Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager allgemein

StartseiteGefangenschaft in JapanLager → Allgemeines → Stacheldrahtkrankheit


Die Stacheldrahtkrankheit: Beitrag zur Psychologie der Kriegsgefangenen

Auszug aus dem "Dresdner Anzeiger" vom 31. August 1918
 

StacheldrahtzaunDer Gefangene Hans Jarling fügte seinen Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft auch einen Zeitungsartikel bei, der er der Tageszeitung "Dresdner Anzeiger", Ausgabe vom 31.08.1918, entnommen hatte. Das erwähnte Buch des Schweizers Arztes Vischer beschäftigte sich mit einem Phänomen, das im Ersten Weltkrieg erstmals angesprochen wurde und seitdem als Krankheitsbild anerkannt ist: der "Stacheldrahtkrankheit". Wie aus dem Artikel hervorgeht, gewann er seine Erkenntnisse vor allem an Gefangenen in Europa, und es ist eine durchaus spannende Frage, inwieweit die Entwicklung in Japan hiermit übereinstimmt – in Teilen sicherlich.

Jarling hat den Artikel mit dem Vermerk "Aonogahara, 1. X. 19" versehen. In seinem überlieferten Typoskript, das der Sammlung Walter Jäckisch (Bochum) entstammt, entspricht der nachstehende Text den Seiten 58–60. Schreibfehler (in Original oder Abschrift) wurden korrigiert, Abkürzungen aufgelöst, die Abbildung1 und Ergänzungen (in [...]) vom Redakteur hinzugesetzt.

Nachdem wir das interessante Büchlein von Dr. A. L. Vischer in Basel: Die Stacheldrahtkrankheit. Beitrag zur Psychologie der Kriegsgefangenen, das im Verlage Rascher & Co., Zürich 1918 [55 Seiten] erschienen ist, gelesen haben, sind wir zur Überzeugung gekommen, dass in den Lagern bedauerliches, ja erschreckend viel seelisches Elend herrscht, das dem flüchtigen Besucher der Lager entgeht. Dr. Vischer war während längerer Zeit in Lagern verschiedener Länder tätig, konnte so mit Hunderten von Gefangenen sich unterhalten und lernte viele von ihnen persönlich kennen. Über seine Eindrücke und Empfindungen berichtet er in der erwähnten Weise. Wir wollen versuchen, über [seine] interessanten Mitteilungen hier einen Begriff zu geben.

Das Lager stellt ein gewaltiges Experiment dar: Eine größere Zahl junger, gesunder Männer wird für unbestimmte Zeit in einen Raum gesperrt. Es fehlt ihnen Gelegenheit zu nützlicher Arbeit, es fehlt das sexuelle Lebensmoment, es fehlt der Kontakt mit der Außenwelt mit seinen manigfachen Anregungen und Widerständen. Den Gefangenen peinigt ein beständiges Wollen und Nichtkönnen. Der Mangel an Einsamkeit wird zur Qual. Er verhindert jede Vertiefung, eine Ruhe in sich selbst, welche im Wechsel der Geselligkeit das Lebensbedürfnis des Menschen ist. Der Gefangene ist nie allein. Wie unsozial die Gefühle sind, die beim Menschen ausgelöst werden, wenn er während Monaten oder Jahren jeden Augenblick mit denselben zusammenleben muss, geht oft in grotesker Weise hervor aus zahlreichen Äußerungen Gefangener in den Lagerzeitungen, wie zum Beispiel folgender:2

"Die lange Zeit des engsten Zusammenlebens brachte es mit sich, dass man schliesslich in die Mitmenschen wie in die aufgeschnittenen Schweineseiten eines Schlächterladens hinein sieht."
"Unser Charakter ist wie ein Buch, in dem jeder lesen kann, und die einzelnen Seiten [sind] schmutzig vom vielen Anfassen."

Dieser eigentliche Ekel vor Mitgefangenen macht sich bei jeder Gelegenheit in Zänkereien und gegenseitigen Beschimpfungen Luft. Besprechungen einfacher Dinge arten in wüsten Wortwechsel aus, der nicht selten in Prügeleien endet. Dabei werden die rohesten, [un]flätigsten Ausdrücke gebraucht, und zwar, was besonders auffällt, von feingebildeten Leuten.

Der Widerwille, den der Gefangene gegen seinen Kameraden empfindet, ist jedoch nur ein Sympton einer tiefgreifenden Störung seines ganzen Seelenlebens. Sein Charakter sinkt umso tiefer, je höher er vorher gewesen. Er wird großmannssüchtig, kleinlich und egoistisch. Während sich im Anfang der Gefangenschaft zum Zwecke der Weiterbildung und der möglichsten Ausnützung der Zeit in den Lagern Vereine bildeten und emsig Vorträge gehalten wurden, nahmen nach einigen Monaten schon diese höheren Interessen bedenklich ab. Auch die früher zahlreich besuchten Gottesdienste werden vernachlässigt. Sogar das Interesse für die Kriegsereignisse flaut ab. Dagegen beschäftigt den Gefangenen der Kleinkram des monotonen Lagerlebens in ganz unverhältnismäßiger Weise.

