Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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"Erinnerungen eines alten Seebären" [Auszug: Frühjahr 1914 bis Frühjahr 1920]

von Karl von Bodecker
 

Karl von Bodecker hat den größten Teil des für seine Kinder vefassten Berichts im November 1948 abgeschlossen, fast 30 Jahre nach den Ereignissen, die beschrieben werden. Hierdurch werden einige Ungenauigkeiten verständlich, die den Wert dieser Autobiographie aber nicht mindern.

Die hier wiedergegebenen Passagen beziehen sich auf die Seiten 36-68 des Originals, welches von seinem Sohn freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichtkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt, ferner einige Anmerkungen in [ ] oder als Fußnoten.

Übersicht:

  1. Ausreise nach Ostasien
  2. Dienst in Tsingtau
  3. Krieg
  4. Gefangenschaft
  5. Heimkehr nach Deutschland
 

1. Ausreise nach Ostasien

Ich wurde Kommandant des Tiger, ein schönes Schiffchen, das zum Kreuzergeschwader des Grafen Spee in Ostasien gehörte. Nachdem ich noch kurz vor der Ausreise eine sehr nette Hochzeit beim Onkel Kiep in Ballenstedt mitgemacht und Ottenburg für lange Zeit Lebewohl gesagt hatte, trat ich am 23. April 1914 mit dem großen, schönen Hapagdampfer Patricia die Fahrt nach dem fernen Osten an.

In der großen Schleuse von Wilhelmshaven verabschiedete sich der Stationschef von uns, und dann ging es unter den lustigen Klängen von "Muss i denn, muss i denn zum Städtli hinaus" in die weite Welt hinaus. Die Ufer waren dicht besäumt mit unzähligen Männlein und Weiblein, die uns ihre Abschiedsgrüße zuwinkten, denn es waren doch an die 1.500 Mann, die ich als Transportführer dem Kreuzergeschwader zuführte und die alle fröhlich hinauszogen; ach für wie viel Hunderte von ihnen war es ein Abschied für immer, viele liebe Kameraden und brave Seeleute sind nach dem glänzenden Sieg bei Coronel, wo alle englischen Schiffe ohne eigene Verluste vernichtet wurden, bei den Falklandinseln einer erdrückenden Mehrheit zum Opfer gefallen. Das Flaggschiff des Grafen Spee, der mit seiner ganzen Besatzung von fast 1.000 Mann mit seinen beiden Söhnen unterging, die Scharnhorst, die Gneisenau, von der nur wenige gerettet wurden, darunter der I.O., mein Jahrgangsgenosse Pochhammer, ferner die beiden kleinen Kreuzer Dresden und Leipzig. Viele liebe Kameraden sind auch mit der Emden unter ihrem tüchtigen Kommandanten von Müller untergegangen. Sie alle starben draußen fern der Heimat für Kaiser und Reich und im festen Glauben an den Sieg einen ehrenvollen Seemannstod, ja, navigare necesse est, vivere non est necesse, Seefahrt tut not, das Leben spielt dabei keine Rolle.1

Als ich draußen in See endlich zur Ruhe kam, atmete ich erleichtert auf; die letzten Tage und Stunden sind für den armen Transportführer, der ja wieder für das Wohlergehen der ganzen großen Besatzung zu sorgen hat, wirklich nicht leicht; dafür hat er es später aber umso besser, eine schöne Kabine mit eigenem Bad, ein freies sorgloses Leben, eine nette Messe mit etwa 50 Offizieren und last not least: eine märchenhafte Verpflegung an Bord. Ich greife mal einen Tag heraus, wohlgemerkt keinen Sonn- oder Feiertag:

Da diese Mahlzeiten aber immerhin 4 bis 5 Stunden auseinander lagen, und man inzwischen natürlich wieder Hunger hatte – an Bord hat man ja immer Hunger und Durst – gab es zwischendurch noch um 10 Uhr belegte Brötchen mit Limonade, um 4:30 Uhr Tee oder Kaffee mit Kuchen und um 10 Uhr abends wieder belegte Brötchen. Daß nach Schluß der 7-wöchentlichen Reise bei manchen der Rock und die Hose zu eng geworden waren, kann nicht verwundern. Da ich aber immer sehr mäßig lebte, war das bei mir nicht der Fall.

