Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Vorkriegszeit in China

von Ludwig Wieting
 

Der Kaufmann Ludwig Wieting hat »Lebenserinnerungen« hinterlassen, deren erster Teil von seiner Bremer Lehrzeit und von seinem Aufenthalt in China (1911-1914) handelt. Der Text hat keinen direkten Zusammenhang mit Tsingtau, enthält aber manche bemerkenswerten Details und Einsichten über das Leben im China der Vorkriegszeit; man beachte auch den sehr lebendigen, selbstironischen Stil des Schreibers.

Die hier benutzte, von Frau Ingemarie von Hallen erstellte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von der Familie zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt und Absätze zusammengefasst. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in den Fußnoten.

Übersicht:

  1. Lehrzeit in Bremen
  2. Ausreise nach China
  3. Leben Tientsin
  4. Geschäftsleben

 

[1. Lehrzeit in Bremen]

Meine kaufmännische Ausbildung begann im Herbst 1907 in der Firma W. B. Michaelsen & Co., einer guten alten Importfirma, die aus China (Foochow) Tees einführte und Niederlassungen auf Cuba hatte.
Wir saßen damals nicht in bequemen Sesseln vor den Arbeitstischen, sondern mussten vor hohen Mahagonypulten stehen. Als gelegentliche Sitzgelegenheit (man sorgte schon dafür, dass wir dazu wenig Gelegenheit hatten), dienten uns ledergepolsterte Drehsessel, so hoch, dass wir da heraufklettern mussten.
Schreibmaschinen gab es bei uns noch nicht, und die Kopien der handgeschriebenen Briefe wurden mit Hilfe einer Kopierpresse gemacht. Weibliche Angestellte hatten wir natürlich noch nicht, dafür gab es die sogenannten Handlungscommis, die oft seit Ewigkeiten in der gleichen Firma ihren Dienst machten. Die Bezahlung dieser Angestellten wird nicht sehr hoch gewesen sein, weil man in Bremen auf dem Standpunkt stand, dass es doch schließlich eine große Ehre war, bei einer guten alten Firma arbeiten zu können. Die Angestelltenversicherung war damals auch erst im Kommen.1
Ein Telefon hatten wir aber schon, und Fernschreiber waren noch lange nicht erfunden. Dafür wurde viel per Draht telegraphiert, und zwar in Codeworten, die von den Herren Lehrlingen – wir waren sechs »grüne« Handlungsbeflissene – aus Telegraphencodes, wie z.B. dem Bentley-, ABC- oder dem Mossecode, zusammengestellt wurden. Zuerst gab es manchen Mist durch unsere Unerfahrenheit, auch kamen viele Telegramme verstümmelt bei uns an, aber mit der Zeit beherrschten wir unser Gebiet vollkommen, und keiner konnte uns noch etwas an Genauigkeit vormachen.

Fünf Chefs hatte diese Firma, die heute noch existiert, und alle lebten in besten finanziellen Verhältnissen, besaßen große Häuser, Landgüter, ja, einer hatte sogar ein Automobil, einen riesigen Adlerwagen mit Chauffeur. Das Reifenlager – alle Augenblicke ging damals einem Reifen die Luft aus – wurde mir anvertraut.
Jedes halbe Jahr kam ein neuer Lehrling, und immer nur aus bester Bremer Familie. Dann rückte man auf und tribulierte ihn nach bestem Können, und manchmal befreundete man sich sogar mit einem, was einem echten Bremer aber nicht leicht fällt, und wenn er es noch so gut meint.
Was haben wir nun da gelernt? Etwas Buchhaltung einschließlich der Führung der Portokasse, die jeden Abend genau stimmen musste, Codifizieren und Übersetzen von Telegrammen, Korrespondenz in Deutsch, Englisch und Spanisch, alles handschriftlich mit Kopiertinte und Ablage der Schriftstücke. Als Wichtigstes wurde aber von einem erwartet, dass man überall die Augen offen hielt, um die Zusammenhänge zu erfassen, nach dem Prinzip »Schließlich bleibt vielleicht doch etwas hängen.«
Botengänge blieben uns erspart. Dafür hatten wir den Hausmeister Unger, der oben im Kontorhaus mit seiner Familie wohnte. Unger war früher Diener in einem Haus von guten Freunden meiner Eltern gewesen und kannte mich daher von klein auf. Er war immer sehr nett zu mir, und wenn ich mal zu müde war, verduftete ich mich in seine Wohnung und machte dort ein Nickerchen auf der Chaiselongue in der guten Stube.

Die Arbeitszeit für uns war reichlich lang, und Gewerkschaftsbonzen von heute hätten sie mörderisch genannt. Wir arbeiteten von 8 bis 13 Uhr und von 15 bis oft 23 Uhr nachts. Es wurde einem wirklich nichts geschenkt, und man arbeitete so lange, bis alles geschafft war, und das waren nicht nur wir Lehrlinge, sondern auch die anderen Angestellten und die Prokuristen.
Was haben wir viele Abschriften handschriftlich mit Kopiertinte machen müssen, wenn die fertigen Briefe von höherer Stelle, und das war der Kommis (Angestellte), der uns beaufsichtigte, für unleserlich erklärt wurden und neu geschrieben werden mussten – und dazu noch meistens in englischer oder spanischer Sprache! Wehe, wenn ein Wort verkehrt geschrieben war! So wurden uns hoffnungsvollen Handlungsbeflissenen fremde Sprachen direkt eingeimpft, und das musste ja sitzen bleiben.
Ganz selten ließ der Prokurist, wenn es später und später wurde, einige Butterbrote aus der nächsten Kneipe holen, und er war damit sehr vorsichtig, denn er wollte am nächsten Morgen keinen Vorwurf seiner Chefs einstecken, dass er ihr sauer verdientes Geld mutwillig verprassen ließ.
Um Warenkenntnisse zu erwerben, mussten wir auch regelmäßig im Teeprobenzimmer arbeiten, und wenn neue Teemuster aus China, Indien, Ceylon oder Holländisch-Indien, Amsterdam oder London gekommen waren, sortierten wir sie ein und mussten ganz genau wissen, wo sie steckten, wenn sie zum Probieren angefordert wurden. Dann wurden die Tees getestet, und dazu mussten sie von uns aufgegossen werden, und so habe ich an manchen Vormittagen Hunderte von Tassen Tee zubereiten müssen, und wenn die Schlacht vorüber war, dann war für mich eine Tasse dicken Javatees die schönste Erholung.

