Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

StartseiteAugenzeugenberichte → Kropatscheck


Aus dem Leben der Familie Hans Kropatscheck

von Hans Kropatscheck (II)
 

Über das Leben des Tsingtaukämpfers und Japangefangenen Hans (I) hat sein Sohn Hans (II) einen Bericht verfasst. Den folgenden Auszug daraus hat der Enkel Hans (III) – geringfügig bearbeitet – zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt.
 

Übersicht:

  1. Vorkriegszeit
  2. Belagerung von Tsingtau, Gefangenschaft/Internierung
  3. Japanaufenthalt 1920-1922
  4. Heimreise 1922

 
1. Familiengeschichte, Vorkriegszeit

Um seines Glaubens willen mußte unser Ahnherr Johann Kropatscheck aus Podmok in der Tschechei am Peter-und-Pauls-Tag 1763 fliehen.1 Dies war für unsere Familie das bestimmende Ereignis.

Unter seinen Nachkommen war wohl mein Vater der erste Berufssoldat in unserer Familie der Kropatschecks. Schon mit 19 Jahren war er Leutnant im Rostocker Grenadierregiment Nr. 90. (Anfang der 1960er Jahre lernte ich in Göttingen eine uralte Dame kennen, die mit ihm in Rostock getanzt hatte und von ihm noch schwärmte). – Durch Großvater Hermann's Beziehungen als Mitglied des Reichtages (1879-1903 für die Zentrums-Partei) kam er zu einem Dolmetscherkurs nach Rußland, der für sein Leben bestimmend wurde. Im Boxer-Aufstand wurde er dem Ostasiatischen Expeditionskorps zugeteilt. Das war damals noch ein aufregendes Auslandskommando. Ausgestattet mit Giftamphiole und viel Geld machte er den interessanten Befreiungseinsatz für die »fremden« Botschaften in Peking 1900 mit. Trotz bitterer Ironie über die nationalistische Übertreibung »The germans to the front« behielt er seine nüchterne, vom Vater ererbte konservative Geschichtsauffassung ohne jede ideologische Verbrämung bei. Schwer war die langweilige Zeit der Wache auf Taku-Barre. Als große Befreiung empfand er die Zeit danach, in der er Adjutant bei dem damaligen Generalmajor Petzel war. 1904 verlobte er sich mit der ältesten Tochter seines Chefs, Margarete (geb. 1880), und heiratete 1905. Aus dieser Zeit stammen unsere schönsten chinesischen Erinnerungsstücke, z.B. die Sendai-Kommode von General Kamio, dem japanischen Kollegen, der nachher Tsingtau eroberte.

Da Vater das damals nötige Fideikommißvermögen von 10.000 Mark nicht hatte und keinen Betrug durch Kontoüberschreibung begehen wollte, gab er, um heiraten zu können,2 seinen geliebten Soldatenberuf auf und wurde, wie er immer verächtlich sagte, »Kaufmich«. Er wurde bei der HAPAG in Hamburg, dessen Generaldirektor Albert Ballin auch ein Freund des Vaters war, kurz ausgebildet. Dann wurde er dem HAPAG-Büro in Tsingtau, der damaligen deutschen Kolonie, zugeteilt. Dort fing dann auch das neue Familienleben an mit sehr vielen chinesischen Dienstboten, incl. Amah, und bald auch einem russischen Kinderfräulein. 1906 wurde Irmgard geboren und zwei Jahre später ich. Beim Generalgouvernement3 Tsingtau wurde ich mit dem Namen Hans Wilhelm standesamtlich eingetragen, bei der Taufe bekam ich aber noch den Namen Viktor, weil meine Mutter es gerne haben wollte, daß ich nach ihrem Vater hieße und sie sich nicht vorher durchsetzen konnte.