Meine Tageseinteilung war folgende: Um 7 Uhr "rise, rise!" nach den Klängen der Bordkapelle: "Erwacht ihr Schläfer drinnen" oder: "Die Sonn erwacht mit ihrer Pracht" usw. Dann wurde gebadet, auch ein Schwimmbad fehlte nicht. Hinsichtlich der Toilette brauchte man sich keinen Zwang anzutun, wir hatten ja keine Damen an Bord. Vormittags wurde 2 Stunden Dienst gemacht, ebenso nachmittags von 2 bis 4 Uhr. Dann wurde nach dem Kaffee bis zum Abendessen an Deck spazieren gegangen, Shuffleboard oder dergleichen gespielt, und nach dem Essen wurde musiziert, Bridge oder Skat gespielt oder geklönt und Bier oder Whisky und Soda gebaggert. Dann legte man sich beruhigt in die Klappe mit dem Gefühl, wieder einen netten Tag verlebt und leider wieder etwas an Gewicht zugenommen zu haben.

Am 21. April passierten wir die Straße von Gibraltar, begegneten dort dem SS Dampfer2 Cap Trafalgar und wünschten dem an Bord befindlichen Prinzen Heinrich und seiner Gattin, der Prinzessin Irene eine glückliche Heimkehr und erhielten von ihm ein herzliches Danktelegramm.

Am 30. April liefen wir in La Valetta auf Malta ein und machten an einer Boje fest. Hier konnten wir uns endlich mal wieder die Beine vertreten. In dem kleinen Städtchen war nicht viel los, enge winklige Straßen immer steil bergauf, bergab, ein Völkergemisch von Italien, Spanien, Griechenland und Arabien. Sehenswert ist der Hafen mit seinen modernen Anlagen und zahlreichen englischen Kriegsschiffen und das alte Malteser Ritterschloss, in dem jetzt der Gouverneur, General Lislie Rundel wohnt, übrigens ein sehr liebenswürdiger Herr, der mir persönlich das ganze Schloss zeigte, obwohl ich ganz incognito in Civil an Land gegangen war und ihm auch keinen offiziellen Besuch abgestattet hatte. Im Rittersaal waren eine Menge deutscher Adelswappenschilder angebracht; das unsrige habe ich vergeblich gesucht, es waren meistens nur katholische Geschlechter.

In Malta blieb ich nur einen Tag, die Patricia hatte ja Kohlen und Proviant genug für die ganze Reise, und setzte gleich am Abend die Reise fort. Gleich hinter Malta verlor ich leider einen Mann meines Transportes, er war in der Dunkelheit über Bord gefallen. Trotzdem die Nachtrettungsboje rechtzeitig gefallen war und auch brannte, blieb die Suche nach ihm leider erfolglos.3

In Port Said mit seinen vielen Gaunernestern und Spielhöllen hielten wir uns nur einige Stunden auf, ebenso in Suez; dann ging es durch den Kanal weiter ins rote Meer. Die Gegend ist trostlos, wenig Grün, nichts als Sand, Sand, was einen infantristisch begeisterten Jüngling zu dem Ausruf veranlasste: "0, kiek, wat einen schönen Exerzierplatz!" Die Hitze wurde schon etwas lästig, 30 bis 35 Grad im Schatten, in einzelnen Kabinen 40, in der Kombüse 50, Wassertemperatur 30 Grad. Da wir stets achterlichen Wind hatten, es wehte der Südwest-Monsun, regte sich an Bord kein Lüftchen, was die Hitze noch empfindlicher machte. Regen soll es in dieser Gegend alle paar Jahre nur einmal geben. Etwas angenehmer wurde die Fahrt, als wir in den Indischen Ozean einliefen und in den Nordost-Monsun kamen; auch gewöhnt man sich ja an die Hitze sehr schnell.

Am 18. Mai 1914 liefen wir in Colombo auf Ceylon ein, ein hübscher und interessanter Hafen mit viel Schiffsverkehr, die Straßen und Plätze sauber und ordentlich, wunderschöne hohe Bäume in herrlicher Blütenpracht, alles atmet schon den fernen Osten mit seinen Geheimnissen und Wundern. Die deutsche Kolonie ist nicht sehr zahlreich, aber sie steht in hohem Ansehen und ist meist recht begütert. Die Namen des Deutschen Konsul Freudenberg und die Herren Hagenbeck sind weltbekannt.4

Viel zu schnell ging es dann mit der Patricia wieder weiter. Wir durchfuhren die Straße von Singapure und ankerten am 30. Mai in Hongkong. Leider verloren wir auf diesem Seetörn noch einen Mann, er war in einem Fieberanfall über Bord gesprungen. In Hongkong herrschte die Pest. Etwa 20 000 Menschen sollen dieser Seuche bereits erlegen sein. Ich ließ daher niemand von der Besatzung an Land und ging noch am selben Tag wieder in See.