Wir mussten auch in den Hafen in unsere Lagerhäuser und dort Proben holen von Havannatabak, Cuba-Wachs und Honig und schrecklich langweilige Listen über Cedernholzstämme ausrechnen. Dieses Cedernholz wurde, wenn wir es weiterverkauft hatten, zur Herstellung von Cigarrenkistchen verarbeitet, und wir bekamen von diesem Holz ganze Schiffsladungen aus Cuba von Geschäftsfreunden, die in Santiago de Cuba saßen.
Unter Schiffsladungen verstehe ich hier ganze Segelschiffe, die drüben gechartert und beladen wurden. Meist waren es kleinere, norwegische Segler, die auf wilder Fahrt waren und sich in Cuba um Rückladung nach Europa bemühten. Die meist niedrigen Charterkosten werden die manchmal sehr lange Reise sicher ausgeglichen haben, und da war auch immer noch genug Laderaum als Beipack für unsere anderen Güter wie z.B. Honig, Wachs usw.
In Foochow (Südchina) hatten wir sehr gute Geschäftsfreunde, die Firma Siemssen & Krohn, die uns gewaltige Ladungen von Souchongtee schickten. Immer war einer unserer Herren ein halbes Jahr während der Teesaison in Foochow, um dort die für uns passenden Tees auszuwählen, und von der Warenkenntnis diese Fachmanns hing sehr viel ab. Der arme Kerl musste in seiner Eigenschaft als „tea-taster" während der ganzen Saison seine Zunge schonen, d.h. er durfte während der ganzen Zeit weder rauchen noch trinken noch scharf gewürzte Speisen essen.
Andere Tees kauften wir auf Ausschreibungen in London oder Amsterdam, wohin immer einige unserer Herren zu den Auktionen reisten.
Im Herbst 1910 war meine dreijährige Lehrzeit beendet. Als Entgelt für meine Mitarbeit bekam ich im ersten Jahr 100 Reichsmark, im zweiten 150 Reichsmark und zum Abschluss 300 Reichsmark, wohlgemerkt: für das ganze Jahr! Dieses Geld wurde uns immer am Heiligen Abend, spät nachmittags, feierlich von einem unserer Chefs überreicht, und wir waren sehr zufrieden damit.
 

[2. Ausreise nach China]

Nach Beendigung meiner Lehre musste ich Stellung suchen. Ich wollte ja so schnell wie möglich von zu Hause fort und gleich ins Ausland. Zu Haus saß ich allerdings sicherer, aber ungemütlich, und ich konnte mir Zeit bei der Stellungssuche lassen. Aber mein Vater rührte sich nicht, mir dabei zu helfen, weil er der Ansicht war, dass ich mir selbst etwas suchen müsste, obwohl ein Wort von ihm an der Börse genügt hätte, mich irgendwo im Ausland unterzubringen.
Also ging ich selbst auf die Suche. So leicht, wie ich es mir gedacht hatte, ging es nun aber doch nicht, und es dauerte immerhin ein halbes Jahr, bis ich auf einen Schlag drei Stellenangebote für das Ausland in der Hand hatte. Das war nach Matzatlan (Mexiko), Venezuela (Barquisimeto) und Tientsin (China). Da sich die Welt plötzlich um mich riss, hatte ich die Qual der Wahl, wo ich mich bewerben sollte. Ich entschied mich für China, wo für Tientsin von einer Hamburger Firma ein junger Mann gesucht wurde.
Ich schrieb dann an die Leute und wurde nach Hamburg gebeten, kurz auf Ausbildung und Benimm geprüft und dann gefragt, ob ich diese Stellung annehmen wolle, vorbehaltlich der Genehmigung meines Vaters, weil ich ja erst 19 Jahre alt war. Außerdem musste ich vorher noch meine Rückstellung vom Militärdienst klar machen, damit ich überhaupt ausreisen konnte. Alles dies ging glatt über die Bühne, und der Kontrakt wurde unterzeichnet.

Eine Reise ins Ausland, in diesem Fall nach China, war für uns junge Kaufleute damals etwas Selbstverständliches, und wenn man in jungen Jahren nicht ins Ausland gekommen war, dann erregte das Misstrauen. Jedenfalls war ein solcher Knabe nach unserer damaligen Einstellung keiner besonderen Beachtung mehr wert.
Mein Vertrag für China galt für die Dauer von drei Jahren. Später, nach Ablauf dieses ersten Kontraktes, sollte drüben der zweite Vertrag gemacht werden, nach dessen Ablauf dann noch ein halbes Jahr Europaurlaub mit vollem Gehalt gewährt wurde.
Da zu der Zeit meiner Engagierung wieder eine Lungenpestepidemie in der Mandschurei ausgebrochen war, hielt man es für besser, mich nicht mit der Sibirischen Eisenbahn nach Tientsin zu schicken, sondern es wurde bestimmt, dass ich mit dem Postdampfer über Suez ausreisen sollte. Mir persönlich konnte das nur recht sein, weil ich dadurch viel länger unterwegs sein würde. Schließlich wollte ich doch in die Fremde, um dort etwas zu erleben.