Bei der Sache des Blockadebrechers »Anhalt« ließ Vaters einsatzfreudige Rechtlichkeit ihn nicht schweigen. Im russisch-japanischen Krieg hatte dieser im Hafen von Tsingtau Zuflucht gesucht, ohne den vertraglich festgemachten Durchbruch nach Port Arthur zu versuchen. Der empörte Vater verlangte in einem Prozeß im Auftrag der russischen Regierung, um den er sich selbst bemüht hatte, die Auslieferung des Schiffes an die Russen. Diesem Prozeß verdankte er dann die Ernennung zum russischen Handelskonsul und dann zum Vizekonsul, den Stanislausorden zum Halse heraus und seine höchst angesehene Stellung in Tsingtau. Seinen guten russischen Beziehungen und seinem Einsatz verdankt der Handel Tsingtaus bzw. der Handelsweg China-Wladiwostock einen großen Aufschwung. Der Kuli-Export zur Sommerarbeit war der Grund unseres Vermögens, denn jede Unterschrift brachte 3,40 Dollar. Schade, daß unser Name so lang ist. Vaters stereotypes Wort war: »Unsere Zukunft ist Rußland.«

Wenn ich auch damals erst 6 Jahre alt war, so hielten doch die Erzählungen meiner Mutter diese Blütezeit unserer Familie sehr wach. Unser russisches Kindermädchen Sinaida Stovskaja redete mit uns nur russisch. Unsere Ama, der Boy mit seinen 5 Kulis und das schöne von Liteschun gemietete Haus in der Bismarckstraße in Tsingtau verhießen bleibenden und wachsenden Wohlstand. Irmgard und ich, Mutti in ihrer repräsentativen Eleganz und Vater mit seinem Schwergewicht von 230 Pfund lebten den echten Kolonialstil der damaligen Zeit. Er war trotz allem, was auch darüber gesagt werden mag, in so manchem dem Lebensstil von Entwicklungshelfern von heute sehr ähnlich. Wir Deutschen haben auch wirklich zur Entwicklung Schantungs viel beigetragen, nicht nur durch den Bau der Eisenbahn4, sondern auch durch die Entwicklung des Bergbaus, und auch das geologische Institut in Tsingtau war in Ostasien sehr bedeutend. Ein Stück dieses Institutes ist ja auch der große Malachit, den Vater hat mitgehen lassen, bevor die Japaner einrückten und dessen Teilchen unsere weiblichen Kropatschecks tragen. Vater hasste das großmäulige, nationalliberale Geschwätz eines deutschen Imperialismus: »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.« Er hatte in Tsingtau einen offenen Konflikt mit Paul Rohrbach, der dem Naumann-Kreis zugehörte.5

In Tsingtau wurden Irmgard am 23.10.1906 und ich am 12.3.2008 geboren. Am 29.6. wurde ich vom Garnisonspfarrer Winter in der Christuskirche getauft. Der große, natürlich (wegen Kaiser Wilhelm II.) neugotische Kirchen-Neubau steht mir noch deutlich vor Augen. Jede deutsche Familie mußte während der Kriegszeit jeden Sonntag mindestens zwei ihrer Glieder zur Kirche schicken, weil die Japaner die Beschlagnahmung bei mangelndem Besuch angedroht hatten. So bin ich von Kindheit an regelmäßigen Kirchenbesuch gewöhnt. Gottesdienstbesuch aus nationaler Verantwortung! Wieviel andere nicht-theologische Faktoren gibt es für den Kirchgang heute. Nach Pfarrer Winters Repatriierung übernahm das Gemeindepfarramt der berühmte Sinologe Richard Wilhelm, der sich geistig und kulturell rührend um die Angehörigen der Kriegsgefangenen kümmerte. Er las mit ihnen sogar den »I Ging«, das Buch der Wandlungen, der für die Chinesen etwa die gleiche Bedeutung hat wie für uns die Bibel und von einem der fünf chinesischen Klassiker geschrieben worden ist. Richard Wilhelm war von diesem Buch selbst tief beeindruckt. Als Missionar der damals sehr liberalen Ostasien-Mission hat er nie einen Chinesen getauft, weil er auf diesem Gebiet ganz anders dachte als der Missionar Voskamp von der Berliner Mission, dem man eine Fülle von »Reis-Christen« zuschrieb. Dem Missionar Voskamp gehörte die chinesische Weihnachtskrippe, nach deren Pappmaché-Figuren unsere geschnitzt wurden.

