Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Nagoya

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Tierhaltung, Landwirtschaft [im Lager Nagoya]

von Hermann Voigtländer

Der Bericht von Hermann Voigtländer, dem Chronisten des Lagers Nagoya, gehört zu einem Konvolut von Texten, die er kurz vor der Entlassung verfasste bzw. zusammenstellte und mit Brief vom 21. Dezember 1919 dem deutschen Pfarrer Schroeder in Tokyo übermittelte.

Der Redakteur bedankt sich bei der Familie Voigtländer für die Überlassung einer Durchschrift des maschinengeschriebenen Textes. Er hat Schreibfehler berichtigt, Anmerkungen in [] oder als Fußnote hinzugesetzt und Zwischentitel eingefügt.
 

[Tierzucht]

Erst vom Jahre 1917 ab wurde gestattet, im Lager brachliegende Flächen zu bebauen und Singvögel, später auch Nutzgeflügel zu halten. Bis dahin beschränkte sich die Tierhaltung auf einige gezähmte Sperlinge, die vor dem Büro streng geheim gehalten werden mussten, aber ganzen Gruppen Anlass zu einer harmlosen Freude boten.

Von der Erlaubnis wurde in ausgedehntem Maße Gebrauch gemacht. An Nutzgeflügel wurden in der Hauptsache Hühner, ferner Enten, Gänse, auch einige Truthähne gezogen, ferner Kaninchen in großer Zahl. Die so gewonnenen Eier und Fleischgerichte waren für die Eigentümer eine willkommene Abwechslung und Bereicherung der eintönigen und knappen Gefangenenkost. Auch bildete sich ein gewisser Handel heraus: Die Eierpreise gingen mit den in der Kantine verlangten langsam von 5 sen auf 10 sen in die Höhe, ein Suppenhuhn wurde mit Yen 1,80 bis 1,70, Gänse mit Yen 3,50 bis 5,-- je nach Größe und Gewicht bezahlt. Bemerkenswert ist vielleicht, dass die im Lager gewonnenen Eier bedeutend wohlschmeckender waren als die von draußen herein kommenden, was auf die in Japan allgemein übliche Hühnerfütterung mit Fisch-Abfällen zurückgeführt wird. Tiere und Futter mussten zu recht hohen Preisen durch einen vom Büro lizensierten Händler bezogen werden. Teilweise brachten die in Nagoya Arbeitenden Grünfutter in Säcken mit herein, das sie sich von Kindern für einen alten Tennisball und ähnliche Tauschobjekte rupfen ließen.

Einzelne Züchter, die zielbewußt vorgingen und die unerlässliche Fachkenntnisse mitbrachten oder sich erwarben, kamen nicht nur auf ihre Kosten, sondern arbeiteten sogar mit nennenswertem Gewinn, ungerechnet den Werten, den die Ablenkung und Anregung der Gedanken, die Beschäftigung als solche für den Kriegsgefangenen darstellt.

Einer der erfolgreichsten Züchter stellt folgende Angaben zur Verfügung:
1919Zahl der
Legehühner
Zahl der
Eier
Eierpreis
(in sen)
Futterkosten
Januar 35 366 5,5 10,00
Februar 43 624 5   7,50
März 42 744 4   8,70
April 41 742 4,5   7,60
Mai 40 682 5 11,89
Juni 40 651 5,5 10,00
Juli 40 568 7,5 10,00
August 42 460 8,5   7,80
September 40 534 6,5 10,00
Oktober 39 375 8,5 10,00
November 36 203 10 10,00
(Dez. 1918) 35 248 5,5   5,00
    5949   108,49  

Einnahmen und Ausgaben für die angegebene Zeit ohne Berücksichtigung des Bilanzwertes der vorhandenen Hühner, der praktisch hier nicht von Bedeutung ist:
EinnahmenYen   438,60
Ausgaben Yen   108,49
Gewinn aus der HühnerzuchtYen   330,11

In einer anderen Zucht erbrachte – unter allerdings sehr günstigen Verhältnissen (großer Auslauf) – ein Huhn vom 1.4. bis 1.12.1919, also in 8 Monaten, 172 Eier, ein anderes, diesjähriger Zucht (März 1919), vom 19.9. bis 13.12.1919, also in 87 Tagen, 79 Eier.
Am Besten bewährte sich im Allgemeinen das hier übliche gelbe Landhuhn; von Rassehühnern nur das schwarze und das weiße Italienerhuhn, von dem die erste Aufstellung gilt.
 