Am 3. Juni 1914 machte die Patricia, von allen Schiffen mit 3 Hurrahs begrüßt, am Quai von Tsingtau fest.
 

2. Dienst in Tsingtau

Was ist doch in diesen 15 Jahren seit der deutschen Besitzergreifung aus dem elenden kleinen chinesischen Fischerdorf für ein herrliches Stückchen Erde geworden! Wenn man von See kommt, könnte man sich in ein modernes, großes deutsches Seebad versetzt glauben. Die Berge bis zu mehr als 1.000 m Höhe, früher alle grau und kahl, waren jetzt bereits dank der hervorragenden Aufforstung durch Oberförster Hass mit dichten, etwa 10 m hohen Kiefern und Fichten bestanden, in denen viele Rehe, Hasen und Fasane, aus Deutschland importiert, den Wald belebten. Das Städtchen, sehr schön und malerisch gelegen, hatte breite Asphaltstraßen, schöne Grünanlagen mit modernen Wohnhäusern. Der hervorragend geschützte, großzügig angelegte Hafen besaß alle zeitgemäßen Werftanlagen, lange Quais mit zahlreichen modernen Lagerschuppen und einem großen Schwimmdock.

Gleich hinter dem Hafen lag ein idealer Badestrand mit einem Badebetrieb wie in einem großen deutschen Badeort, an dem sich schon die Europäer des ganzen fernen Ostens beteiligten. Überall herrschte natürlich peinlichste Ordnung und Sauberkeit, alles atmete Wohlstand und Aufblühen. Wir konnten mit Recht stolz sein auf unsere Leistungen und kolonialen Erfolge, Tsingtau war damals schon einer der hervorragendsten Plätze von Ostasien mit einer noch größeren Aussicht für die Zukunft. Infolge seines reichen Hinterlandes von Schantung, das große Erz- und Kohlelager besaß, waren bereits die Anlagen von Hochöfen geplant, ferner sollte ein großes Trockendock für größte Schiffe gebaut werden.

Nach dem ersten Weltkrieg nahmen uns die Feinde unsere gesamten Kolonien fort mit der Begründung, daß wir nicht kolonisieren könnten und die eingeborene Bevölkerung nur ausnützten; welch eine fadenscheinige Lüge, gerade das Gegenteil war der Fall. Kein anderes Volk, und erst recht nicht die Engländer, konnte es mit uns hinsichtlich Kolonisation aufnehmen. Nein, nur aus Neid und Habsucht hat man uns damals die Kolonien geraubt.5

Dann kamen für mich die vielen offiziellen Besuche und Meldungen. Mein Geschwaderchef, Admiral Graf Spee, sagte mir: "Sie kommen von der Flotte, aber bitte machen Sie aus Ihrem Tiger kein Panzerschiff, sondern Ihre Hauptaufgabe soll sein, eine harmonische Verbindung mit allen Deutschen, vor allen mit den deutschen Kaufleuten aufrecht zu erhalten." Dieser Weisung meines Geschwaderchefs bin ich gern gefolgt, und ich bin mir auch bewußt, daß mir dies in jeder Hinsicht gelungen ist.

Der Gouverneur, Excellenz Meyer-Waldeck, dem ich dienstlich nicht unterstellt war, weil ich ja zum Kreuzergeschwader gehörte, war ein eifriger Bridgespieler und sehr erfreut, in mir einen guten Bridgespieler zu haben. Dann kamen die vielen Einladungen zum Tiffin6, Tee oder Abendessen, es verging nie ein Tag, an dem ich nicht mindestens einmal eingeladen war oder selbst Gäste hatte.

So kam dadurch der Verkehr mit meinem Offizierskorps und den anderen Marineteilen sowie der Sport fast zu kurz, aber ich habe doch meine Vorliebe für den schönen Golfsport in vielen Runden betätigen können, oft auch mit unserem unvergesslichen Geschwaderchef sowie dem Kapitän Maerker, der mit seinem Panzerkreuzer Gneisenau ebenfalls in der Falklandschlacht unterging. Regelmäßig fanden auch bei Besuchen fremder Kriegsschiffe, besonders englischer, Wettspiele statt, bei denen wir immer gut abschnitten, nur beim Fußball waren uns die Engländer meist überlegen.