 
2. Belagerung von Tsingtau, Gefangenschaft/Internierung

Dann kam der I. Weltkrieg und änderte unser ganzes Leben. Vater meldete sich selbstverständlich sofort auf dem Generalkommando und fand als königlich preußischer (Reserve-)Leutnant zuerst in der Nachrichtenabteilung und dann im Landsturm Verwendung. Die Aussichten für uns waren natürlich hoffnungslos, als Japan den Krieg erklärte. Es hoffte durch die Eroberung der deutschen Kolonie Zugang nach China zu gewinnen. Zur Verteidigung waren auf unserer Seite insgesamt nur 4000 Mann vorhanden. Einige Matrosen von der Artillerie zur Bedienung der Forts – unsere herrlichsten Spielplätze nach ihrer Sprengung –; Reservisten von den deutschen Firmen Ostasiens, oft sehr dickbäuchig und bequem; vor allem aber das III. See-Bataillon. Kommandeur der Festung war Kapitän zur See Meyer-Waldeck. Seine Meldung an den Kaiser lautete: »Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten«. Das Äußerste trat schon nach zwei Monaten ein, dann waren die Munitionvorräte erschöpft – eine Nachschubmöglichkeit bestand nicht. Das Geschwader Graf Spee (SMS Gneisenau, Scharnhorst und andere) verließ uns und versuchte, um die Falkland-Inseln herum nach Deutschland zu entkommen.6 Trotz erheblichen Beschusses waren die deutsche Verluste gering – nur 153 Mann.7 Es war eine Ehrenpflicht der in Tsingtau gebliebenen Deutschen, die Gräber dieser Gefallenen zu pflegen. Ich entsinne mich, daß die Damen einen edlen Wettstreit daraus machten, wer auf dem Ehrenfriedhof die Gräber am schönsten herrichten konnte.

Die Japaner kamen mit 60.000 Mann und als »Aufseher« auch einige Engländer.8 Die Japaner sollen sich ganz nach der deutschen Belagerungsvorschrift vorgearbeitet haben, die sie früher bei den Deutschen gelernt hatten.9 Tsingtau war ja wie eine Mausefalle. Mutti arbeitete als Schwesternhelferin im Seemannsheim. Unser Haus in der Bismarckstraße wurde von fünf Granaten und einer Bombe getroffen. Allerdings waren es zumeist Blindgänger, so daß der größte Verlust Vaters Weinkeller war, der sich unter dem Turm befand. Als die Granate einschlug, waren die Eltern gerade im Keller und waren vom Klirren der Flaschen und einer dichten Staubwolke umgeben. Glücklicherweise geschah nicht mehr. Da man annehmen mußte, daß alles unter dem Bombardement zerstört werden würde und alle Deutschen heldenhaft für Kaiser und Reich zu sterben hatten, schickten unsere Eltern Irmgard und mich unter dem Schutz von Sina nach Tsinanfu zu Betzens. Er war dort deutscher Generalkonsul. In Tsinanfu besuchten wir auch den Ehrentempel von Meister Kung. Nur seufzend überwand ich die Endlosigkeit der 1000 Stufen, die den Berg hinauf führten. Viel imponierender war für mich in Peking der löschblattfressende Hirsch im Schulgarten.

Vor den anrückenden Japanern waren Betzens in die deutsche Botschaft nach Norden ausgewichen, und ich kam dort mit Irmgard in die deutsche Schule. Sina galt überall, auch noch auf der Heimreise, als unsere Mutter. Wir Kinder trugen lange Pelzmäntel, um kleiner zu erscheinen, denn unsere »Mutter« war 20 Jahre alt. Nachdem Tsingtau gefallen war, wurde wir drei wieder zurückgerufen und erreichten nach einer Reise von drei Tagen unser Elternhaus. Das Haus in der Bismarckstraße war nicht mehr bewohnbar, so zogen wir zu Günthers, zum Zivilgouverneur von Tsingtau. Vater versuchte mit dem diplomatischen Personal nach Deutschland zu kommen. Um den Anschein seiner Dazugehörigkeit zu erwecken, verwaltete er intensiv einen beschlagnahmten russischen Zahnarztstuhl. Aber deutsche Korrektheit wurde ihm zum Verhängnis. Die Akten des Generalgouverneurs waren nicht vernichtet worden, sondern in verlöteten Zinkkisten genau in die Mitte der Anlagen vor dem Verwaltungsgebäude eingegraben worden. Die eben so korrekten Japaner pflanzten am Geburtstag des Tenno genau an diese Stelle denn auch einen Fahnenmast und stießen auf die Akten. Dort fanden sich dann auch die Angaben über Vaters Kriegstätigkeit, und er wurde sofort in Haft genommen. Alle anderen Deutschen waren schon in die Kriegsgefangenschaft nach Japan abtransportiert. Er saß noch in Einzelhaft in Tsingtau. Dort durften wir ihn besuchen. Bei der Kinderfreundlichkeit der Japaner war ich der Hauptbriefträger. Die Nachrichten waren immer in dem Deckel einer Thermosflasche verborgen.

