Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Marugame

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Aus dem Kriegsgefangenenlager Marugame [Ende 1916]

Von A. Gerlach

Der folgende Artikel erschien im Februar 1917 in der von dem schlesischen Schriftsteller Paul Keller herausgegebenen Monatschrift "Die Bergstadt". Zur Person des Autors ist nichts weiter bekannt.1
Der Text wird, von geringen Veränderungen der Schreibweise abgesehen, unverändert wiedergegeben, ebenso die fünf Abbildungen. Die Fußnoten (in rot) wurden vom Redakteur hinzugesetzt.
 

Turnen[Foto links:] Turnen kriegsgefangener deutscher Seesoldaten; im Hintergrunde der Tempel, in dem sie wohnen.

Schon mehr als zwei Jahre sind ins Land gegangen seit jenem Novembertage, an dem die deutsche Flagge auf dem Signalmast in Tsingtau dem japanischen Banner weichen musste. Über zwei Jahre bereits weilen die Helden von Tsingtau als Kriegsgefangene im Land der aufgehenden Sonne. Viele tausend Meilen entfernt von der kämpfenden, ringenden Heimat zur Untätigkeit verurteilt, getrennt von Weib und Kind und allem, was das Leben lebenswert macht, wahrlich, kein beneidenswertes Schicksal, das nun das dritte Jahr den 4000 Helden beschieden ist. Und doch freut es uns, aus den zahlreichen Briefen aus allen 11 Kriegsgefangenenlagern in Japan herauslesen zu können, dass das Los unserer Kriegsgefangenen in Japan als erträglich bezeichnet werden kann. Besonders spricht hier der Umstand mit, dass alle Lager im südlichen Japan, somit in klimatisch gesunden Gegenden, sich befinden und meist an Orten mit landschaftlichen Reizen. Allein auf der Insel Shikoku in der Inlandsee, die durch ihre Naturschönheiten berühmt ist, liegen drei Lager. In eines derselben, Marugame, lassen uns die beigegebenen Bilder einen Blick werfen.

Marugame, einst der Sitz eines mächtigen Daimyos, ist eine kleine Garnisonstadt, die durch einen guten Naturhafen einige Bedeutung erlangt hat. In seinem wohlgepflegten Parke mit umfangreicher Tempelanlage herrscht seit November 1914 geschäftiges Treiben. Hier sind zwei Kompagnien des Tsingtauer Seebataillons als Kriegsgefangene untergebracht, eine Landwehrkompagnie und eine aktive Kompagnie.2 Den Landwehrleuten, die, behagliches Heim und geachtete Stellung verlassend, zu den Fahnen eilten, stehen meist ausreichende Geldbezüge zur Verfügung, da die Japaner die Guthaben in China und auch Tsingtau den Kriegsgefangenen zugänglich machen. Bei dem guten Geist der Kameradschaft wird mancher Unbemittelte im Lager unterstützt,3 und die jungen Mannschaften nehmen auch die Gelegenheit wahr, durch Putzen, Flicken und Stricken von Strümpfen ein paar Groschen zu verdienen, die in Zigaretten, Früchten und dergleichen angelegt werden. Die Kost wird als ausreichend und nahrhaft bezeichnet, bietet aber wenig Abwechselung, da Reis und Hülsenfrüchte sehr häufig auf der Speisekarte erscheinen.

UnterkunftAls Unterkunftsraum dient der Tempel mit seinen zahlreichen Nebengebäuden, wo ganz nach japanischer Art die Lagerstatt auf dem Fußboden aufgeschlagen wird. Findige Köpfe haben sich aus Bierkisten Bettstellen, aber auch Tische, Stühle und Schränke gezimmert, da diese Möbel dem japanischen Haus unbekannt sind.

[Foto links:] Wohn- und Schlafraum im Tempel von Marugame. Der Soldat in der Mitte steht Feuerposten.

