Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Marugame

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Das Lager Marugame am 5. März 1916

Aus dem Bericht von Sumner Welles

Auf diplomatischen Druck erlaubte die japanische Regierung 1916 einem Vertreter der US-amerikanischen Botschaft in Tokyo, die Gefangenenlager zu inspizieren. Aus dem Bericht des Botschaftssekretärs Sumner Welles wird hier der das Lager Marugame betreffende Teil wiedergegeben.
Quelle: Bundesarchiv/Militärarchiv; die Übersetzung wurde 1916 vom Auswärtigen Amt besorgt. Unterstreichungen wurden weggelassen, Fußnoten (in rot) vom Redakteur hinzugesetzt.
 

Am 5. März 1916 um 12 Uhr traf ich im Gefangenenlager von Marugame ein und wurde am Eingang von dem Lagerkommandanten, Oberst Ishii, und seinem Stabe empfangen.

Das Lager für die Unteroffiziere und Gemeinen befindet sich auf einem alten Tempelgrundstück. Dieser Tempel wurde in den Jahren 1904/5 als Gefängnis für die russischen Kriegsgefangenen benutzt, und die Einrichtungen aus jener Zeit sind noch in Gebrauch. Insgesamt sind 306 Gefangene in diesem Lager untergebracht, und der Tempel und seine Nebengebäude sind natürlich nicht dazu geeignet, sie aufzunehmen. Um die Zugluft, die durch die alten Baulichkeiten weht, abzuhalten, haben die Gefangenen auf eigene Kosten alle Lücken und Risse mit Papier verklebt. Die Folge davon ist, daß die Schlaf- und Wohnräume nicht nur nicht mehr durchlüftet werden können, sondern daß in die Schlafräume auch kein Tageslicht mehr fällt. Das Alter der Gebäude und ihr Charakter machen es unmöglich, sie in gesundheitlich einwandfreiem Zustande zu erhalten. Mehr als drei Viertel aller Gefangenen schlafen in dem großen Innenraum des Tempels, der infolgedessen außerordentlich überfüllt ist. Die herrschenden Verhältnissescheinen nachteilig auf den Gesundheitszustand der Leute zu wirken.

Die Beziehungen zwischen den Gefangenen und den Wachmannschaften fand ich ausgezeichnet, und ich hörte keine Klagen über irgend welche Fälle von Mißhandlung. Die Leute schienen gut und ausreichend gekleidet zu sein.

Ich hörte, daß das zuerst für sie gelieferte Essen ungenügend gewesen und daß nach kurzer Zeit das gegenwärtige System eingeführt worden sei, wonach die Leute Vorschläge mit Bezug auf das Essen machen können und unter Berücksichtigung dieser Vorschläge allwöchentlich ein Küchenzettel von der Lagerverwaltung aufgestellt wird. Ich hatte Gelegenheit, ein Muster eines solchen Küchenzettels zu sehen, auf dem die folgenden Mahlzeiten für die Woche angeführt waren: Frühstück - Kaffee und Brot, Mittagessen - Rindfleisch und Kartoffeln, Abendessen - Fisch, Kohl, Brot und Tee. Die Regierung gibt hier 15 Cents täglich für die Verpflegung jedes Gefangenen aus. Bestimmte Gefangene haben die Erlaubnis, die erforderlichen Zutaten einzukaufen und zu Wurst zu verarbeiten, die sie an die anderen Gefangenen weiterverkaufen.

Die Badeeinrichtungen waren nicht gut und die Aborte befanden sich in so großer Nähe der Wohnräume, daß nach meiner Ansicht die Gesundheit der Gefangenen dadurch geschädigt werden kann. Der Krankensaal ist klein, aber sauber und behaglich. Eine Kantine ist täglich geöffnet. Das Arrestlokal ist von der üblichen Art; wie ich hörte, betrug die längste Arrestdauer 10 Tage. Der Kommandant teilte mir mit, daß seit Bestehen des Lagers nur in 5 Fällen disziplinarische Bestrafungen notwendig geworden seien, daß jedoch zwei Gefangene wegen Fluchtversuchs eine Gefängnisstrafe erhalten hätten, die in einem Zivilgefängnis verbüßt werde.1