Alle Versuche, Vater frei zu bekommen, selbst ein Besuch beim General Kamio, dem Schenker der Sendai-Kommode und guten Bekannten von Großvater Petzel aus der Ostasiatischen Brigadezeit, halfen nichts. Vater wurde erst nach Osaka und, als das Lager abbrannte, nach Ninoshima bei Hiroshima, eine kleine Insel der japanischen Inlandsee, gebracht. Dort lernte er für eine spätere Verwendung kräftig Ostsprachen. Er versuchte dreimal zu entkommen. Alle Versuche schlugen fehl. Beim dritten Versuch hatte er sich geisteskrank gestellt, um wenigstens aufs Festland gebracht zu werden in der Hoffnung, dort Beziehungen zu seinen russischen Freunden aufnehmen zu können. Aber das kostete ihn die eigenen Nerven, und von da ab war Vater geistig nicht mehr in Ordnung. (Erst 1927 wurde das ganz deutlich. Bis dahin litt unsere ganze Familie unter Vaters Absonderlichkeit.) Ich entsinne mich noch genau, wie Mutti auf Anweisung von Oberstabsarzt Weischer, der das deutsche Lazarett während der ganzen Kriegszeit in Tsingtau leitete, kleine Porzellandöschen mit Yue aus reinem Rindfleisch mit Spargelköpfen zur Stärkung von Vaters Gesundheit machte. Wir Kinder bekamen immer nur die Spargelstiele. Vater seinerseits hielt nun immer Mutti für etwas verrückt. Die Kriegsgefangenschaft dauerte von Januar 1915 bis Februar 1920. Vater kam dann nicht mit dem üblichen Heimtransport zurück, sondern blieb in Japan, um wenigstens einen Teil seines beschlagnahmten Eigentums wieder herauszubekommen. Versprochen waren ihm 10 000 Yen von seinem Vermögen, das im wesentlichen aus dem Kuliexport im Sommer nach Wladiwostock stammte.

Bei Günthers wohnten wir bis 1919. Als die Zivilisten abtransportiert wurden, zogen wir in ein Haus bei einem katholischen Kloster, an das ich mich nicht so genau erinnere. Die ganze letzte Zeit hatten wir nur noch zwei Chinesen: einen Boy und vor allem den Kuli Wang, den wir Kinder sehr liebten. Er war bei weitem der netteste aller unserer Dienstboten. Er spielte herrlich auf der Okarina und baute uns mit Kerzenhitze angetriebene Karussells aus Bambusstangen und Seidenpapier. Dargestellt waren chinesische mythische Figuren. Wang hatte nur den einen Nachteil, daß er im Nebenberuf Räuber war. Gegen die japanische Polizei hielten wir natürlich zu ihm, bis er nach einem angeblichen Mord plötzlich verschwand zu unserem großen Entsetzen. Von da ab wurden auch unsere Fenster vergittert wie bei allen anderen Europäern. Kein Wang schützte uns mehr gegen seine Räubergenossen. Mutti hatte ihren lieben Browning immer im Nachttischfach. Wir schliefen alle drei in einem Doppelbett, Ich entsinne mich, daß einmal beim Durchladen ein Schuß losging, gerade über mich weg in die Wand. Muttis militärische Fähigkeiten waren eben nicht so bedeutend wie ihr Mut. Sie knipste immer erst das Licht an, bevor sie auf Räuberjagd ging. Nachdem Wang weg war, kamen diese öfters, konnten aber im Dunkel schnell verschwinden.

