...

Bild 5: ... und als "Kolonialkrieger".


Krieg und Gefangenschaft

Über die Tage vor Kriegsausbruch in Tsingtau und über die anschließenden Kämpfe und die Gefangennahme durch die japanischen Truppen sowie über die Ankunft am 6. Oktober 1914 und die ersten Monate im sogenannten Tempellager Kurume berichtet mein Vater in seinen Tagebüchern. Ziemlich wenig schreibt er bis zum Spätsommer 1919 über den vermutlich recht monotonen Alltag im Hauptlager. Aus den Briefen an seine Eltern und aus den zahlreichen Fotos, die er nach Hause schickte, ergibt sich jedoch ein recht genaues Bild über das Lagerleben und über die Behandlung durch die Japaner, das ich als insgesamt positiv werten möchte.

Benachrichtigung 1914In den ersten Wochen im Lager bestand die Hauptsorge aller Lagerinsassen vor allem darin, wie sie ihre Familien benachrichtigen konnten, dass sie sich in japanischer Kriegsgefangenschaft befanden, gesund waren und dass es ihnen gut ging. Der erste Brief meines Vaters an seine Eltern, geschrieben am 10. Oktober 1914, benötigtete 4 Wochen nach Berlin; mein Vater allerdings schwebte bis zum 6. Dezember im Ungewissen, ob seine Familie diesen Brief erhalten hatte und wusste, dass er gesund war und sich als Kriegsgefangener in Kurume befand.


Bild 6: Benachrichtigung durch das IRK (1914).

Im Juli 1915 wurden verschiedene kleinere Lager, wie auch das "Tempellager", in welchem sich die ersten 60 Gefangenen befanden, im großen Hauptlager zusammengefasst. Angesichts von zeitweise über 1.300 jungen, gesunden und schnell auch heftig gelangweilten jungen Männern, die hier gezwungen waren, auf engstem Raum zusammenzuleben, konnte es nicht ausbleiben, dass man sich – bei aller Disziplin – doch zunehmend auf die Nerven ging. Spannungen und Animositäten entwickelten sich, nicht nur zwischen den Gefangenen selbst, sondern auch im Verhältnis zu ihren Bewachern.

Das galt insbesondere für die Zeit unter dem zweiten Lagerkommandanten, der versuchte, im Lager einen harten militärischen Drill durchzusetzen. Jedes noch so kleine Vergehen und Vorkommnis wurde unnachsichtig geahndet, es hagelte täglich neue und nicht selten völlig unsinnige und widersprüchliche Anweisungen und Verordnungen, die oft auch widerrufen wurden, deren Nichtbefolgen oder auch nur Nichtverstehen aber umgehend zu Arreststrafen führten. Die Situation eskalierte zusehends, und als ein japanischer Offizier einen deutschen Seesoldaten ins Gesicht schlug und von diesem zurückgeschlagen wurde, kam es zu Handgreiflichkeiten mit der Wache, zu Streik und zu Meuterei-ähnlichen Zuständen im Lager. Zwei Kompanien Soldaten besetzten das Lager, und es gab Verhaftungen, auch wegen angeblichen Fluchtversuchs.

Offenbar auf Weisung von ziemlich hoher Stelle wurde die ganze Angelegenheit dann aber friedlich beigelegt. Erich Fischer, ein Freund meines Vaters, schrieb dazu in seinem Tagebuch: "Der Oberstleutnant rief anderntags die Barackenältesten zusammen und hielt ihnen eine große Rede: Die Insubordination sei bedauerlich, aber er wolle sie vergessen, wie auch wir sie vergessen sollten. Wenn wir wieder über etwas zu klagen hätten, sollten wir uns an ihn wenden und nicht durch Streiks und dergleichen etwas zu erzwingen hoffen. Der Mann, der den Offizier geschlagen hatte, würde möglichst milde bestraft – er bekam 7 Tage Arrest –, der Offizier habe vom japanischen Standpunkt aus recht gehandelt, da den Vorgesetzten das Schlagen nicht verboten sei. Im übrigen trete keinerlei Bestrafung ein, Post gebe es wie immer und die Ausflüge würden auch nicht beschränkt. Der 'entflohene' Obersteuermann wurde zu 30 Tagen strengen Arrests verurteilt, weil er wieder im Begriffe war, zum Lager zurückzukehren."