Sie bauen sich allmählich eine Kleinwelt, einen Mikrokosmos, der für sie alles bedeutet und in dem sie völlig aufgehen. Bezeichnend für die Denkweise des Lagergefangenen ist besonders ein tiefes Misstrauen gegen jedermann, er sieht sich überall und von jedermann ausgenützt, die feindliche Regierung, die Lagerleitung, der eigene Lagerälteste, der Küchenvorsteher, die Gefangenen, welche die Post besorgen – sie alle verschaffen sich Vorteile auf Kosten des Lagers oder – wie die heutige Zeit sagt – sie schieben. Es gibt Lager, in den die Klage über Schiebung alles übertönt.

Die Vorgänge des Geschlechtslebens spielen natürlich eine besondere Rolle. Das Fehlen des Weibes wird anfangs etwas dadurch kompensiert, dass die Gefangenen ihre Behausung mit pikanten Bildchen schmücken und in der Unterhaltung die Weiblichkeit einen grossen Platz einnimmt. Sehr beliebt sind Bälle und dergleichen, bei denen sich die eine Hälfte der Teilnehmer als Damen kostümieren, oft schliessen sich zwei Freunde pärchenweise zusammen. In einzelnen Lagern sollen eigentlich homosexuelle Epidemien vorgekommen sein. Allmählich, im Laufe von Monaten und Jahren, verschwindet aber auch diese Form von Erregung und macht einer Apathie, einer Gleichgültigkeit Platz.

Das geht auch deutlich aus dem Vergleiche der verschiedenen Lagerzeitungen hervor. Das Erotische verschwindet allmählich fast ganz daraus. Bei vielen Gefangenen gesellen sich zu den beschriebenen Charakterschäden eigenartige, neuropathische Störungen. Sie verlieren die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Wenn sie eine Seite gelesen haben, müssen sie infolge Ermüdung das Buch zur Seite legen, zu der geistigen gesellt sich eine große körperliche Ermüdbarkeit. Die Leute verzichten dann allmählich auf jeden Spaziergang. Manche müssen während der Mahlzeiten mehrmals aufstehen, vom Tische gehen und sich dann wieder hinsetzen, weil sie keine Ruhe finden. Sehr häufig wird über Schlaflosigkeit und wilde Träume während des Schlafens geklagt. Allgemein sind die Angaben über Schwinden des Gedächtnisses, und zwar für Personen und Ortsnamen, die mit den Erlebnissen kurz vor Ausbruch des Krieges zusammenhängen. Ein Gefangener berichtete, dass er den Namen seines Schwagers, ein anderer den seines Heimatsortes vergessen habe. Leute, die schwer mitgenommen sind, pflegen oft 3-4 Tage kein Wort zu sprechen und dahinzubrüten. Gefangene, die solche Störungen aufweisen, sind, so lesen wir in der "Neuen Züricher Zeitung", der der Beitrag entnommen ist [hier fehlt Text].

Ob man sie nun als nervös, neurasthenisch oder geistesgestört bezeichnen will, ist Geschmacksache. Jedenfalls sind sie geistig krank. So sprechen die englischen Gefangenen von nervous [?], die Deutschen nennen sie das Stacheldrahtfieber oder den grauen Vogel. Unter Cafard versteht der gefangene Franzose vor allem die Depression. Die Namen Stacheldrahtkrankheit, Barbed wire disease, Psychose du fil de fer sind nach Vischer wahrscheinlich in der Schweiz entstanden. Der Name ist insofern gut gewählt, als zum Entstehen der Krankheit der Stacheldraht notwendig ist. Er umschliesst wie ein Käfig den Gefangenen und gibt damit zu den mannigfachen Unlustgefühlen Anlass.

Es ist interessant, wie verschieden (deutsche und französische) Gefangene in verschiedenen Ländern diesen Gefühlen denselben Ausdruck verleihen. Sie vergleichen sich mit einem Vogel, der aus Gram über die verlorene Krankheit stirbt.
 

Anmerkungen

1.  Diese Karte aus dem Nachlass Mailänder ist weit verbreitet. Nach Seitz (S. 91, 220, 233, 254) wurde sie in Aonogahara, Nagoya, Narashino und Ninoshima gedruckt.

2.  Siehe z.B. die Aufzeichnungen von Bodecker.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
Zuletzt geändert am .