Wir hatten eine eigene deutsche Schule unter Richard Wilhelms Leitung. Seine Frau (geb. Blumhardt) und seine Schwägerin Frl. Blumhardt arbeiteten mit ihm. Dazu meldeten sich dann als Lehrerinnen eine Anzahl deutscher Frauen mit und ohne Vorbildung. Immerhin erreichte die Schule das Niveau etwa eines fremdsprachlichen Realgymnasiums. Ich brachte es bis U III. Irmgard bis O III. Sie glänzte durch ihren Fleiß und ihre Genauigkeit. Ich kam immer gerade so mit. Ich mußte wegen vieler Fehler oft nachsitzen, vor allem wegen meiner Schrift. Es war eine grausame Tortur, im Angesicht einer anderen Klasse vorn am Lehrertisch sitzen zu müssen, und dabei gab es gelegentlich auch noch Ohrfeigen. Wenn ich damals schon gewußt hätte, welche Bedeutung in der Geistesgeschichte meine Lehrer haben würden – nun, wahrscheinlich hätte mir das auch nicht mehr imponiert. Aber nicht nur meine Lehrer, sondern auch unsere kluge, vor allem elegante junge Mutti (35 J.) und auch das Kindermädchen von Günthers – Grete Tschiaden – konnten wohl mal streng sein, z.B. mit dem Muff ins Gesicht schlagen beim Spazierengehen – aber ob es viel genützt hat?

Die Japaner führten ein strenges Regiment vor allem auf hygienischem Gebiet. Sie sind ja weltweit bekannt mit ihrem Sauberkeitsfanatismus, z.B. viel und heiß baden. Ich erinnere mich an eine Zeit von Lungenpest in dem Chinesenviertel Tapatau, das dann streng abgesperrt wurde mit Stacheldraht und vielen Desinfektionen in den Dienstgebäuden und Privatwohnungen. Einmal im Jahr wurden alle Häuser auf Reinlichkeit inspiziert und das Ergebnis durch farbige Papierstreifen an den Türen allen Besuchern oder Vorbeigehenden bekannt gemacht. Ich denke noch an die Schande, daß auch ein deutsches Haus einen roten Zettel (d.h. schlecht und schmutzig) bekam. Wir machten viele Ausfahrten, mit einer Pferdekutsche z.B., in den Lauschan mit seinen Tempeln und Klöstern und Bergkristallen. Unser Forstmeister Malte Haß hatte mit großer Mühe auf den kahlen Bergen versucht, etwas Humusschicht und Baumbepflanzung zu erreichen. Wir Kinder freuten uns an den großen chinesischen Neujahrsfesten mit ihren Drachenumzügen und den Kreckern. Das Pulver war von den Chinesen erfunden zur Abwehr der bösen Geister. Die chinesische Musik ist schrecklich kreischend – für unsere Ohren. Zum Leidwesen von uns Kindern durften wir keine Bobodubos esse, Das war ein besonderes Hefegebäck. Aber die chinesischen Wattekörbe, in denen sie lagen, und auch die Wassermelonen waren von soviel Fliegen besät, daß für uns die Gefahr von Ruhr o. ä. Krankheiten bestand. Alles mußte abgekocht werden – vor allen Dingen das Wasser und jegliches Obst. Mutti lehrte uns in diesen 5 Jahren in Tsingtau den 126. Psalm beten. Es war ja unsere ganze Hoffnung, daß Vater bald wiederkäme. Wie bedeutsam dieser Psalm für mein späteres Christsein werden sollte – befreit zu werden aus der irdischen Gefangenschaft und heimgehen zu dürfen zum Vater unseres Herrn Jesus Christus – lernte ich erst später verstehen. Aber so wurde uns damals aus ganz andern Motiven heraus doch etwas von der Bibel nahe gebracht. Allerdings denke ich mit Schrecken an einen Psalm wie z.B. den 137 Vers 9. Aus der damaligen Situation den »Japanern« gegenüber vielleicht erklärbar.