Der Abschied vom Elternhaus fiel mir nicht schwer, als ich im Frühjahr 1911 mit dem Postdampfer Kleist des Norddeutschen Lloyd in der zweiten Klasse (Innenkabine) ausreiste. Ich war ja noch kein großer Boss, dem die erste Klasse zustand.
Ausreisekosten gingen natürlich zu Lasten meiner Firma, aber Spesen gab es nicht für Getränke, Trinkgelder an Bord, Landgänge in den verschiedenen Anlaufhäfen usw. Ein guter hanseatischer Kaufmann spart eben, wo er kann, und so auch in diesem Fall meine Hamburger Firma. Da zeigte sich mein alter Herr doch großzügiger, denn er gab mir 10 englische Goldpfunde als Lehrgeld mit auf die Reise. Ich habe dies Geld als Notgroschen zum großen Teil nach China hinüber gerettet, weil ich es einfach nicht benötigte. Ich fand sehr schnell väterliche Freunde an Bord, denen es Spaß machte, hier und da mal einen auszugeben, und mehr brauchte ich damals wirklich auch nicht.
Ich reiste dann von Bremen über die Schweiz nach Italien, um in Genua mein Schiff zu treffen. Einen Reisepass hatte ich selbstverständlich auch, aber vorgezeigt habe ich ihn nirgends. Das ging damals gemütlicher bei den Behörden zu. Wer hätte auch erwartet, dass wir wenige Jahre später schon im ersten Weltkrieg stecken und wir Deutschen seitdem in der ganzen Welt als Hunnen bezeichnet würden. Man kannte damals kaum einen Unterschied unter den einzelnen Nationen, und wir waren an Bord wie eine große Familie.
Ich hatte als unbedarfter Jüngling wenig Verständnis für gewisse Zerstreuungen an Bord und in den Häfen, die unser Dampfer anlief, und solche Zeitvertreibe gab es genug, wie z.B. Glücksspiele, die von berufsmäßigen Gaunern, die in den verschiedenen Häfen ein- und ausstiegen, arrangiert wurden. Wenn so ein Heini an Bord erschien, warnte der Obersteward, der seine Leute aus Erfahrung kannte, die Passagiere, sich nicht von ihm zu einem Spielchen verlocken zu lassen.
Genauso war es mit den unternehmenden Damen des horizontalen Gewerbes, die an Bord als harmlos erscheinende Damen von Port zu Port ihre Nahrung suchten und meist auch fanden. Aber auch unter den echten weiblichen Mitfahrerinnen konnte man welche finden, die dem Zauber der schönen Reise und der guten Kost unterlagen und dem neckischen Spiel der Liebe frönten. So ist es tatsächlich passiert, dass ausreisende Bräute, die drüben heiraten wollten, mit einem fremden Partner in einem falschen »Port of Call« ausstiegen und Hochzeit machten, während der Originalbräutigam, schwer verärgert, vergeblich auf sein Herzblatt wartete. Schließlich hatte er ja die Überfahrt bezahlt, die ihm sogar manchmal von Nummer Zwei ersetzt worden sein soll.

Es gab auch Passagiere, die während der ganzen Reise kaum an Bord [Deck] kamen, weil sie in der Messe Skat spielten. Getrunken wurde nicht übermäßig. Jedenfalls ist mir das nicht aufgefallen, und ich selbst hatte keinen besonderen Spaß daran, weil ich in meiner 2-Betten-Kabine als »Mitschläfer« einen spanischen Jesuitenpater fand, der zu einer größeren Mission in Hankow gehörte, und gleichzeitig mit ihm reisten auf demselben Schiff weitere männliche und weibliche Mitglieder seines Ordens.
Jesuiten, besonders diejenigen, die ins Ausland geschickt werden, verfügen über eine sehr gute Allgemeinbildung, daher war es eine Lust, sich mit diesem Mann zu unterhalten, und ich als Youngster hatte davon den Vorteil. Nie versuchte dieser »Himmelslotse« mich religiös zu beeinflussen, ganz im Gegensatz zu evangelischen Missionaren, die ich später kennen lernte, die schrecklich bigott waren und deren Taktlosigkeit mir auf die Nerven fiel.
Auch mit den anderen spanischen Priestern, sogar den weiblichen, hatte ich besten Kontakt, und so konnte es nicht ausbleiben, dass ich, als diese schwarzen Sendboten in Shanghai von mir Abschied nahmen, ein gutes Spanisch sprach anstatt Englisch. Das hat mir aber nicht geschadet, weil ich sehr bald durch Verkehr mit Engländern auch deren Sprache beherrschen lernte. Das bei den kurzen Aufenthalten in Hongkong und Shanghai erforderliche Pidgin-Englisch konnte ich nach wenigen Stunden sprechen.