In Tsingtau hatte es eigentlich jeder gut, gleichgültig, ob Offizier oder Matrose, Beamter oder Kaufmann, jeder fühlte sich wohl und kam schnell vorwärts. Geld spielte keine große Rolle, jeder hatte genug; es war ja alles so lächerlich billig. Jeder Offizier, auch ein junger unverheirateter Leutnant, hatte sein eigenes Heim mit mindestens 4 Zimmern und als Bedienung: den Hauptboy, der etwa unserem Hausmädchen entsprach, einen Koch und den Nafu, der für seine Pferde sorgte, denn jeder Leutnant hielt sich Pferd und Wagen, meistens auch noch ein Reit- und Polopferd. Jeder Boy, Nafu oder Koch hielt sich meistens sogar noch einen Gehilfen.

Die Chinesen sind ausgezeichnete Diener und Köche, sauber, fleißig, meist auch ehrlich und sehr anspruchslos. Wir hatten an Bord zu unserer Bedienung nur deutsches Personal, außer dem chinesischen Koch und Steward, dies allein schon der Einkäufe wegen, denn ein Europäer hätte auf den chinesischen Märkten, auf die man ja angewiesen war, mindestens immer das Doppelte bezahlt. Ich war bei meinem Chinesenkoch, der übrigens hervorragend kochte, gewissermaßen in Pension; er mußte mir liefern: zum Frühstück außer den üblichen Getränken, Brötchen, Butter und Marmelade, Eier und Aufschnitt! zum Mittagessen Suppe, einen Hauptgang und Nachtisch, dasselbe zum Abendessen. Dafür erhielt er pro Tag einen Mexikanischen Dollar, der damals etwa auf 1,80 Mark stand. Hiervon konnte er mit seiner Familie leben und sich noch einen Hilfskoch halten.

Im Mai 1914 atmete noch alles Frieden. Obwohl die Reibungsflächen zwischen den einzelnen Nationen sich verschärften, dachte noch keiner an einen nahen Krieg, auch nicht die Engländer an Bord des Flaggschiffes des englischen Kreuzergeschwaders, HMS Minotaur, der kurz nach Übernahme meines Kommandos auf Tiger am 12. Juni zu einem Freundschaftsbesuch in Tsingtau eingelaufen war; der Geschwaderchef, Viceadmiral Jerren, und seine Offiziere waren alles liebenswürdige, vornehme Leute. Wir waren dauernd mit ihnen zusammen und verkehrten kameradschaftlich mit ihnen, wie mit unseren eigenen Kameraden. Die Engländer waren ja auch das Volk, das uns innerlich und äußerlich, auch in Bezug auf Sitten und Gebräuche, Lebensanschauung und Lebensführung, Familie, Ehrbegriffe, von allen Völkern am nächsten stand.

Leider hat sich dieses gute Verhältnis später, besonders infolge der beiden Weltkriege, grundlegend verändert, aber damals waren wir in der Familie, beim Sport der Offiziere und Mannschaften, beim Fußball, Tennis oder Golf, bei den Tanzfestlichkeiten und Festessen ein Herz und eine Seele. Am 16. Mai verließ uns HMS Minotaur unter vielem Winkewinke und Abschiedsgrüßen. Weder der deutsche noch der englische Admiral ahnten damals, daß in wenigen Monaten statt der herzlichen und auch ehrlich gemeinten Abschiedsgrüße die Kanonen ihre ernstere Sprache sprechen würden.

Nach dem Auslaufen der Engländer kam der Dienst wieder zu seinem Recht; wir gingen häufig zu Schießübungen in See, aber abends saßen wir meistens in den gemütlichen Räumen des Offizierskasinos oder bei Dachsel7 zusammen, wo es ein so wunderbares deutsches Bier gab, und die Rikscha brachte uns dann am späten Abend im flotten Trab wieder an Bord.

Am 22. Juni feierten wir auf der Scharnhorst den Geburtstag unseres verehrten Flottenchefs, alle Kommandanten waren vollzählig anwesend, natürlich auch der Gouverneur und die Spitzen der Behörden. Es sollte das letzte Mal sein, daß wir mit unserem Grafen Spee zusammen sein konnten.

Am Tage darauf lief ich mit meinem Tiger zu meiner ersten größeren Fahrt aus, sie sollte uns zuerst nach Tientsin führen. Das Reiseprogramm der 4 Kanonenboote regelte sich, im Gegensatz zu dem der Kreuzer, die meist zusammen blieben, nach folgender Einteilung: Die ostasiatische Station war in 4 Bezirke eingeteilt, Nordchina und Korea, Mittelchina und Japan, Südchina und der Jangtse, Südchina und Niederländisch Indien, Siam und die Südsee, so daß jedes Kanonenboot ein Vierteljahr auf jeder Station verblieb.