Bei den mir erinnerlichen, sehr freundlichen Äußerungen meines Vaters über seine Zeit in Kurume erwähnte er immer wieder den offiziellen Dolmetscher im Lager, einen Oberleutnant Yamamoto, der schon bald von dem zweiten Lagerkommandanten wegen zu großer Deutschfreundlichkeit fortgelobt wurde. Mit Yamamoto, einem liebenswürdigen, hoch gebildeten Mann, verband ihn vom Tage seiner Ankunft im Tempellager an eine richtige Freundschaft. Er las und diskutierte mit ihm auf dessen Bitte die Werke deutscher Dichter, und Yamamoto gab ihm Japanischunterricht. Er hat meinen Vater Anfang der dreißiger Jahre auch einmal in Berlin besucht.
 

"Eine etwas andere Gefangenschaft"2

Da mein Vater immer wieder betonte, wie relativ gut es den deutschen Kriegsgefangenen in Kurume letztlich ergangen ist, habe ich im Folgenden versucht, aus seinen Briefen und Aufzeichnungen herauszufinden, um welche, aus heutiger Sicht z. T. erstaunlichen, Privilegien es sich dabei gehandelt hat.

Briefe und Pakete

BriefumschlagDie Kriegsgefangenen durften Briefe schreiben und empfangen, und bis Mitte 1915, also bis zum Umzug vom Tempellager in das große Hauptlager in Kurume, offenbar sogar unzensiert und in der Länge unbegrenzt (meines Vaters erster Brief hatte 8 Seiten). Insgesamt schrieb er aus Kurume 121 Briefe an seine Eltern und eine große, aber nicht mehr feststellbare Zahl von Briefen und Karten an seine Schwester und an Freunde. Die Zahl der an ihn adressierten Briefe ist mir nicht bekannt, war aber wohl noch erheblich höher.

Bild 7: Brief in die Heimat..

Wegen der enormen Belastung für die Zensoren durften ab Juli 1915 von jedem Gefangenen nur noch 2 Briefe à 2 Bögen DIN A 5 und 1 Postkarte pro Monat geschrieben werden. Ab 1916 reduzierte sich das dann auf nur noch einen Briefbogen und 1 Karte, weshalb mein Vater von da an seine Briefe auf einer Reiseschreibmaschine tippte, weil er mehr auf den kleinen Bogen bekam. In Kenntnis der elendigen und auch mörderischen Bedingungen in manchen deutschen und russischen Kriegsgefangenenlagern des Zweiten Weltkriegs muss sich das trotzdem einmal vorstellen: ein Kriegsgefangener der in seiner selbstgebauten Gartenlaube zwischen Vogelkäfigen und Pfeife rauchend auf seiner Remington Briefe schreibt, um seinen Eltern mitzuteilen, was sie ihm schicken sollen!

WeihnachtspaketeNeben Briefen konnten alle Gefangenen regelmäßig Pakete empfangen. Die Zahl war offenbar nicht begrenzt, und der Inhalt war innerhalb gewisser Mengen zollfrei. Mein Vater erhielt im Mai 1915 sein erstes Paket und bis 1919 insgesamt gut über 150 – wahrscheinlich mehr als die meisten Mitgefangenen. Er hatte das Glück, eine liebevolle Familie hinter sich zu wissen, wurde darum auch von manchem beneidet, teilte aber regelmäßig den Inhalt seiner Pakete, vor allem Schokolade, Rauchwaren und Lebensmittel mit anderen und sorgte sogar dafür, dass seine Eltern anderen Gefangenen, die niemanden hatten, der sie bedachte, auch hin und wieder ein Paket schickten, weil, wie er seinen Eltern schrieb, Wirkung und Freude beim Empfänger viel größer waren, als wenn er ihm etwas abgab.

Bild 8: "Die Weihnachtspakete sind da!"

Die Frage, wie lang Briefe und Pakete zwischen Deutschland und Japan unterwegs waren, war ein ständiges Thema im Lager. Jede denkbare Alternative wurde ausprobiert: über Sibirien, über USA und über neutrale Länder wie die Schweiz und Norwegen oder per Kriegsgefangenenpost und Feldpost. Am Ende zeigte sich, dass die verschiedenen Postwege keinen wesentlichen Unterschied in der Länge der Postbeförderung machten: Briefe waren im Schnitt zwischen 6 und 8 Wochen unterwegs und Pakete bis zu 3 Monate.