In Shanghai (shang = hoch und hai = Meer) wurde ich von Bord geholt und erst einmal festlich bewirtet und mit etwas Geld ausgestattet, um dort den Küstendampfer abwarten zu können, der nach einigen Tagen auch pünktlich eintrudelte. Es war der HAPAG-Dampfer Gouverneur Jäschke, der den Dienst zwischen Shanghai, Taku und Dalny in Gemeinschaft mit zwei anderen Booten versah.
Inzwischen hatte ich mir Shanghai angesehen und mich in Pidgin-Englisch geübt. Ich habe dort keinen Europäer Chinesisch sprechen hören, alles sprach Pidgin, und man erzählte mir schaudernd im Deutsch-Club, dass ich in Nordchina, welches ja mein Ziel war, sofort Chinesisch lernen müsse. Ich fand das gar nicht so schreckich, sondern freute mich schon darauf, weil man erst durch die Beherrschung der Landessprache echten Kontakt mit seinen Bewohnern finden kann.
Es ist möglich, dass heutzutage jemand, der diese Zeilen liest, sich die Karte von China ansieht und sich wundert, warum ich nicht mit der Eisenbahn fahren wollte, anstatt so umständlich mit einem Dampfer. Ja, denkste! Der Bau der Tientsin-Pukau-Bahn war gerade erst von deutschen Unternehmern begonnen worden und stieß schon auf große Schwierigkeiten finanzieller Art, und die Bewohner der Gegenden, durch die die Trasse vorbereitet wurde, waren gar nicht begeistert von diesem Unternehmen, das ihnen den »Fortschritt« bescheren sollte. Der chinesische Bauer ahnte wohl schon, dass er später die üblen Folgen zu tragen haben würde. Er fürchtete mit Recht, dass seine beschauliche Ruhe gestört werden würde und andere, wie immer, ihren Nutzen daraus ziehen wollten.
 

[3. Leben in Tientsin]

Nach zweitägiger Seefahrt kamen wir auf der Taku-Barre an und waren dann auch bald in Tientsin angelangt. Hier hatte man für mich schon bei einem schottischen Missionar, Mr. Drysdale, dem Vertreter der British and Foreign Bible Society, Quartier mit »full board and lodging« bestellt. Die Firma Eduard Meyer & Co. pflegte dort immer ihre jungen Leute zuerst unterzubringen, und zwar nicht, damit sie später einen besseren Platz im Himmel erhalten sollten, sondern damit sie von Beginn an gutes Englisch hören und erwerben sollten.
Das bewährte sich auch bei mir. Nach sechs Wochen konnte ich mich schon einwandfrei verständigen, aber später wurde ich auch oft gefragt, wo ich in Schottland geboren wäre. Das war wirklich kein Kunststück, wenn man bedenkt, wie hart wir uns in der Schule mit englischer Grammatik plagen mussten und wie leicht man dann später in der Praxis die Umgangssprache in den Griff bekommt.
Glücklicherweise war Mr. Drysdale ein sehr gebildeter Mann, von dem ich viel lernen konnte. Er war korrespondierendes Mitglied der Royal Geographical Society in London, und er sprach fließend Chinesisch und schrieb und las alles in Mandschu. Ich vermute, dass seine Tätigkeit mehr auf politisch-informativem Gebiet lag und dass seine Bibelversandtätigkeit nur Tarnung war. Schade, dass Deutschland nicht auch solche Leute im Ausland hatte. Wir hätten uns viel Kummer und Fehler ersparen können.
Das Ehepaar Drysdale wohnte allein in einem großen Haus in der englischen Niederlassung (Konzession genannt), und deren zwei Kinder wurden in Schottland auf Missionsschulen erzogen. Drysdales waren im Großen und Ganzen aufgeschlossen, aber religiös stur. Wenn wir zum Beispiel am Sonnabendabend Bridge spielten, mussten eine Minute vor 24 Uhr die Karten auf den Tisch geworfen werden, einerlei, wie der Rubber stand, weil ja der Sonntag anbrach und das Spiel dann eine Sünde geworden wäre.
Sonntags wurde auch nur kalt gegessen, um dem chinesischen Koch Gelegenheit zu geben, den Sonntag ebenfalls zu heiligen. Es wurde auch nur ungern gesehen, dass ich am Sonntag ruderte und anschließend in den Deutschen Club ging, um einige kurze Drinks zu kippen. Trotz dieser Eigenarten vertrugen wir uns prima, und ich wohnte jahrelang bei diesen guten Leuten, bis deren Tochter aus England zurückkehrte und mir mit ihrer 100%igen Frömmigkeit restlos auf die Nerven fiel.
Meine Missionare reisten dann später auf Urlaub in ihre Heimat und machten dabei einen Abstecher nach Bremen, wo sie in meinem Elternhaus feierlich empfangen wurden.

Nach dieser Völkerverbrüderung muss ich hier auf meine Ankunft in Tientsin zurückkommen. Also, ich wurde von meinem Chef vom Dampfer abgeholt und ins Office per Rikscha gefahren, um dort den Mitarbeitern vorgestellt zu werden. Abends wurde ich dann im Deutschen Club mit anderen Deutschen bekannt gemacht und unter Sprit gesetzt. Dann wurde dort gut gegessen und anschließend in den Puff gefahren, der sich in der französischen Konzession in der Rue de Chemin de Fer befand und dessen Gebäude und Gärten Eigentum französischer Jesuiten waren.
Die Bewohnerinnen dieser Straße waren überwiegend Amerikanerinnen, die von uns als richtige Damen behandelt wurden. Sie hatten Verwandte und Kinder in den Staaten, die keinen blassen Schimmer davon hatten, wie ihre Mütter in China ihr gutes Geld verdienten. Mehrere Häuser unterstanden zusammen einer Bordellmutter, der die Bewirtschaftung und die Verwaltung der Finanzen oblagen und die für den Nachschub und für Urlaubsvertretungen sowie die Werbung der Kundschaft sorgte.
Es hatte tatsächlich alles seinen Chic, und so konnte man, wenn man schon etwas bekannter in der Straße war, per Post eine sauber gedruckte, goldumränderte Einladungskarte zugeschickt bekommen, die etwa folgendermaßen lautete: »Dear Mr. Wieting, I have got a new consignment of girls, please have a look, sincerely yours...«.
Die Häuser waren luxuriös eingerichtet, und man traf sich dort im Salon zu einer gemütlichen Plauderstunde. Ein chinesischer Boy bediente ein mechanisches Klavier, wenn man Lust zum Tanzen hatte. Man unterhielt sich mit den Damen genauso formvollendet, wie es anderswo auch selbstverständlich war, und bestellte dazu eine Flasche französischen Sekt. Fast alle diese Frauen hatten eine gute Kinderstube und Erziehung genossen.
Es herrschte also kein St.-Pauli-Ton, und man bestellte auch den Sekt nur als Eintrittspreis. Von etwas musste ja schließlich der Schornstein rauchen, weil es in vielen Fällen bei einer netten Unterhaltung blieb, bis man nach Haus fuhr. Es gab natürlich auch manche, die dort blieben und später mit einer der Frauen ins Bett gingen – Geschäft ist eben Geschäft. Eine sogenannte »shorttime«, also ein kurzes Schäferstündchen, kostete 10 mexikanische Dollars und eine »longtime« 30 Dollars.2 Bei letzterer gab es noch Bad und Frühstück dazu.
Bar bezahlt wurde hier nicht. Man unterzeichnete einfach einen Schuldschein, einen I.O.U. (»I owe you«), der einmal monatlich kassiert wurde, und diese Schulden galten als Ehrenschulden und wurden immer prompt beglichen. Gab es wirklich einmal Zahlungsschwierigkeiten, dann konnte es passieren, dass ein I.O.U. in einer Kollekte der englischen Kirche auftauchte. Der Schuldner war blamiert und die Dame gerächt.