Ich unterhielt mich mit mehreren Gefangenen, um zu erfahren, ob sie sich über irgend etwas zu beklagen hätten. Sie erklärten alle ohne Zögern, daß ihre Behandlung keinen Anlaß zu Klagen gebe, daß aber, wie es auch der Augenschein lehrt, die Wohn- und Schlafräume stark überfüllt seien, daß ferner keine Gelegenheit für die Gefangenen vorhanden ist, Spiele oder Übungen im Freien auszuführen, sie vielmehr nur umher gehen könnten und daß auch diese Spaziergänge nur unter Bedeckung auf einem schmalen Gang oder Weg längs der Umzäunung vorgenommen werden dürften. Zweimal wöchentlich erhalten die Gefangenen Erlaubnis zu einem Spaziergang nach einem etwas entfernt liegenden Park. Der geringe Umfang des Lagerplatzes läßt die Ausübung irgend eines Sports nicht zu, sodaß die Leute wenig Zeitvertreib zu haben scheinen. Zweimal im Monat werden den Gefangenen aus Kobe einige Bücher übersandt, aber im übrigen ist wenig Lesestoff vorhanden. Es mangelt auch an Platz, um Werkstätten einzurichten oder Theateraufführungen zu ermöglichen. Ein Gefangener regte an, daß es für die Verwaltung ein Leichtes sein würde, ihnen eines der vielen Felder, von denen das Gefängnis umgeben ist, zur Benutzung freizugeben, und daß sie hier reichlich Platz für Spiele haben würden.

Die Schlafräume sind der wundeste Punkt in der Einrichtung der Unterkunftsräume für die Mannschaften in Marugame. Sie sind finster und haben keine Luftzufuhr mit Ausnahme der Zugluft, die über den Boden hinstreicht, wo die Leute auf den von der Lagerverwaltung bewilligten Strohmatratzen liegen.

Ich hatte eine kurze Unterredung mit dem Gefangenen Baer, der, wie der Botschaft mitgeteilt worden war, an einer schweren Augenerkrankung leidet. Wie er mir sagte, hat er keinen Facharzt gehabt mit Ausnahme des sogenannten Augenarztes aus Marugame, das aber nur ein kleines Dorf ist. Die Lagerverwaltung hat ihn nicht nach Tokio zur Behandlung schicken wollen, und nach seiner Aussage ist nicht das Geringste für ihn geschehen, obgleich sein linkes Auge tatsächlich erblindet ist. Der Kommandant behauptete, daß für den Kranken gesorgt worden wäre, aber es ist klar, daß dem Manne der Rat eines wirklichen Facharztes zugestanden werden sollte.

Nach meiner Besichtigung des Unterkunftsgebäudes für die Mannschaften besuchte ich das in einiger Entfernung vom Hauptgefängnis liegende Haus, in dem die sieben deutschen Offiziere untergebracht sind.2 Es ist ein zweistöckiger halbeuropäischer Bau mit einem großen Garten dahinter. Das Haus scheint sehr bequem zu sein und enthält außer ziemlich großen Schlafräumen, die von den Offizieren mit Ausnahme des ältesten, Hauptmann Lancelle, gemeinsam bewohnt werden, noch ein Wohnzimmer und ein Eßzimmer. Jeder Offizier hat seinen eigenen Burschen und alle haben sich zusammengetan, um einen japanischen Koch zu mieten. Auf die Anregung des Obersts Ishii fanden sich alle Offiziere im Eßzimmer ein, wo ich den ältesten von ihnen fragte, ob er über etwas zu klagen hätte. Seine Antwort lautete: "Ich befinde mich nicht in einer Lage, in der ich irgend welche Klagen vorbringen kann; ich weiß, daß die Japanische Regierung nicht will, daß Klagen erhoben werden, und aus diesem Grunde bin ich gezwungen, von irgend welchen Beschwerden Abstand zu werden." Er bat mich jedoch, dem Amerikanischen Botschafter seinen aufrichtigen Dank für meinen Besuch auszusprechen.

In einem Falle ist ein Offizier wegen eines Vergehens vom Garnisonkommandanten mit einer Woche Zimmerarrest bestraft worden;3 im übrigen sind die Beziehungen zwischen den deutschen und den japanischen Offizieren sehr herzlich gewesen. Die Bedingungen, unter denen die Offiziere hier gefangen gehalten werden, sind nicht hart und die allgemeinen Verhältnisse ausgezeichnet.

Ich verließ das Lager in Marugame um 2 Uhr 45 Minuten nachmittags.
 

Anmerkungen

1.  Es handelt sich um Ehlers und Roth.

2.  Siehe die Belegungsübersicht.

3.  Gemeint ist vermutlich Kühlborn.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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