Für diese Zeit durfte der Kommandant die Häfen, die er anlaufen wollte, selbst bestimmen. Dies Reiseprogramm reichte er dem Geschwader ein, das fast stets genehmigt wurde, außer wenn einige Sonderaufgaben zu erledigen waren. Es war natürlich, daß sich die Kommandanten die Häfen aussuchten, die sie am meisten interessierten. Tiger lief also mit einem "Badegast", dem Kapitänleutnant Dümmler, Kommandeur der Iltisbatterie, nach dem Norden. Da ich außer meiner Schlafkabine neben der Kajüte noch eine zweite Schlafkabine auf der Kommandobrücke hatte, konnte ich jederzeit einen Badegast mitnehmen.

Bei starkem Nebel, dem Hauptfeind der Seefahrt, verholte sich der Tiger um die Nordost-Ecke der Schantung-Halbinsel nach der Taku-Reede und dampfte dann den mächtigen Peiho aufwärts bis Tientsin, wo wir vom Deutschen Ostasiatischen Detachement mit 3 Hurrahs empfangen wurden. Mit unseren dortigen Armeekameraden verlebten wir natürlich sehr schöne Tage, das Beste und Interessanteste aber war ein dreitägiger Aufenthalt in Peking.

Diese Riesenstadt ist eine Welt für sich, so ganz anders, als man es sonst von einer Großstadt gewohnt ist. Schon wenn der Zug die mächtigen dicken Stadtmauern passiert, ist alles geheimnisvoll, ja unheimlich, noch mehr natürlich das Leben und Treiben in den meist engen und schmutzigen Straßen der Metropole. Da drängt und schiebt sich alles bunt durcheinander, Autos, Wagen, 2-rädrige hohe Lastkarren, Pferde, Esel, Ochsengespanne, Kamele, Menschen, Hunde, alles schreit, hupt und lärmt und die Luft ist dumpf und stickig. Natürlich gibt es auch schöne, breite Straßen, besonders in den Gesandtschaftsvierteln, und viele Parkanlagen mit herrlichen Tempelbauten, z. B. den Lama- und Confuciustempel, vor allem aber den schönsten, den wunderbaren Himmelstempel, ganz aus weißem Marmor und lebhaften Blau, welch himmlische Ruhe und Schönheit strahlt aus diesem Wunderwerk übermenschlicher Baukunst!

Ganz europäisch sind natürlich, wie überall, die eleganten großen Hotels, wo die Globetrotter der ganzen Welt sich ein Stelldichein geben. Mit das Sehenswerteste von Peking ist wohl der Sommerpalast, den man in 2 Stunden mit dem Auto erreichen kann, wundervoll gelegen, in herrlichen weiten Parkanlagen mit seinen vielen schönen Schlössern, Tempeln, Lotosteichen, Brücken und sonstigen Sehenswürdigkeiten; alles sehr gut erhalten und gehalten, im Gegensatz zu dem alten Sommerpalast, den die Engländer mit der ihnen eigenen Geschicklichkeit und Routine so gründlich zerstört haben, daß kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist.

In Peking traf ich auch viele Bekannte und verlebte in den Gesandschaftskreisen und bei den deutschen Armeekameraden viele schöne Stunden. Man kann natürlich in Peking auch wunderschöne Sachen einkaufen, alles ist dort reichlich vorhanden und verhältnismäßig noch billig, z.B. Brokate, Spitzen, Seide, Silber, Pelze, ein guter Polar- oder Blaufuchs kostete damals etwa 15 Mark.

Zu früh mußte ich dann aber wieder nach Tientsin zurück, um mich um meinen Tiger zu bekümmern. Am 2. Juli ging es dann wieder den Peiho hinab in See, 2 Tage später ankerte ich dann vor Tschifu, wo das amerikanische Geschwader, der österreichische Kreuzer Kaiserin Elisabeth und mehrere andere Kriegsschiffe zu Anker lagen. Auch ein chinesischer Kreuzer lag auf Reede, dessen Kommandant und Offiziere im Gegensatz zu den meisten anderen chinesischen Kriegsschiffen einen guten Eindruck machten. Auf der Rückreise nach Tsingtau stattete ich noch dem Iltisfriedhof einen kurzen Besuch ab, alle Gräber unserer Iltishelden waren gut gehalten.8

Nach kurzem Aufenthalt in Tsingtau lief ich dann zur Fahrt nach Shanghai aus und [zu] einem längeren Aufenthalt in Hankau, aber bereits am nächsten Tage rief mich ein Befehl des Kreuzergeschwaders wieder nach Tsingtau zurück;9 die ersten Wetterwolken am politischen Horizont nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares tauchten auf.