Meine Arbeit im »Office« (Kontor) war wenig verschieden von der, die ich zuletzt in Bremen gehabt hatte, und entsprach kaum meinen Träumen. Zu den Händlern oder zu irgendwelchen Verhandlungen im Basar konnte ich doch noch gar nicht hinzugezogen werden, weil ich noch kein Chinesisch verstehen oder sprechen konnte und Pidgin-Englisch hier ganz unbekannt war.
So hieß es denn: so schnell wie möglich chinesischen Unterricht nehmen, und jeden Morgen vor dem Frühstück paukte ich mit einem chinesischen Lehrer, der grässlich nach Knoblauch roch, den Mandschudialekt, der mit der in Shanghai gesprochenen Sprache nur wenig gemeinsam hat. Langsam, ganz langsam erlernte ich die ersten Wörter – und immer zusammen mit den Lautzeichen der Schrift, und schließlich konnte ich mich notdürftig verständlich machen und kleine Anweisungen geben. Von Konversation war natürlich noch keine Rede. Das kam später.
Unser Kontorpersonal setzte sich zusammen aus einem sehr netten jüngeren, unverheirateten Chef, zwei Importmännern und einem für Export (Eddy Meyer, Rolf [?] Raydt und ?), und das kleinste Rad am Wagen war ich. Jeder arbeitete selbstständig, und er konnte kommen und gehen, wann er wollte. Eine völlig neue Situation für mich, der ich ja gerade aus dem Zwang einer strengen Lehre in Europa kam.

Der Brennpunkt abendlicher Treffen war der Club, in den ich feierlich aufgenommen wurde. Hier las man Zeitschriften, spielte Billard und Karten und becherte nach Herzenslust. Ein riesiger Bar-Raum mit einer langen Bar war unser Tummelplatz, an dem wir »griffins« (Neulinge) am alleruntersten Ende standen, fern von den »taipans« (Chefs), die drüben am anderen Ende, kaum sichtbar im höchsten Himmel, tagten. Wir hätten nie gewagt, uns zu ihnen zu stellen, so »hoch« standen sie über uns. Na, unten fühlten wir uns aber auch sehr wohl, und wir konnten uns ungestört unterhalten, wie junge Leute es gerne machen – mit Angeben und so.
Nur auffallen durften wir nicht, und wir mussten äußerlich immer sittsam in Form bleiben. Jeder von uns hatte zwei ältere Herren als Bürgen gegenüber dem Club, und die waren auch mitverantwortlich für unser Benehmen in der Öffentlichkeit. Hatte man sich mal vorbeibenommen und war das unseren Bürgen zu Ohren gekommen, dann wurde man zu einer kurzen Unterredung gebeten, die alles in sich hatte.
Zu viel trinken oder lärmen war ja nur eine kleine Sünde, aber wenn es bekannt wurde, dass man auf der Taku Road häufiger gesehen worden war, dann wurde es ernst. An der Taku Road lagen nämlich die berüchtigten Lokale, Opiumhöhlen und chinesischen Puffs billigster Preislage mit der Möglichkeit, sich eine ganze Musik von Geschlechtskrankheiten zu holen. Und wenn man dann dazu auch noch mit Opiumrauchen anfing, dann war es restlos aus.
Man galt dann nur noch als »number two«-Mensch, flog aus dem Club und wurde in der ganzen europäischen Kolonie wie ein Aussätziger gemieden. Die Firma warf einen solchen Menschen sowieso fristlos raus, und die beiden Bürgen hätten auch für eine kurze Zeit dem Club fernbleiben müssen.
Es gab auch noch das Schwarze Brett, eine Holztafel, die in der Eingangshalle des Clubs hing, auf der zur Schande des Übeltäters dessen Name und Vergehen veröffentlicht wurde, wenn er z.B. Club- oder Spielschulden nicht bezahlt hatte. So wurde streng für Ordnung gesorgt, und wer die nicht von Haus aus schon mitgebracht hatte, der lernte sie hier.