Ein regelmäßiger Stein des Anstoßes im Lager war die Unregelmäßigkeit und oft auch die enorme Verzögerung beim Empfang von Post. Das lag zum einen an der langsamen Postbeförderung und den langen Wegen, zum anderen aber auch an den Zensoren, an dem Zoll und an der Bürokratie. Oft gab es wochen- und monatelang kaum Post und dann plötzlich eine regelrechte Schwemme, wenn sich der Rückstau auflöste. Hin und wieder wurde auch vermutet, dass die Zensoren bei Überlastung auch mal ganze Bündel von Briefen verschwinden ließen.

Ausflüge

Schon während der ersten Monate im provisorischen, so genannten Tempellager machten die Kriegsgefangenen Ausflüge in die schöne Umgebung von Kurume, besuchten Tempel, Schreine und japanische Gärten und durften sogar im Fluss Chikokugawa baden.
 
Auf der Korasan-Brücke

Bild 9: Deutsche Kriegsgefangene auf einem Ausflug zur Korasan-Brücke beim Betrachten von Goj-Karpfen.


Geld

Allen Lagerinsassen war es gestattet, bei der japanischen Post-Sparkasse ein Konto zu eröffnen und darauf Geld aus dem Ausland oder auch aus Japan zu empfangen. Zweimal im Monat durften sie je Yen 20 abheben. Ab 1917 wurde dieser Betrag wegen der Inflation auf 30 Yen erhöht. Das Geld durfte in bestimmten Läden und Geschäften in Kurume ausgegeben werden. Im Lager selbst gab es auch eine Kantine der Lagerleitung, die allerdings unglaublich hohe Preise verlangte, vor allem für Dinge, die nicht zum normalen Konsum in Japan gehörten, wie Kaffee, Butter und Käse.

Auch die Firma Siemens-Schuckert in Tokyo fungierte als Clearingstelle für Überweisungen aus und nach Deutschland zur japanischen Post-Sparbank. Siemens bezahlte übrigens monatlich 2-3 Yen an jeden Gefangenen. Die deutschen Offiziere erhielten ein Salär von der japanischen Regierung!

Meines Vaters Verbrauch betrug monatlich im Schnitt 45 Yen (etwa 100 Mark). Dafür konnte er, wie er seinen Eltern schrieb, etwa das gleiche kaufen wie in Berlin für 35-40 Mark. Die Preise in Japan waren also mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Das sollte allerdings noch schlimmer werden: Der Wechselkurs der Mark zum Yen, der am Anfang des Krieges noch bei 44 lag (also: 44 Yen für 100 Mark), verschlechterte sich durch den Einfluss des Krieges auf die deutsche Währung bis zum Kriegsende rapide: 1919 gab es für 100 Mark nur noch 14 Yen. Damit entsprach der Monatsverbrauch von 45 Yen nicht mehr rund 100, sondern am Ende fast 300 Mark – eine enorme Belastung für die Eltern in der wirtschaftlich am Boden liegenden Heimat!
 

Nachrichten und Informationen

ZeitungsleserIm Lager gab es eine regelmäßige Versorgung mit Nachrichten und sogar eine eigene Lagerzeitung. Die in Schanghai erscheinende "Deutsche Zeitung für China" gab eine Zeitlang eine Sonderausgabe für die deutschen Kriegsgefangenen heraus.

Bild 10: Ein Leser der "Deutschen Zeitung für China"

Darüber hinaus kamen Zeitschriften und Zeitungen aus Deutschland in den Paketen an. Sie waren im Lager hoch begehrt und machten die Runde, wurden allerdings zensiert. Schließlich gab es offiziell die Nachrichten von Reuters. Hier hatten die Kriegsgefangenen immer die große und wohl nicht unberechtigte Sorge, dass diese Nachrichten einseitig die angelsächsische Sicht der Dinge wiedergaben. Sehr wichtig für die Versorgung des Lagers mit Informationen war der Umstand, dass japanische Tageszeitungen frei erhältlich waren. Da einige der Kriegsgefangenen in Japan aufgewachsen waren und fließend Japanisch sprechen und lesen konnten und die japanischen Zeitungen ihre internationalen Nachrichten von vielen Nachrichtenagenturen bezogen, auch von deutschen, waren diese Zeitungen eine wichtige Informationsquelle.

