Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Juni/Juli 1919 in Kurume

von Peter Knecht
 

Den folgenden Text hat Peter Knecht offenbar sehr zeitnah niedergeschrieben. Es ist ein Fragment, denn seine anderen die Gefangenschaft betreffenden Aufzeichnungen sind verloren gegangen. Das ist um so mehr zu bedauern, als Knecht sich sehr deutlich äußert, nicht nur was seine politischen Urteile betrifft, sondern auch weil er Probleme anspricht, die sonst Tabu sind, vor allem die politischen Auseinandersetzungen und die Homosexualität unter den Gefangenen!

Das handschriftliche Original wurde von Knechts Sohn Helmut in Maschinenschrift übertragen (= Seiten 63-70 der Abschrift), dem dafür herzlich gedankt sei! Schreibfehler (in Original oder Abschrift) wurden korrigiert, Anmerkungen vom Redakteur hinzugesetzt.
 

1. Juni 1919
Im Großen und Ganzen kann man von den letzten beiden Monaten sagen, daß das Verhältnis zwischen den Mannschaften, Unteroffizieren und Offizieren etwas besser geworden ist.1 Kleinere Fälle kommen immer wieder vor. So dieser anspielende Anschlag des Herrn Fechenacker2 (das dumme Luder hat aber scheinbar nur seinen Namen darunter gesetzt), »Eigenbrödelei«. Sie sollen ruhig ihre Sache für sich vertreten, wir vertreten auch die unsere.3 Dann der Kampf zwischen Freiherr von Hertling und Rettenmeier, wobei letzterer die Ohren voll bekam, was ihm auch jeder gönnte.4

8. Juni 1919
Heute ist Pfingstsonntag. Als wir das letzte Weihnachtsfest feierten, sagten wir: »An Pfingsten werden wir zu Hause sein.« Wir nahmen doch an, dass unsere »Sozis«, die uns doch ihre »herrliche Revolution« ins Land gebracht haben, uns auch den Frieden bringen würden. Das Wort »Frieden« haben sie bis jetzt immer in ihren großen Mäulern, aber verwirklichen können sie ihn nicht. Jetzt wird ihnen allmählich klar, was Wilson unter Frieden versteht.
Die Elsässer sind vorige Woche weggebracht worden, das heißt diejenigen, die sich verpflichtet haben, Franzosen zu werden. Vorläufig wissen sie nicht, wo sie hinkommen.5 Die hätten auch warten können, bis wir alle nach Hause fahren. Jedenfalls gibt es jetzt ein Gesprächsthema weniger, und das ist gut so. Es wird genug geklatscht im Lager.
In der vorigen Woche wurde hier an verschiedenen Stellen gestohlen. Die Diebe nahmen aus den Hosen die Geldbeutel und stahlen das Geld heraus. Im Ganzen wurden ungefähr 25 Yen geklaut, und das meistens den Ärmsten von uns. Also man ist hier nicht sicher vor seinen Mitmenschen oder besser gesagt »Mitgefangenen«. Wo wir doch alle in derselben armen Lage sind, muss es Menschen geben, die anderen etwas stehlen. »Pfui.«

13. Juni 1919
Immer wieder muss es Leute geben, die nicht mit der Ruhe und dem Frieden des Lagers einverstanden sind. In einem natürlich nicht zu verstehenden »Anschlag« fordert Herr Göbel, ein früherer Schiffsjunge, seine Kameraden auf, nach der Reichsbank zu gehen und sich dort ihr Geld zu holen. Er stellt eine Unmenge Punkte auf, um seine Ansicht zu begründen. Göbel ist Schiffsjunge und damit Kapitulant.6 Seine Unzufriedenheit, oder vielmehr seine »bolschewistischen Ideen«, kommen wahrscheinlich von seiner bis jetzt noch nicht eingetroffenen Beförderung. Ich betrachte heute jeden Angehörigen der Marine als »Spartakist«.7
Ein anderer entgegnete in einem »Anschlag« den Willen der Allgemeinheit, die sich noch lange nicht am Gängelband von den wenigen »Bolschewisten« im Lager führen ließe.
Ein dritter klebte die Seligpreisungen aus dem »Evangelium Mathäi« an. Herr Alinge, der der eigentliche Urheber des Gobelschen Anschlags sein soll, verbat sich eine derartige Anschuldigung. Ich glaube aber doch, er war es.