[Bienenzucht]

Anfang 1917 wurde die Beschaffung eines Bienenvolkes erlaubt. Die Beschaulichkeit der Bienenzucht, die stete Abwechslung, die Anregung, die sie bietet, auf Klima und Flora, Witterung, Blütezeit und -dauer wichtiger Honigpflanzen, auf die immer sich erneuernden Wunder des Bienenvolkes zu achten – das alles macht die Bienenzucht so recht zu einer Beschäftigung für die langen Tage der Gefangenschaft. So gewann die Bienenzucht bald weite Verbreitung und mehrere Anhänger. Gegen Schluss gab es 16 Bienenvölker im Lager, die 7 Imkern gehörten. Im Allgemeinen dienten sie hauptsächlich zur Erlernung der praktischen Handgriffe und Kenntnisse, die zu Hause den Beginn einträglicher Bienenzucht ermöglichen sollten ohne weitere Lehrzeit. Die Theorie wurde gefördert durch mehrere Imkerkurse; die Teilnehmerzahl betrug zusammen etwa 60.1

Wie auf so vielen anderen Gebieten während der Dauer der Gefangenschaft erwies sich auch auf dem der Bienenzucht, dass nur Liebe zur Sache, Fachkenntnis und Ausdauer zum Erfolg führen: Wer eine Sache ohne rechte Liebe nur zum "Zeitvertreib" vornahm, erreichte kaum je etwas. Dass die Bienenzucht, wenn rationell betrieben, unter hiesigen Verhältnissen sehr wohl gewinnbringend sein kann, beweisen nachfolgende Zahlen [in Yen] aus der Bilanz eines Bienenzüchters:
  Auslagen Einnahmen
und Vermögen
[Ergebnis]
1. Jahr 1917 96,98   80,25   –16,73
2. Jahr 1918 48,15 115,40   +87,25
3. Jahr 1919 19,83 194,50 +174,67

Dieser Gewinn wurde erzielt bei Zugrundelegung eines Frühjahrswertes von 20,-- Yen pro Volk. Kästen, Bienenhaus, Geräte waren auf Yen 1,00 abgeschrieben. Als Verkaufspreis für Honig konnte Yen 0,50 für das englische Pfund im Lager leicht erzielt werden. – Der Durchschnitts-Honigertrag eines starken, rationell behandelten Volkes war auf dem Stande dieses Züchters 1919 63 Pfund, Höchstertrag 78 Pfund, etwa das Doppelte des in Deutschland Möglichen. Haupthonigpflanzen: Raps (April/Mai) und Sumachbaum (japanisch "hase"; Juni). Vergleiche, die allerdings nicht lange genug durchgeführt werden konnten, um ein einwandfreies Ergebnis zu liefern, scheinen deutlich einen Vorteil der deutschen Gerstungbeute2 mit Hochwaben gegenüber der hier allgemein üblichen amerikanischen Langstrothbeute mit Breitwaben zu beweisen. Hauptgrund: die schnellere Frühjahrsentwicklung, die die Völker stärker in die Rapstracht kommen lässt in der deutschen Ständerbeute.