Nach der FeierDa Nachrichten aber generell mit Verspätung und manchmal nur bruchstückhaft ankamen, weil die Zensur Teile geschwärzt hatte, konnte das wahre Bild der Entwicklung des Krieges nur mosaikartig zusammengesetzt werden. Es gab daher eine wilde Gerüchteküche, die auch von patriotischem Wunschdenken befeuert wurde, und es dauerte ziemlich lange, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass der Krieg für Deutschland nicht so gut lief, wie alle ausnahmslos zu Anfang noch angenommen hatten. Viele hatten ja auch mit den Briefen aus der Heimat Nachrichten von gefallenen und verwundeten Schulfreunden und Angehörigen erhalten, und die anfängliche Euphorie im Lager über den selbstverständlich unvermeidlichen schnellen Sieg der deutschen Truppen auf den europäischen Kriegsschauplätzen wich allmählich einer eher gedrückten Stimmung, immer aber gemischt mit einem trotzigen Stolz auf die eigenen Soldaten, was auch zu regelmäßigen Feiern führte, wenn es wieder einmal einen deutschen Sieg gegeben hatte.

Bild 11: "Bukarest gefallen!" – am Morgen nach der Siegesfeier.
 

Bücher

BibliothekarSchon in den ersten Tagen des Lagerlebens, noch im Tempellager, wurde mit den zahlreichen von in Japan lebenden und arbeitenden deutschen Staatsangehörigen gestifteten Büchern eine Bibliothek gegründet, die am Ende aus über 1500 Büchern bestand. Mein Vater, der recht belesen war, wurde zum Bibliothekar ernannt und übte diese Funktion bis zum Ende der Gefangenschaft aus. Damit war sein Tag eigentlich ganz gut ausgefüllt, und er litt weniger unter Langeweile als die meisten anderen. Im Hauptlager in Kurume genoss er dann sogar den Luxus eines eigenen kleinen Bibliothekraums. Während der Öffnungszeiten, aber auch sonst konnte er in diesem geheizten und gut beleuchteten Raum ungestört lesen, seinen Sprachstudien nachgehen und selbst als Leiter der Französischgruppe Unterricht erteilen. Der Raum wurde aber auch von seinen Freunden und Bekannten zum ungestörten Lesen und Kartenspielen benutzt.

Bild 12: Der Bibliothekar beim Lesen.

In den großen, mit 80-100 Mann belegten Baracken gab es einen so hohen Geräuschpegel, dass ungestörtes Lesen fast unmöglich war. Im Übrigen erzeugten die üblichen 25-Watt-Birnen eine jämmerliche Beleuchtung, und die nur von Hibachis und der Körperwärme der Insassen erzeugte Temperatur machte das Leben und das Leben in der Baracke im Winter sehr ungemütlich.
 
Baracke

Bild 13: Baracke 9 im Kôradai-Lager.
 


Sport

Sport als Zeitvertreib, zur Zerstreuung und als wichtiger Beitrag zur Hebung der Moral und zum Erhalt der Gesundheit wurde von der Lagerleitung gefördert und erfreute sich bei den Lagerinsassen großer Beliebtheit. Verschiedene Arten von Ball- und Mannschaftsspielen wurden ausgeübt, und es gab Hockey-, Tennis-, Fußball-, Box-, Leichtathletik- und Turnvereine. Jedes Jahr wurden offizielle Lagermeisterschaften ausgetragen, und es gab regelmäßige Wettkämpfe auf dem begrenzten Hauptplatz des Lagers. Ab 1918 wurde das Lager um einen richtigen Sportplatz erweitert.
 
Gewichtheben Barlaufspiele

Bild 14 (links): Hans Skrebba, der beste Gewichtheber des Lagers.

Bild 15 (oben): Barlaufspiele auf dem Sportplatz.