27. Juni 1919
Den ganzen Monat gingen die Meinungen hin und her. Wird der Friede gezeichnet oder wird er nicht gezeichnet? Ebert und Scheidemann scheinen nicht gewillt, ihn zu unterzeichnen. Gestern kam die Nachricht, dass sie ihn doch unterzeichnen würden, und zwar trotz der gemeinsten Bedingungen der Alliierten betreffs Auslieferung der Personen, die Schuld am Kriege haben sollen. Das haben unsere Heerführer nicht verdient. Unsere Offiziere, die 4 Jahre lang unsere Truppen zum Sieg geführt haben, sollen jetzt ausgeliefert werden. Die Schande wird immer größer, die sich unser Volk aufs Haupt ladet. So etwas ist auch nur möglich unter einer Regierung Ebert-Scheidemann-Erzberger. Der letztere scheint überhaupt eine neue Krankheit zu haben, seinen besudelten Namen unter alles zu setzen, was ihm vorgelegt wird. Dies wurde allein schon durch die Waffenstillstandsbedingungen bewiesen. Vieleicht kommt auch einmal die Abrechnung für den! Und hoffentlich recht bald!8
Bis jetzt weiß ich noch gar nicht, wie es mit unserer schönen Saarheimat bestellt ist.
Ein Minister, der unsere Offiziere für derartig vogelfrei erklärt, dem kommt es auch nicht darauf an, ob eine halbe Million Menschen zeitlebens geknechtet werden. Ihm geht ja nichts ab. Im Gegenteil, dieser schwarze Geselle wird sich in seiner schmutzigen Schlüpfrigkeit manchen fetten Brocken zu sichern wissen. So, wie es jetzt gekommen ist, hätten wir uns nie träumen lassen.
Die Japaner beschlagnahmen das deutsche Privateigentum. Wir sind ja besiegt, wir können ja gar nichts mehr machen. Uns gegenüber haben sie auch noch keine Besserung merken lassen. Diese dreckig grinsende Fresse des gelben Siegers kann einen beinahe zur Verzweiflung bringen.
Wenn es sich bewahrheiten sollte, dass gestern der Friede gezeichnet wurde, dann können wir doch noch Aussicht haben, bald hier heraus zu kommen.

3. Juli 1919
Der Friede ist gezeichnet, doch von Erleichterungen kann keine Rede sein. Die Posten gehen des Nachts nicht mehr durch das Lager, dafür müssen wir jetzt Posten stehen. Immerhin ist es eine Erleichterung, auch wenn man die 2 Stunden Postenstehen alle 60 Tage in Kauf nehmen muss. Die Stimmung im Lager ist jetzt weitaus besser, als sie vor einigen Monaten war. Dies erklärt sich aus zwei Gründen:
1. sollen die Leute ungefähr 90 Yen nachgezahlt bekommen, und zwar ist das Geld schon unterwegs. Es ist gewiss ein freudiges Ereignis für alle.
2. besteht die Aussicht, dass unsere Gefangenschaft bald dem Ende zugeht. Wenn auch der schmähliche Friede jeden einzelnen empört, liegt uns über 5 Jahre Abgeschlossenen doch die Freude der Heimkehr am nächsten. Ich befürchte, dass es schon Mitte Winter ist, wenn wir nach Hause kommen. Die Überfahrt wird ja doch nicht so glänzend sein wie die Ausreise.

13. Juli 1919
In letzter Zeit ereignete sich wenig, was von Bedeutung wäre. Scheinbar wollen uns die Japaner unsere Privatsachen zum größten Teil abnehmen.9 Zu diesem Zweck musste schon alles angegeben werden.
Betreffs unserer Heimfahrt gehen allerhand Gerüchte im Lager herum. So zum Beispiel, dass die Schweizer Gesandtschaft uns übernehmen sollte. Andererseits soll eine deutsche Kommission herauskommmen und uns übernehmen. Die Ansicht ist hier allgemein, dass wir Ende August hier weg können. Ich glaube aber nicht eher daran, bis wir auf dem Dampfer sind. Post kommt auch recht wenig aus der Heimat mit Ausnahme des »Jesusblättchens« der »Nassauischen Bibelgesellschaft«.
Im »Hannoverschen Courier« ist eine Rede abgedruckt, die eine »Frauenrechtlerin« vor dem »Deutschen Frauenbund« gehalten hat. Die deutschen Frauen und Mädchen sollten sich vor den heimkehrenden Kriegsgefangenen hüten, da sie zum größten Teil, wenn nicht sogar alle, sittlich verkommen wären. Vor allem wären es solche, die schon längere Jahre in Gefangenschaft wären. Das enge Aufeinanderliegen und das Nichthaben des weiblichen Geschlechts würden gezwungenermaßen die Liebe zu dem eigenen Geschlecht großziehen. Deswegen müssten die Kriegsgefangenen von allen Frauen und Mädchen mit großer Zurückhaltung angefasst werden, um sie so nach und nach durch Liebe und Pflege wieder der natürlichen Liebe zum anderen Geschlecht zugänglich zu machen. Es wäre aber allerdings nicht zweifellos, ob die Gefangenen nach dem ersten »Ansturm« wieder in ihr Gefangenenleiden zurückfallen würden.
Wo diese »Hexe« bloß ihre Weisheit her hat? Wäre die in ihrem Leben nur einen einzigen Tag in einem Gefangenenlager gewesen, so würde sie eines Besseren belehrt worden sein. Es ist wahr, dass ein Teil der Gefangenen auf Irrwegen wandelt, aber wie kann man den größten Teil damit beschuldigen? Dieser kleine betroffene Teil besteht zum größten Teil aus ganz jungen Schnösels, die noch nie Verkehr mit einer Frauensperson gehabt haben, die dann in Gefangenenlagern von alten Wüstlingen verführt wurden, und so die ihnen früher ganz unbekannte Sache einmal versuchten. Dass der größte Teil aber normal geblieben ist, wenigstens normal in dieser Beziehung – geistig haben wir wohl alle durch die Gefangenschaft einen Schlag weg –, steht außer Frage und [wir] werden es dieser berühmten Frauenrechtlerin nach unserer Ankunft beweisen. Es ist nicht genug, dass die Heimat uns während der ganzen Dauer der Gefangenschaft vergessen hat, nein, sie muss auch nach »Liebe« dürstenden Heimkehrern Schwierigkeiten machen.