Wenn mein Arbeitstag zu Ende gegangen war, fuhr ich im Sommer zum Deutschen Ruderklub am Peiho-Fluss. Hier habe ich manche Stunde auf dem Wasser im Skull oder Skiff und auch im Achter verbracht. Ich war ein begehrter Ruderer, sowohl im Achter als »number two« wie auch im Vierer als Schlagmann. Viele Rennen gegen die Engländer habe ich gewonnen oder auch verloren.
Wenn bei den Engländern aber Not am Mann war und wir genügend Mannschaft hatten, musste ich auch gelegentlich bei diesen aushelfen und gegen meine eigenen Landsleute rudern. Es war ein wirklich nettes Verhältnis zwischen uns und den Söhnen Albions, im Gegensatz zu den jungen Franzosen, die sich sowieso sehr abkapselten und bei uns gesellschaftlich für nicht ganz voll galten.
Reiten tat ich auch gern. Ich kaufte ein mongolisches Pony, ein mittelgroßes, zottiges Pferd, das mir die Reitkünste beibrachte, so gut wir beide es verstanden. Es waren vielfach reiche englische Pferdeliebhaber, die diese Tiere in der Mongolei an Ort und Stelle aufkaufen ließen, und zwar in größerer Anzahl. Hier in Tientsin wurden sie dann auf Reit- und Sprungfähigkeit geprüft. Der englische Aufkäufer behielt für sich die besten Tiere und verkaufte den Rest zur Deckung seiner Kosten. So konnte man billig zu einem guten Reitpferd kommen. Getauft war mein Pferdchen auf den seltsamen Namen »Chronometer«. Wir ritten Schnitzeljagden und machten Ausflüge in die Umgebung mit anschließenden Picknicks, selten in Gesellschaft der wenigen Damen, d.h. der Frauen der älteren Angestellten und Chefs.
Einladungen in den Englischen Klub gab es auch, wie wir auch unsere englischen Altersgenossen bei uns zu Gast hatten. Erstaunlich war mir die mangelnde Trinkfestigkeit der Engländer, die nach einem gewissen Quantum alkoholischer Getränke sehr schnell aus der Rolle fielen und dann wie die Vandalen hausten. Nicht nur Tische und Stühle verloren da ihre Beine, sondern auch Kronleuchter gingen zu Bruch, und Topfblumen wurden durch die Gegend geschleudert.
Wir nahmen ihnen das aber nicht weiter übel und blieben trotzdem ihre guten Freunde, obgleich wir derartigen »kleinen Scherzen« nicht viel Verständnis entgegenbringen konnten. Am nächsten Tag wurde der angerichtete Schaden auch prompt ersetzt, und wir konnten als gut dressierte Gentlemen dann ruhig wieder zur Tagesordnung übergehen. Unter uns erwähne ich hier noch dazu, dass alle Bruchkosten von uns gleich mit einkalkuliert waren.

Dem Leser wird sicher schon aufgefallen sein, dass ich immer nur von Engländern und noch nie von Amerikanern gesprochen habe. Aber abgesehen von Missionaren gab es damals in Nordchina fast keine Amerikaner aus anderen Berufen. Der Wunsch der Amis, andere Völker zu beglücken, machte sich hier erst nach dem ersten Weltkrieg bemerkbar.
Wie ich anfangs erwähnte, wurde die Mandschurei zu der Zeit, als ich ausreiste, von einer verheerenden Lungenpest heimgesucht, und man befürchtete nun ein Übergreifen dieser Seuche auf Nordchina. Diese Gefahr wurde aber glücklich gebannt, weil die Absperrungsmaßnahmen rigoros durchgeführt wurden. Inzwischen waren aber in Kanton (Südchina) politische Unruhen aufgeflackert, die auch fremdenfeindlichen Charakter hatten.
Nach den bitteren Erfahrungen der Boxerunruhen im Jahre 1900 warteten die fremden Mächte nicht erst die weitere Entwicklung ab, sondern schickten größere Truppenabteilungen nach Peking und Tientsin zum Schutz ihrer Angehörigen. Sogar wir Zivilisten wurden mit Gewehren bewaffnet, und wir mussten regelmäßig Schießübungen abhalten.
Die Anwesenheit der vielen fremden Soldaten war für uns recht unterhaltsam, und wir haben viele nette Stunden mit deren Offizieren verlebt. Die Engländer schickten zwei Regimenter, und die Franzosen, Russen, Italiener, Japaner und die Deutschen erschienen mit ihren Truppen, ja, sogar die Oesterreicher kamen mit Marinesoldaten, obgleich es für sie kaum Untertanen gab, es sei denn einige Damen des Getränkegewerbes, die sowieso Haare auf den Zähnen hatten. Die chinesische Bevölkerung sah sich diesen ganzen Zirkus gelassen an, und man schnitt sich nicht den Hals ab.
Wir konnten auch unbehelligt weiter Ausflüge ins Land hinein machen. Der einzige Zugang nach Tientsin und Peking war der Peiho, der im Winter ganz zufror. Eine brauchbare Landverbindung existierte noch nicht, und so wurden wir jeden Winter von außen abgeschnitten. Geschäfte wurden natürlich weiterhin getätigt, aber nur auf Sicht und telegraphisch. Die Post wurde durch Boten zu eisfreien Häfen gebracht. Während dieser Murmeltierzeit arbeiteten wir, aber wir starben nicht daran. Es war eine geruhsame Zeit, die aber leider mit der Eröffnung der Tientsin-Pukau-Bahn ihr Ende erreichte.
 