Wahrscheinlich waren die gute Ernährung der Kriegsgefangenen (sie hatten ihre eigene Küche) und die regelmäßigen Sportaktivitäten der Hauptgrund dafür, dass die spanische Grippe, die in der ganzen Welt fast 20 Millionen - vor allem junge - Männer das Leben kostete, in Kurume sehr glimpflich abging. Überhaupt sind in den gesamten fünf Jahren nur 11 Insassen dieses Lagers ums Leben gekommen, davon einer als Folge seiner im Kampf um Tsingtau erlittenen Verwundungen. Für die Gestorbenen gibt es heute in Kurume ein kleines Denkmal, welches ich auch besucht habe. Ein japanischer Professor, Mitglied der Deutsch-Japanischen Gesellschaft in Kumamoto, hat an der gepflegten Gedenkstätte zwei Lindenbäume gepflanzt, die er selbst vor Jahren aus Deutschland mitgebracht hatte.

Theater und Musik

Theaterspiel und Musik wurden von der Lagerleitung sehr unterstützt. Schon 1915 wurde auf dem großen Platz eine kleine Bühne mit Vorhang errichtet, wo regelmäßig Aufführungen der Theatergruppen, der Lagerkapelle und des Kammer- und Symphonieorchesters stattfanden. Das erste Lagerorchester wurde bereits Anfang 1915 im Tempellager gegründet. Die Instrumente waren z.T. selbstgebaut, wie z.B. das Cello und die Pauken. Gespielt wurden von der Theatergruppe neben den Klassikern, wie z.B. Minna von Barnhelm, auch Komödien wie "Charley's Tante" und leichte Stücke. Alles war selbstgemacht, von den Kostümen über die Perücken bis hin zu den Kulissen.

Lagerorchester
Bühne

Bild 16 (oben): Das erste Lagerorchester – mit selbstgebautem Cello – im Tempellager. In der Bildmitte: Oberleutnant Yamamoto.

Bild 17 (links): Die neu gebaute Bühne im Barackenlager Kurume.


Die Neunte
Das Symphonieorchester des Lagers hat der Stadt Kurume zu einem Ansehen der besonderen Art verholfen: Am 4. Dezember 1919 führte es zusammen mit seinem Männerchor in der nahe liegenden Mädchenschule, dem heutigen Meizen-Gymnasium, erstmalig öffentlich in Japan Beethovens 9. Symphonie auf.3 Bekanntlich hat diese Symphonie in Japan heute so etwas wie Kultstatus. Sie wurde sogar schon von bis zu 9 Orchestern und 9 Chören gleichzeitig aufgeführt, was der Qualität wahrscheinlich nicht dienlich war, auf jeden Fall aber die Begeisterung für dieses Werk in Japan unterstreicht. In Kurume ist man stolz darauf, dass dort diese Symphonie – genau genommen: der 2. und 3. Satz – erstmalig öffentlich aufgeführt wurde. Eine weitere Aufführung, diesmal einschliesslich des vierten Satzes, d.h. mit Chor, bei dem bei dem alle Frauenstimmen für Männer umgeschrieben wurden, fand am 5. Dezember im Lager selbst statt. Über das Konzert im Mädchengymnasium schrieb mein Vater, der selbst im Orchester Violine spielte, in seinen Tagebüchern, und in einem Brief an seine Eltern schrieb er zu diesem Tag: "Natürlich waren die Möglichkeiten unseres Orchesters und des Chors begrenzt, aber die Aufführung war dennoch ein großer Erfolg. Es ist doch ein ganz gutes Zeugnis für uns, wenn wir trotz allem noch singen können: Seid umschlungen, Millionen!"

Bild 18: Programmzettel zur Aufführung der "Neunten" am 5. Dezember 1919.

So haben die deutschen Kriegsgefangenen in Japan mit Beethovens Musik doch etwas von bleibendem Wert hinterlassen. Übrigens nicht nur Musik: Einer der Lagerinsassen, Paul Hirschberger, Fachmann für Gummiherstellung, war schon während seiner Gefangenenzeit in der lokalen Gummiindustrie beschäftigt und kehrte nach der Entlassung wieder nach Japan zurück. Unter seiner fachkundigen Mitwirkung entwickelte sich aus der damals noch bescheidenen lokalen Gummifabrik von Kurume das heutige Imperium der Firma Bridgestone, worauf man in Kurume sehr stolz ist.