 
3. Japanaufenthalt 1920-1922

Im Februar 1920 wurde Vater nach Yokohama entlassen und rief uns zu sich. Wir drei mit Ille, unserem Dackel, fuhren mit der »Taihoku Maru« von Osaka Shosen Kaisha nach Kobe und von dort mit der Bahn. Auf dem Bahnsteig empfing uns unser Vater, ein fremder Mann. Hager, sehr nervös und spitzbärtig. Auf Heimaturlaub abwesende Deutsche hatten uns ihr schönes Haus auf dem Bluff Nr. 126 (Hakonitschorokuban) zur Verfügung gestellt. Im Sommer konnten wir ihr ganz japanisches Landhaus am Meer – Sanjoyana bei Tomioka, etwa 10 km von der Stadt entfernt – bewohnen. Vater fand Arbeit bei Illies & Co, zunächst als Godown- (Lagerschuppen-) Aufräumer, eine Arbeit, die eigentlich einem Europäer nicht zumutbar war. Er hatte aber die Aussicht, HAPAG-Vertreter in Kobe zu werden. Das erste deutsche Schiff, die M.S. Havelland, sollte im Winter 1920/21 eintreffen. Um die Vorbereitungen zu treffen, zogen wir nach Uchide bei Kobe. Ich bekam Lateinunterricht bei einem alten deutschen Studienprofessor, dessen höchst wackelige Bücherregale, auf japanischen Tatamis, mir großen Eindruck machten. Meine Grundlagen in Latein waren ebenso wackelig und blieben es bis zum Abitur. Vater bekam dann leider die HAPAG-Stellung doch nicht, wohl durch mir nicht bekannte Intrigen. Wir zogen dann zurück nach Yokohama in dem Vorort Negishi und dort in eine europäisiertes japanisches Haus auf dem Bluff. Sehr leicht, aus Holz gebaut und darum auch sehr durch Feuer gefährdet. Bei einem Küchenbrand erlebte ich die erste große Angst vor Kaji-kaji, d.h. Feuer.

Am 3.9.22 war dann unsere Zeit in Japan zu Ende. Ob Vater von der japanischen Regierung sein Geld bekommen hat, weiß ich nicht. Aber er wollte, daß wir Kinder die deutsche Schule in der Heimat besuchten. In Yokohama ging Irmgard in die Schule des französischen Klosters Sacre Coer und ich in das amerikanische St. Joseph's College unter Père Gashey. Ich kam dort bis zur ersten commercial class und lernte vor allem das überall klebende shewing gum und Baseball kennen. Ich war begeisterter Pitcher, da war für mich natürlich Babe Ruth der Stern, auf den ich schaute. Er wurde erst 1974 durch Hank Aron überwunden.

Von einem kirchlichen Leben in unserer Familie kann ich nichts berichten. Es war wohl auch kaum eins da. Meine Freunde waren die Nachbarsöhne in Nagishi und der Sohn des deutschen Botschafters Solf in Tokio, den ich in Adelebsen wieder traf. Wir gründeten einen Jungpreussenbund, verkauften die leeren Flaschen unserer Väter und machten dem Preußenbund in Berlin durch Geldüberweisungen viel Freude. Das war auch nicht schwer, weil wir in der deutschen Inflation die Yen gut eintauschen konnten.

Von Japan selbst erlebten wir nicht viel – mangels Geld. Wir waren sehr gut Freund mit unserem odjisan (alter Herr), der uns als einziger Dienstbote überall hin begleitete. Wir erlebten durobos (Räuber) und wieder Muttis Tapferkeit. Während Vater faul im Bett blieb, lief sie hell beleuchtet mit der Pistole in der Hand ums Haus. Eine umso gefährlichere Sache, weil auf Einbruch in Japan die Todesstrafe stand. Wir erlebten auch die vielen, fast alltäglichen Erdbeben, an die wir uns schließlich ganz gewöhnten. Wenn auch nicht viel, so haben wir doch einiges von Japan gesehen. Wir waren in Kamakura, der alten Residenzstadt Japans mit dem großen Buddha aus Bronze. In Hakone, einem wunderschönen Ferienort mit einem Kratersee, lernten wir die Schwefelquellen kennen und den Fuji-san mit seinem eindrucksvollen Profil. Der Fleiß und die Sauberkeit der Japaner machten einen starken Eindruck auf uns. Es gab aber leider auch die Exzesse der von Sake vollgelaufenen Menschen am Kirschblütenfest. Für uns alle war Japan eine schwere Zeit, weil Vater keine angesehene Stellung hatte wie in Tsingtau und schwer krank war, ohne daß wir es richtig wußten.