Die nächsten Wochen verliefen wohl äußerlich noch ganz friedlich, aber es zogen doch schon kleinere oder größere Gewitterwolken auf, bis sich am 1. August das große Unwetter des nahenden Weltkrieges entlud.
 

3. Krieg

Für Tsingtau bedeutete dieser Krieg natürlich von vornherein eine aussichtslose Sache, wenn Japan gegen uns antrat, was kaum zu bezweifeln war. Aber die Stimmung war trotzdem durchaus nicht verzweifelnd, jedenfalls wollte die kleine Schar von Kämpfern ihr Leben so teuer wie möglich verteidigen, bis zur letzten Granate durchhalten und dann ehrenvoll untergehen. Dafür setzte sich auch der Gouverneur in einem Telegramm an den Kaiser ein: "Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten." Worauf der Kaiser antwortete: "Gott mit Euch in dem bevorstehenden Kampfe. Gedenke Eurer. Wilhelm."

Frauen und Kinder wurden aus der Festung nach Tientsin oder Shanghai befördert und Tsingtau selbst, so gut es ging, gefechtsbereit gemacht. Tiger stellte unter meinem Kommando den Jaguar in Dienst, der durch Einbau zweier 8,8-cm-Geschütze sowie Anbringen von Splitterschutz usw. gefechtsbereit gemacht wurde.10 Der achtere Mast wurde entfernt, damit seine Takelage nicht die Schrauben unklar machen konnte, wenn er in einem Gefecht abgeschossen werden sollte.

Großen Gefechtswert hatten die Kanonenboote natürlich nicht, aber Jaguar hat den Japanern im Laufe der Belagerung doch schwer zu schaffen gemacht und ihnen überraschend hohe Verluste beigebracht. Scheinbar hatten sie mit der Anwesenheit des Jaguar gar nicht gerechnet, denn in der ersten Zeit marschierten sie am hellen Tage in geschlossenen Abteilungen auf offenen Straßen, die Jaguar auf besten Schussentfernungen bequem unter Feuer nehmen konnte. Dementsprechend waren auch ihre Verluste sehr schwer.

Ich hatte kurz vor dem Eintreffen der Japaner mit meinem Artillerieoffizier mir die Stellungen angesehen, die Jaguar unter Feuer nehmen sollte. Hierbei lief mir ein Chinesenkuli, der wie üblich in einer Reihe hinter dem Leithammel im Halbschlaf einhertrottete, direkt in mein Auto, das mit 70 km fuhr. Trotz der sehr schweren Verwundung – er hatte ein faustgroßes Loch im Schädel und das Gehirn lag völlig bloß – und trotz Abratens meiner Offiziere – es handelte sich ja um einen Chinesen, dessen Leben dort im allgemeinen sehr niedrig bewertet wird – lud ich also in meinem guten Herzen den Chinesen ins Auto und es gelang mir, den armen Mann nach einigen vergeblichen Bemühungen in einem chinesischen Krankenhaus unterzubringen. Nach 3 Wochen traf ich den Chefarzt wieder und sagte: "Na, mein Chinese ist wohl damals gleich gestorben?, worauf er mir versicherte: "Ihr Chinese ist längst bereits wieder als geheilt entlassen."

Wider Erwarten ließen uns die Japaner mehr Zeit für unsere militärischen Gefechtsvorbereitungen, als wir angenommen hatten, und die Frage war überhaupt offen, ob sie nun die Festung angreifen würden oder nicht. Der deutsche Botschafter, Graf Rex, telegraphierte sogar mehrmals, Japan würde Tsingtau nicht angreifen, während der deutsche Marineattache, Kapitän von Knorr, aus positiven Vorbereitungen der Japaner den richtigen Schluß zog, nämlich, daß sie doch Tsingtau angreifen würden. Dann kam von der Botschaft plötzlich das Telegramm: Landung der Japaner ist stündlich zu erwarten. Auch das war falsch, denn die Japaner hatten ihre Truppen ja noch gar nicht eingeschifft.

Aber schließlich war es doch soweit, und die Japaner schickten ein Ultimatum. Wir sollten Tsingtau sofort räumen. Dies Ultimatum wurde von uns gar nicht beantwortet. Dann erfolgte die Kriegserklärung. Noch vor Ausbruch der Feindseligkeiten ging Jaguar auf Vorpostenstellung. Ich war allein auf weiter Flur, die anderen Schiffe hatten Tsingtau verlassen, um Kreuzerkrieg zu führen, als letztes die Emden, die bald darauf mit ihrer ersten Beute, dem russischen Hilfskreuzer11 Rjäsan nach Tsingtau zurückkehrte, der nun von uns als Hilfskreuzer ausgerüstet wurde.