Doch zurück zu den Privilegien, welche die Gefangenen genossen. Dazu gehörte auch das

Fotografieren

Einige der Gefangenen besaßen Fotokameras, und es war ihnen auch gestattet, Aufnahmen vom Leben im Lager und - mit Einschränkungen - auf den Ausflügen zu machen. Alle Gefangenen konnten Abzüge der Fotos erwerben und auch ohne Probleme nach Hause schicken. Mein Vater hat insgesamt 117 Fotos nach Hause geschickt, die ich alle der Stadt Kurume geschenkt habe.

Persönliches Eigentum

Ein letztes Beispiel für die großzügige Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen ist der Umstand, dass man ihnen bei der Gefangennahme private Dinge ließ, so z.B. auch Geld, und dass die Gefangenen ihre persönliche Habe aus Tsingtau nach Kurume schicken lassen konnten, nachdem in Tsingtau wieder geordnete Verhältnisse herrschten. Mein Vater erhielt fast seine gesamte Habe im Februar 1916 zurück, ja, er bekam sogar eine Entschädigung für sein von den Japanern als Kriegsmaterial beschlagnahmtes Motorrad. Diese wurde allerdings von dem (deutschen) Tsingtau-Unterstützungfond in Schanghai bezahlt. Es waren 75 US-Dollar = 100 Yen, d.h. mehr als er ursprünglich bei der Ausreise in Deutschland bezahlt hatte!

Entlassung und Heimkehr

Nach Abschluss des Friedensvertrages von Versailles begannen im Juni 1919 die Vorbereitungen für die Rückkehr der Gefangenen nach Deutschland. Im Lager herrschten große Freude und eine ungeheure Erwartungs- und Aufbruchsstimmung. Die Gefangenen konnten sich jetzt sogar frei in Kurume bewegen und Einkäufe machen. Mein Vater packte insgesamt fünf Holz- und Metallkisten und versicherte diese bei der Kobe Marine and Fire Insurance Company für den Seetransport. Die Versicherungssumme betrug 1.310,- Yen, eine, wie ich finde, unter den Umständen erstaunlich hohe Summe.

Am Nachmittag des 30. Dezember 1919 war Abmarsch aus Kurume. Auf dem gesamten Weg zum Bahnhof wurden die Soldaten von freundlichem Lächeln, Winken und "Sayonara"-Rufen der Bürger Kurumes begleitet. In Moji traten am frühen Morgen des 1. Januar noch einmal alle zum Appell an und wurden dann von Abgesandten der japanischen Regierung und der Schweizer Botschaft offiziell zu freien Menschen erklärt. Sie genossen noch einen freien Tag in Moji und gingen dann an Bord des gecharterten Schiffes "Himalaya Maru". Die lange Rückreise nach Deutschland endete Anfang März in Wilhelmhaven, wo alle, begleitet von den Klängen eines Ehren-Musikkorps, an Land gingen.

Ausblick

Die Geschichte der deutschen Soldaten, die sich einem weit überlegenen Feind nach hartem Kampf ergeben mussten und dann fünf Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft verbrachten, wo sie entdecken mussten, dass sie ritterlich und durchaus auch respektvoll, ja: freundschaftlich behandelt wurden, ist heute eine weniger bekannte Episode der Geschichte des Ersten Weltkriegs. Es ist aber eine bemerkenswerte Geschichte und ein schönes Beispiel dafür, dass gegenseitiger Respekt, Wertschätzung und Anständigkeit auch in Kriegszeiten möglich sind. Man möchte sich wünschen, dass dieses Beispiel, das Japan zur Ehre gereicht, noch viele Nachahmer finden mag. Gelegenheit dazu gäbe es ja genug.
 

Anmerkungen

1.  Die Stadt Kurume hat 2005 eine ausführliche Dokumentation (in japanischer Sprache) herausgegeben, worin viele der von Christian Kluge übergebenen Dokumente verzeichnet sind.

2.  Der Redakteur hat diese Zwischenüberschrift einem schönen Handbuchbeitrag von Gerhard Krebs entlehnt.

3.  Die Erstaufführung von Beethovens Neunter auf japanischem Boden fand am 1. Juni 1918 statt, und zwar innerhalb des Lagers Bando; die Kurumer Aufführung fand außerhalb des Lagers statt.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
Zuletzt geändert am .