[4. Geschäftsleben]

Unsere Firma war nicht gerade sehr bedeutend, doch hatten wir eine sehr gute Anilinfarbenvertretung (Chemische Fabriken, vorm. Weiler ter Meer, Uerdingen am Rhein), die bei den Chinesen sehr gut eingeführt war und deren Artikel respektive Produkte bis zum äußersten Winkel des gewaltigen chinesischen Kaiserreichs gehandelt wurden.
Die Anilinfarben wurden in kleinen Blech-Tins geliefert, und deren Verpackungen trugen auf ihrem Deckel bunte Bildchen, die sogenannten Chops, also Handelsmarken, die dem entferntesten Käufer, der weder lesen noch schreiben konnte, gut bekannt waen. Der Käufer brauchte nur seinen Chop zu fordern, und er bekam dann garantiert das, was er benötigte.
Auf die Qualität brauchte er nicht zu achten, er kannte ja den Chop, und sein Vater und sein Großvater hatten auch schon dieselbe Marke gekauft und waren niemals dabei hereingefallen. Laut Chop stammte die Farbe ja von der oder der europäischen Firma, und auf die konnte man sich todsicher verlassen. Diese Chops waren in China und Europa gesetzlich geschützt und wurden, jedenfalls zu meiner Zeit, nie von der Konkurrenz nachgeahmt oder verfälscht.
Wir handelten auch mit Textilien, aber dann ganz groß mit Nähnadeln bester Qualität. Diese Nadeln wurden ebenfalls in kleinen Blechdosen unter Chops geliefert und wurden sehr hoch bewertet. Billige Nähnadeln kamen aus Iserlohn, wo man schon lange Maschinen für die Verpackung und die Veredelung der Nadeln eingesetzt hatte, aber wir mussten den Chinesen Handarbeit bei der Veredelung und auch bei der Verpackung garantieren. Sie verlangten eben Qualität und waren auch bereit, dafür zu zahlen.
Der kleinste Rostfleck an einer einzigen Nadel konnte einen Schwanz von Reklamationen zur Folge haben, und deshalb wurde die Fabrikation in Deutschland peinlich genau gehandhabt. Zum Beispiel trugen die Arbeiterinnen bei der Einzahlung der einzelnen Nadeln in die kleinen Briefchen Tücher vor ihrem Mund. Genauso überwacht wurden der Transport und die Verschiffung. Wie ein rohes Ei wurden die Kisten behandelt.
Als die Revolution sich später auch auf Nordchina ausdehnte, wurde einmal ein mit Nadelkisten beladener Leichter auf dem Peihofluss durch Artilleriebeschuss versenkt. Wir haben dann später die Nadeln wieder aus dem Wasser holen lassen, sämtliche Chops und sogar auch die Nadeltäschchen entfernt und vernichtet und die teilweise trotz bester Verpackung schon angerosteten Nadeln in Auktion verkauft. Alles dies nur, um das gute Gesicht unserer Chops zu wahren, und unsere chinesischen Freunde erwarteten das auch von uns als selbstverständlich. Das gehörte sich eben so.

Die Namen der großen Händler sind mir noch genau im Gedächtnis geblieben. Es waren: Yü Sin Tai, Yü Sing I, Yüan i Hang und Hyan Hsing Hsiang. Einer von diesen Geschäftsfreunden hat uns einmal ein großes Fest gegeben, als er die hunderttausendste Kiste Nadeln einer bestimmten Sorte geliefert bekam. Diese Händler waren einfach prima und haben die Firma nie enttäuscht.
Neben Münchener Löwenbräu-Bier, Dachpappen und anderem Kleinkram (Sundries) hatten wir auch die Vertretung einer bekannten englischen Versicherungsgesellschaft, die Feuerschäden deckte. Hauptsächlich vor Chinesisch-Neujahr brannte es sehr oft, weil es üblich war, dass der Chinese bis zum Fest seine Schulden, wenn irgend möglich, beglich.
Wenn dafür sein Geld nicht langte, nun, dann brannte es eben mal, und die Versicherungssumme musste aushelfen. Natürlich traten auch echte Schadensfälle auf, aber unsere Statistik bewies uns doch, dass die meisten Brände entstanden, wenn das chinesische Jahr sich dem Ende zuneigte.
Einmal wurde ich von unserem Versicherungsmann gebeten, ihm zu helfen. Ich könnte doch vielleicht einen neuen Anzug gebrauchen, dafür müsste ich aber mit ihm zu einem größeren Schadenfeuer fahren und beobachten, wie das auslief. Nach Ablieferung meines Berichts, in dem auch mein »Heldenmut« und der dabei angesengte Anzug erwähnt wurden, durfte ich mir einen prima neuen Anzug vom Schneider machen lassen. Es wird eben überall mit Wasser gekocht.

Zur Ausfuhr nach Europa kamen oft und in großen Mengen Soyabohnen und Soyakuchen, der aus den Rückständen gepresster Sojabohnen besteht, denen das Öl entzogen wurde. Soyakuchen soll ein nahrhaftes Viehfutter sein. Auch Soyaöl wurde ausgeführt, aber vorher gern von den Chinesen verfälscht, weshalb der Handel nicht richtig in Schwung kam.
Auch Pferdehaar ging in großen Mengen in den Westen, wo es zur Polsterung von Möbeln gebraucht wurde. Auch hierbei gab es nach Ausbruch der chinesischen Revolution (Herbst 1911) manchen Ärger, weil die Chinesen von da ab oft Menschenhaar daruntermischten, das, als sie sich jetzt alle ihre schönen langen Zöpfe abschneiden lassen mussten, in großen Mengen anfiel und irgendwie versilbert werden musste. Menschenhaar ist bekanntlich zu gar nichts zu gebrauchen, im Gegensatz zum nützlichen Pferdehaar.
In Europa, und besonders in der Levante und auch in Italien, trugen die Herren damals flache Strohhüte – scherzhaft auch Kreissägen genannt – die aus endlosen, geflochtenen schmalen Strohbändern zusammengenäht wurden, die in China bei den billigen Löhnen in Massen anfielen. Wir haben viele Ballen dieser Strohborten über See geschickt.
Man baute auch Baumwolle in China an, die ein gutes Geschäft zu werden versprach, aber auch viel trouble verursachte, weil gern Wasser vor dem Pressen in die Ballen gegossen wurde, was nur dem Gewicht eines Ballens bekömmlich war. Es dauerte natürlich immer etwas Zeit, bis solche kleinen chinesischen Scherze gestoppt werden konnten. Erdnüsse und Schweineborsten wurden ebenfalls nach Europa versandt.