Außer dem Jaguar blieb nur noch das Torpedoboot S 90 unter dem Kommando von Kapitänleutnant Brunner zurück. Später hatte sich noch der österreichische Kreuzer Kaiserin Elisabeth unter den Schutz der Festung gestellt; allerdings war es nur ein sehr schwacher Schutz, denn außer den 4 modernen Haubitzen der Bismarckbatterie war alles nur altes Gerümpel, zum Teil noch von den Takuforts erbeutet.

Eine Beschreibung der Belagerung von Tsingtau kann ich übergehen, sie würde zu weit führen und gehört auch bereits der Geschichte an; nur ein paar kleine Episoden möchte ich hier noch anfügen.

Als die ersten Granaten über unsere Köpfe hinwegpfiffen, machten ihnen alle auf der Kommandobrücke unwillkürlich eine höfliche Verbeugung, man hatte das Gefühl, daß die Granaten, die man ja deutlich ankommen hörte, dicht über unsere Köpfe hinwegsausten, und daß man ihnen durch eine Verbeugung ausweichen könnte. Das sah so spaßig aus, daß alles laut auflachte. Wir mußten, so lange es hell war, dauernd in Bewegung sein; ein Ankern oder längeres Stoppen war nicht möglich, die vielen Landbatterien und draußen die großen Schiffe hätten uns sofort erledigt. So war es für mich eine aufregende und anstrengende Zeit.

Als ich einmal in einer dunklen, stürmischen Regennacht doch geankert hatte, um der Mannschaft etwas Ruhe zu verschaffen, erwachte ich durch laute Hilferufe. Im Schlafanzug eilte ich an Deck und sah einen Mann mit den Wellen ringen. Wie sich später herausstellte, war der Posten an der Rettungsboje in der Dunkelheit gegen einen Augbolzen gestoßen und dabei über Bord gefallen.12

Ich warf ihm eine Boje zu, die er aber nicht bekommen konnte. In seinem schweren Päckchen, dazu noch umgeschnallt und in Seestiefeln konnte er bei der schweren See natürlich nicht schwimmen, so sprang ich ihm denn nach einem kurzen Stoßgebet nach, und es gelang mir auch wirklich, aber unter großen Anstrengungen, dem Mann die Rettungsboje zu bringen. An Bord herrschte natürlich große Aufregung, aber helfen konnte man uns auch nicht, da wir kein Boot mehr an Bord hatten. Man schoß Raketen und beleuchtete uns mit Scheinwerfern. Inzwischen war mein Bursche, mein guter Jürgen Bösch, der mich schon von der Schlesien hierher begleitet hatte, ebenfalls über Bord gesprungen, nun waren wir also zu dritt im brodelnden Wasser. Zum Glück hatte die Kaiserin Elisabeth, die etwa 2.000 m von uns zu Anker lag, noch ein Dampfboot, das sie uns schickte und das zunächst Jürgen Bösch und dann auch uns fand. Selten hat mir ein Cognac so gut geschmeckt wie der, den ich hinterher an Bord herunterkippte. Der Lohn der guten Tat kam mir außer dem Cognac noch in der späteren Verleihung der Rettungsmedaille am Bande zu statten, auf die ja jeder Beliehene besonders stolz ist.

Leider hatte aber das lange kalte Bad für mich noch recht üble und schmerzliche Folgen. Durch das viele ungesunde Wasserschlucken infolge der überkommenden Seen bekam ich nach etwa 8 Tagen eine Amöbenruhr und klappte auf der Kommandobrücke mit hohem Fieber und Schüttelfrost um. Als ich in die Koje gepackt wurde, wollte unser Schiffsarzt, der brave Dr. Haltermann, eine feuchte Packung machen, er meinte, ich hätte eine Lungenentzündung. In diesem Augenblick streikte mein Herz und setzte aus, ein scheußliches Gefühl, als ob es stark zusammengepresst würde. Aber nach einer Kampfereinspritzung und einigen Glas Sekt fing der Motor wieder an zu laufen, allerdings immer nur pullweise, und ich war überzeugt, daß nun mein letztes Stündlein geschlagen hätte, und als der gute Doktor mir noch ein Glas Sekt eingeben wollte, sagte ich, nein, nun ist es genug, betrunken möchte ich nicht da oben ankommen und gab ihm noch einige Aufträge, die er meinen Eltern ausrichten sollte.