 
4. Die Heimreise 1922

Am 3.9.1922 fuhr unsere Atsuta Maru von der Nippon Shosen Kaisha von Yokohama ab. Wir hatten, was damals für Europäer noch nicht üblich war, nur eine Kabine 2. Klasse auf dem Heck. Aber es war doch unsere Kabine, weil wir ja zu viert waren. Dadurch sparten wir erheblich Devisen, die mit zum Hauskauf gebraucht wurden (Inflationszeit). Der nächste Hafen war Kobe, das für uns voller Erinnerungen war. Dann durch die schöne japanische Inlandsee über Shanghai nach Hongkong. Die Mündung des Jangtse war weit im gelben Meer schon zu erkennen. Aber wir durften in China nicht an Land. Dafür aber in der britischen Kronkolonie. Es war schön, mit der Bergbahn auf den Peak zu fahren und von dort auf den Hafen mit seinen Dschunken und Schiffen hinunterzusehen. Damals war es noch nicht so übervölkert wie heute, sondern voll britischer Behäbigkeit und Ordnung. Sehr eindrucksvoll wirkten die strammen Sikh-Polizisten des Britischen Empires. In Singapore gab es wieder keine Landeerlaubnis für Deutsche, dafür aber quasi als Ersatz schon vorher einen kräftigen Taifun. Wir wurden alle außer Vater seekrank. In Ceylons Hafenstadt Colombo konnten wir dann einen schönen Ausflug nach Mount Lavinia machen – Palmen, Affen und Kokosnüsse! Dann ging es weiter, mit einem Blick auf das weltgeschichtlich bedeutsame Kap Guardafui,10 durch das glühend heiße Rote Meer und den Suezkanal, Straße von Messina, am Stromboli vorbei nach Marseille. Von dort fuhren wir sofort weiter nach Genf, wo ich im 4. Stock des Hotels schreckliche Angst hatte: wie kommt man bei einem Erdbeben heraus!!
 
 

Anmerkungen

1. In Böhmen standen bis ins 18. Jahrhundert hinein »Galeeren- und Todesstrafen für das Bekenntnis zum Protestantismus« (→ Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1980, Band 6, S. 765). Noch Kaiserin Maria Theresia (1740-1780) verfolgte die Andersgläubigen per Dekret als »Ketzer« und verwies sie des Landes. Erst unter Kaiser Joseph II. hörten die ›religiösen Säuberungen‹ im Habsburgerreich auf.

2. Aktive preußische Offiziere bedurften »zu ihrer Verheirathung der Erlaubniß Seiner Majestät des Kaisers und Königs« (Verordnung über das Heirathen der Militärpersonen ...« vom 25.05.1902). Voraussetzung für die Erteilung der Erlaubnis war der Nachweis eines zusätzlichen Mindesteinkommens aus dem Vermögen des Offiziers oder aus dem seiner Braut. Im Falle Kropatschecks konnte dieser Nachweis offenbar nicht erbracht werden.

3. Die falsche Bezeichnung »Generalgouverneur/Generalgouvernement« ist vermutlich ein Produkt der Presse oder der populären Literatur.

4. Seitens der Chinesen wurde der Entwicklungsbeitrag durch den Eisenbahnbau ambivalent beurteilt, z.B. wegen der nachteiligen Folgen für die Bewässerungssysteme auf der Halbinsel Schantung.

5. Paul Rohrbach (1869-1956) repräsentierte »jenen aggressiven deutschen Kultusimperialismus, der sich mit seiner Tief und Gründlichkeit von der angeblichen Oberflächlichkeit und dem Materialismus der anderen westlichen Mächte in China unterscheiden wollte«(Graichen/Gründer, S. 239).

6. Bis auf Emden hatte das Geschwader den Hafen schon Ende Juni verlassen.

7. Die Herkunft dieser Zahl ist unklar; siehe die Klarstellung.

8. Die »Aufseher«-Rolle der Briten wurde von den Zeitgenossen häufig erwähnt, widerspricht aber den Tatsachen.

9. Auch der Verweis auf das allzu schematische Vorgehen der Japaner findet sich häufig. Richtig ist, dass der japanische Oberkommandierende General Kamio keine unnötigen Verluste riskieren wollte; im Gegensatz zu Belagerung von Port Arthur (1904) bestand kein Zeitdruck.

10. Bei Kap Guardafui, dem »Horn von Afrika«, sind viele Schiffe gesunken.
 

©  Hans Kropatscheck, für diese Fassung auch Hans-Joachim Schmidt
Zuletzt geändert am .