Es waren schon einige Monate vergangen, bis meine chinesischen Studien Früchte trugen. Und von da ab machte ich gute Fortschritte. Ich lernte zu jedem Wort auch das Schriftzeichen gleich mit, und wenn ich einen Chinesen sprechen hörte, konnte ich schon etwas erfassen, und wenn ich antwortete, brachte ich die Worte auch gleich in den richtigen Ton.
Nur ein kleines Beispiel: Das Wort »LI« bedeutet entweder die Meile oder die Pflaume oder die Arbeit, hat aber auch noch mehrere andere Bedeutungen, die man nur auseinanderhalten und verstehen kann, wenn man das chinesische Wort in seiner richtigen Betonung ausspricht.
Es gab damals in der chinesischen Schriftsprache etwa 3000 Wortzeichen, die kaum ein europäischer Gelehrter alle kennen, geschweige denn beherrschen kann. Im täglichen Gebrauch, besonders auch durch die Zeitungen, ist aber diese Zahl auf 900 bis 1000 zusammengeschrumpft. Um nun aber diese tausend Zeichen im Gedächtnis zu behalten, muss man täglich einen Teil derselben immer und immer wiederholen, also alle Zeichen immer wieder lernen, und dabei stellt man traurig fest, wie viel man wieder vergessen hat.
Zum richtigen Lesen und Schreiben bin ich und sind einige Kameraden und Freunde erst einige Jahre später durch einen guten deutschen Lehrer in der japanischen Kriegsgefangenschaft gekommen, als uns dafür Zeit in Hülle und Fülle zur Verfügung stand. Nun, meine Studien haben mich jedenfalls ganz schön vorwärtsgebracht, und ich konnte mich bald nett unterhalten und dadurch den Chinesen auch mehr Verständnis entgegenbringen.
Viele Europäer, die schon lange draußen lebten, hatten außer zu ihren Geschäftsfreunden kaum Kontakt mit den Chinesen. Man lebte seinem eingelaufenen und einbringlichen Job und wartete auf den Heimaturlaub, um dann zu Haus dick anzugeben. Wohnen und arbeiten tat man in der französischen, deutschen oder englischen Niederlassung, so dass man praktisch aus dem westlichen Milieu kaum herauskam.
Die geschäftlichen Besuche in der Chinesenstadt waren auch immer dasselbe, und die Einstellung zu den Chinesen kam mir manchmal recht überheblich vor. Ich war peinlich berührt, wenn so ein weißer Pinkel, der dazu noch die Sprache kaum beherrschte, verächtlich auf die Chinesen herabsah, die doch weiß Gott mehr Tradition und Bildung hatten als etliche der »fremden Teufel«. Trotz annehmbarer Sprachkenntnisse und allen guten Einfühlungswillens wird ein Europäer aber selten das Denken und Handeln eines Chinesen begreifen können, und umgekehrt wird es sicher genau dasselbe sein. Damit muss man sich abfinden, wenn einer den andern nur ehrlich achtet und ehrt.

Im Betrieb einer europäischen Niederlassung in China gab es fast immer einen »Comprador«, der im Handelsverkehr unersetzlich war. Er war sozusagen der Verbindungsmann zwischen der europäischen Firma und den eingeborenen Händlern. Der Comprador ist der chinesische Gechäftsführer, der oft sehr vermögend ist, eine große Kaution gestellt hat, aber kein Teilhaber ist. Er sorgt durch seine guten Beziehungen für die Erhaltung und Ausweitung des Geschäfts, und die Achtung, die man ihm zollt, ist gekoppelt mit dem hohen Ansehen, das die europäische Firma sich im Verlauf von Jahren und Jahrzehnten in China erworben hat. Einer profitiert hier vom anderen und fördert ihn dadurch.
Der Comprador ist ein Überbleibsel aus der Zeit, als die portugiesischen Händler zuerst mit den Chinesen geschäftliche Beziehungen aufnahmen. Das muss so um 1500 gewesen sein. Die Portugiesen erhielten damals nur eine Handelsgenehmigung von den chinesischen Behörden, wenn sie einen Comprador hatten (portugiesisch: comprare = vermitteln oder beschaffen), der ihnen gleichzeitig etwas auf die Finger sehen musste.
In meinem Fall in Tientsin hatte der Comprador auch die Kasse, und wenn wir einmal Vorschuss brauchten, dann forderten wir das Geld von ihm an und unterzeichneten ihm dafür einen I.O.U. Zahlen tat er immer, aber man musste vorsichtig sein, dass man nicht die Übersicht über seine I.O.U. (zu Deutsch: »Ich Ochse unterschreibe«) verlor und zu tief in die Kreide kam. Hohe Puff- und Clubrechnungen, die alle erst über den Comprador liefen, erhöhten andererseits das »Gesicht«.
Nichts war in China damals schlimmer, als wenn man sein Gesicht, also sein Ansehen verlor. Das war das Gefährlichste, was einem passieren konnte! Sein Gesicht musste man immer wahren, denn wenn es hieß »He lost his face«, dann war wirklich Schluss.
 

Anmerkungen

1.  Das Versicherungsgesetz für Angestellte“ (VGfA) wurde erst am 20. Dezember 1911 erlassen (heute: Sozialgesetzbuch VI).

2.  Der mexikanische Silberdollar kursierte in China ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und bildete bis 1914 eine Art »Ersatzwährung«. Ein Dollar entsprach in Kiautschou um 1909 etwa 1,48 (Gold-)Mark, in heutigem Geld etwa 7,50 Euro.
 

©  Ingemarie von Hallen; für diese Fassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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