[Foto unten links:] Tempelhof mit Küche

[Foto unten rechts:] Paketausgabe

Tempelhof Paketausgabe

NachrichteneckeSeitens der japanischen Behörden wird unseren Landsleuten keinerlei Arbeit zugemutet, und so versucht man durch turnerische Übungen, Ringkämpfe, Faust- und Schlagballspiele den Körper zu stählen und durch sprachliche Kurse in Englisch, Französisch, Japanisch und Chinesisch, sowie Buchführung, ferner durch Theater, Konzerte und Lektüre die Langeweile zu bannen. Im Lager wird eine eigene Zeitung herausgegeben,4 und in der oft besuchten Nachrichtenecke kann sich jeder an der Hand von mächtigen Kriegskarten über den Stand unserer Fronten unterrichten, auch dort die neuesten Drahtnachrichten vom Kriege erfahren.5

[Foto links:] Nachrichtenecke. Die Gefangenen geben eine Zeitung heraus, die hier ausgehängt wird; daneben Karten der Kriegschauplätze.

Als besonders erfreulich ist hervorzuheben, dass die Japaner in der Handhabung der Zensur sehr milde sind.6 Außer allen möglichen Tageszeitungen sind auch Kriegsromane, Sven Hedins Bücher, Kriegsnummern der "Jugend" und der "Lustigen Blätter", ja sogar Gottbergs "Helden von Tsingtau" unbeanstandet durch die japanische Zensur in die Hände der Kriegsgefangenen gelangt und mit großer Freude begrüßt und bestätigt worden. Während in Japan auf Zigarren ein Zoll von 200 Prozent liegt, der den Preis einer gewöhnlichen Zigarre auf 50 Pfennig schon im Frieden erhöhte, lassen die Japaner die Liebesgabenzigarren völlig zollfrei durch; auch solche drüben mit Jubel begrüßten Sendungen kommen prompt an. Den Kriegsgefangenen sind monatlich zwei Briefe und zwei Karten gestattet, aber es sind dabei auch Beschränkungen eingetreten, wenn durch Fluchtversuche unüberlegter Kameraden das Mißtrauen der Japaner wachgerufen wurde.

Ähnlich wie in Marugame spielt sich das Leben und Treiben in den andern zehn Lagern ab; nur dass die Kriegsgefangenen in den kleineren Lagern meist mehr Freiheit genießen. In Osaka haben die beiden Tennisplätze soviel Anklang gefunden, dass auch die Kegelfreunde dort zum Bau einer Kegelbahn schreiten, und der Gesangverein im Lager von Osaka hat schon große Berühmtheit erlangt,7 wird vielleicht nur noch durch das Theater in Kurume, dem größten Lager, übertroffen, wo "Alt Heidelberg" ungezählte Male über die Bretter ging und die Japaner selbst ihre helle Freude darüber hatten.

Zum Troste aller derer, die Verwandte und Freunde dort drüben wissen, kann jedenfalls mit vollem Recht behauptet werden, dass die Japaner es sich angelegen sein lassen, die Kriegsgefangenen als Angehörige einer Kulturnation zu behandeln, und dass sie in dieser Behandlung, zum Glück für unsere Helden von Tsingtau, ihre sämtlichen christlichen Verbündeten beschämen.8
 

Anmerkungen

1.  Vielleicht handelt es sich um den ehemaligen Tsingtauer Lehrer Artur Gerlach.

2.  Von der 7. Kompanie (Landwehr und Reserve) kamen 80 % nach Marugame, von der (aktiven) 2. Kompanie etwa zwei Drittel.

3.  Gemeint sind die Wehrpflichtigen der 2. Kompanie.

4.  Von der Lagerzeitung, dem "Marugamer Tageblatt", sind bisher keine Exemplare aufgefunden worden.

5.  Das bezieht sich natürlich nur auf japanische und englische Nachrichtenquellen..

6.  Eine etwas naive Darstellung! Wenn ein derart günstiges Bild der Verhältnisse in den Lagern herauskommt (siehe auch unten die Bemerkung zu Kurume), spricht das eher für eine effektive Zensur der Japaner in Bezug auf die ausgehende Post; siehe zum Vergleich die von Welles aufgelisteten Kritikpunkte.

7.  Hierüber ist derzeit nichts Weiteres bekannt.

8.  Die positive Hervorhebung Japans in diesem Artikel, der ja seinerseits der Zensur unterlag, kann auch damit in Verbindung gebracht werden, dass Japan seinerzeit von der deutschen Diplomatie – trotz des Scheiterns der "Stockholmer Gespräche" vom Mai 1916 – als möglicher "Vermittler" angesehen wurde.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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