Im Allgemeinen kann man nach den hier gemachten Beobachtungen sagen, dass die Bienenzucht in diesem Lande außerordentlich verbesserungs- und erweiterungsfähig ist, und dass ein tüchtiger Imker bei richtiger Auswahl der Gegend und unter Ausnutzung vieler Trachten durch Wanderung mit den Bienen mit etwa 200 bis 300 Völkern sehr gut sein Auskommen finden könnte, selbst wenn der derzeitige Honigpreis von 3 bis 3,50 Yen für das Kamme3 wider Erwarten sinken sollte. Auch Königinzucht, Verbesserung der Bienenrasse, Feststellung der geeigneten Beutenform sind hier noch kaum betretene Wege zur rationellen Gestaltung der Bienenzucht.
 

[Pflanzenzucht]

Nach Freigabe unbenutzter Ecken des Lagers zur Bebauung 1917 wurden zunächst meist Blumen gepflanzt und gesät. Nachdem aber einzelne Züchter mit Salat, Bohnen, Radieschen, Eierpflanzen und anderen Gemüsen trotz geringen Bodens nette Erfolge erzielten, wurden 1918 und 1919 fast ausschließlich derartige Nutzpflanzen gezogen. Ein außerhalb des Drahtzaunes gelegenes fiskalisches Grundstück wurde 1918 zur Bebauung ebenfalls freigegeben. Es erhielt den Namen "Klein Hokkaido" und konnte von Liebhabern täglich einige Stunden unter Aufsicht eines Postens bearbeitet werden. Die gezogenen Gemüse, Schoten usw. dienten meist zur Aufbesserung des eigenen Tisches. Einzelne Züchter freilich, die sachverständig für den Verkauf züchteten, hatten besonders für Frühsalat gute Einnahmen. Eine Blumengärtnerei, deren Inhaber auch ein kleines Warmhaus erbauten, hatte keine besonderen Erfolge. Auch der vom Büro angeordnete und beaufsichtigte Anbau von Kartoffeln für die Lagerküche auf einem außerhalb des Lagers gelegenen Grundstück hatte mangels Dünger und richtiger Handhabung keinen besonderen Erfolge und wurde eingestellt, nachdem die zweite Kartoffelsaat infolge unzeitigen Legens erfroren war.

Erwähnenswert ist vielleicht, wie sich im Lager, wenn auch im kleinsten Ausmaß, die Lehren der Bodenreformer4 bestätigten: Zunächst bei Erteilung der Erlaubnis zur Bodennutzung war genügend Land vorhanden und jeder Interessent suchte sich ein ihm passendes Stück aus. Sehr bald aber war die Lagerwelt aufgeteilt; der Boden wurde zum Monopol Weniger, und wer jetzt noch für Laubenbau oder Landwirtschaft ein Stückchen Land erstehen wollte, musste es für teures Geld vom 'Besitzer', der manchmal ganz bewusst spekulativ vorging, kaufen. Preise von 15 und 20 Yen für Übertragung des 'Nutzungsrechtes' einiger Quadratmeter Land waren keine Seltenheit und konnten natürlich nur von "Kapitalisten" gezahlt werden.
 

Anmerkungen

1.  Die Kurse wurden höchstwahrscheinlich Voigtländer selbst durchgeführt, von dem auch einige der folgenden Zahlenbeispiele stammen dürften. Er hat die Bienenzucht auch nach Heimkehr in die Heimat bis zu seinem Tode intensiv betrieben.

2.  "Beute" ist die fachsprachliche Bezeichnung für Bienenwohnung/Bienenstock; Ferdinand Gerstung war einer der bekanntesten deutschen Imker. – Der Redakteur hat darauf verzichtet, die weiteren hier verwendeten bienenzüchterischen Fachbegriffe zu erläutern.

3.  Ein Kamme = 1000 Momme entspricht 3750 Gramm.

4.  Voigtländer bezieht sich hier auf die seit der Jahrhundertwende aufgeblühte Bodenreformbewegung mit Protagonisten wie Adolf Damaschke und Silvio Gesell. Möglicherweise war er auch mit der von Wilhelm Schrameier konzipierten "Tsingtauer Landordnung" vertraut, die manche Forderungen dieser Bewegung umsetzte.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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