20. Juli 1919
Vor drei Tagen war ich in Kurume zum Ledereinkaufen. Unterwegs sagte mir der Posten, dass wir am 20. August von hier wegkämen; wieweit es sich bewahrheiten wird, weiß ich nicht. Tatsache ist, dass schon mehr solcher Gerüchte im Lager herumschwirrten. Hoffentlich ist es endlich einmal wahr.
In Kurume wird immer und immer gebaut. Die Pferdebahn ist jetzt von der Elektrischen verdrängt worden. Die Bevölkerung denkt, dass wir vom 1. August an frei ausgehen dürfen. Hierauf lege ich wirklich keinen großen Wert, es ist sicher nicht zu unserem Vorteil. Erstens wäre kein Mädchen vor unseren Leuten sicher. Zweitens würde sich mancher eine »Heimatkrankheit« mit nach Hause nehmen. Es wäre auch kein Wunder nach 5-jähriger Abgeschlossenheit. Wenn sie uns nur mehr Spaziergänge machen lassen, ist uns schon gedient.
Man freut sich hier ungemein auf Post, aber es kommt keine. Nur die »Nassauische Bibelgemeinschaft« bringt ihre Blättchen durch. Mit unerbittlicher Genauigkeit erreichen diese Briefe ihren Bestimmungsort und Empfänger, dagegen gehen viele Privatbriefe verloren, die also einen wirklichen Wert für den Empfänger darstellen. Ich bin froh, dass ich wenigstens von diesen Wischen verschont blieb. Ich möchte nur wissen, wieviel Geld für diese Sachen während des Krieges verbraucht worden sind. Ich glaube, das sind Millionen.
Jetzt ist die Regenzeit vorbei und die heißen Tage haben eingesetzt. Am Tage quält uns die Sonne und Hitze, des Nachts lassen einem die Wanzen und Moskitos keine Ruhe. Ein Gutes ist dabei, und zwar können wir baden, so oft wir wollen, das heißt, man geht an die Pumpe und gießt sich einen Eimer Wasser über den Kopf. Nach jeder Stunde Sport trifft man sich an der Waschbank zur Kritik. Das ist ein munteres Treiben, und zur jetzigen Zeit findet man sie nie leer. In den ersten 2 Jahren war auch dies verboten. Es gibt hier überhaupt über 500 Verbote. Es wäre für uns jedenfalls eine Erleichterung, wenn die Japaner eine Verordnung über das Erlaubte herausgeben wollten.

[Hier brechen die Aufzeichnungen ab.]
 

Anmerkungen

1.  Hierzu hätten die verlorenen gegangenen Teile der Aufzeichnungen sicherlich noch mehr Informationen geliefert.

2.  Ein Gefangener dieses Namens ist nicht bekannt; evtl. ist Hannacker gemeint.

3.  Hier sind offenbar Revolutions-Befürworter und -gegner gemeint; Knecht gehörte, wie sich aus dem Weiteren ergibt, zu Letzteren.

4.  Hertling und Rettenmeier führten einen Boxkampf im Rahmen einer Sportveranstaltung durch.

5.  Sie kamen nach Narashino und reisten von dort aus im Juli heim.

6.  Die Identität steht nicht zweifelsfrei fest. Unter Kapitulant versteht man einen Wehrpflichtigen, der sich nach Absolvierung der Pflichtdienstzeit freiwillig weiterverpflichtet hat.

7.  Dieser Satz wird vermutlich Göbel in den Mund gelegt.

8.  Tatsächlich wurde der Zentrumspolitiker Erzberger bereits zwei Jahre später von zwei ehemaligen Marineoffizieren ermordet! Selbstverständlich darf dem Verfasser keine Aufforderung dazu unterstellt werden; er gibt hier jedoch eine in seinen Kreisen weit verbreitete Stimmung wieder.

9.  Diese Befürchtung erwies sich als gegenstandslos.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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