Ich kann nicht sagen, daß mir der Gedanke, nun sterben zu müssen, sehr schwer geworden ist. Ich bin aber doch eine zähe Natur. Die Nacht war zwar noch recht schlecht und das Herz arbeitete immer noch nicht richtig, aber am nächsten Tage wurde es besser, und in einer Schießpause der japanischen Batterien konnte ich ausgeschifft werden. Traurig mußte ich meinen braven Jaguar und seine tapfere Besatzung im Stich lassen, aber ich war ja selbst ein Wrack. Während der Uberfahrt an Land mußte ich noch mit ansehen, wie die Japaner meinen wehrlosen "Tiger" kaputt schossen.13

Im Landlazarett wurde nach einigen Tagen - Tsingtau war inzwischen gefallen - ein schwerer Abzess im Dickdarm festgestellt, als Folge einer Amöbenruhr. Die Operation wurde von Dr. Bird, dem besten Chirurgen von Ostasien, glänzend ausgeführt, und als ich aus meiner Narkose erwachte, war das Fieber verschwunden und ich fühlte mich wie neugeboren. Ich konnte wieder an den Tagesereignissen Anteil nehmen.

Vom Fall der Festung und den letzten blutigen Kämpfen habe ich so gut wie nichts gemerkt; ich lag ja dauernd unter hohem Fieber und war völlig apathisch; nur empfand ich die plötzliche Stille und daß keine Granaten mehr in den Bereich des Lazaretts einschlugen, diese Ruhe, die gleich nach Hissung der weißen Fahne eintrat, als sehr wohltuend. Ich muß aber feststellen, daß die Japaner stets ritterlich und nach den Regeln des Völkerrechts gekämpft haben, bisweilen gingen sie sogar darüber hinaus. Wenn sie z. B. im Vorgelände auf eine deutsche Patrouille stießen, mußten sie erst dreimal: "bitte ergeben" rufen, wenn sie das erst glücklich heraus hatten, war die Patrouille schon längst über alle Berge.14

Sie gingen in ihrem Kampf genau nach unserem Geheimbuch: "Kampf gegen Seebefestigungen", das sie natürlich schon längst besaßen - sie sind ja als vorzügliche Spione bekannt -, und man konnte aus ihrem Vorgehen genau verfolgen, auf welcher Seite unseres Geheimbuches sie angekommen waren. Die Gefechtskraft unserer Festung haben die Japaner aber gewaltig überschätzt, sie hätten Tsingtau nach ihrer Einschließung gleich im Sturm nehmen können. Ihre Verluste wären dann erheblich geringer gewesen; im Vergleich zu unseren Verlusten waren sie sehr hoch. Vor allem hatten die häufigen Beschießungen von Tsingtau durch die feindlichen Schiffe nur eine sehr geringe Wirkung; die meisten der schweren Granaten bis zu 38 [28!?] cm krepierten gar nicht. Von Bord aus sahen diese Beschießungen sehr gefährlich aus, aber unsere Batterien feuerten hinterher immer lustig weiter, sie wurden zum größten Teil erst in der Sturmnacht nach verbrauchter Munition von uns selbst gesprengt.

Unsere außer Dienst gestellten Schiffe wurden von uns kurz vor Fall der Festung in tiefem Wasser versenkt, es waren dies: Iltis, Luchs, Taku, Cormoran und der Minenleger Lauting, während Tiger und Jaguar von uns erst in der Sturmnacht gesprengt wurden.15

Bei den Übergabeverhandlungen war zwischen Deutschen und Japanern – die Engländer waren dabei ausgeschaltet worden – vereinbart worden, daß bei dem offiziellen Einmarsch der japanischen und englischen Truppen eine deutsche und eine japanische Ehrenkompagnie die üblichen Ehrenbezeugungen erweisen sollte. Alles verlief auch programmäßig, als aber nach den Japanern die Engländer einzogen, brach die Menge, natürlich zum größten Teil Deutsche, in stürmische Pfuirufe aus, worüber die Japaner grinsten, während die Engländer vor Wut kochten.
 

4. Gefangenschaft

Während die Mannschaften in Japan interniert werden sollten, sollten die Offiziere ihre Waffen behalten, und sie sollten in Japan ihren Aufenthalt frei wählen können.16 Auf Betreiben der Engländer wurde dies jedoch verboten und auch wir kamen in Kriegsgefangenschaft.

Die deutschen Kriegsgefangenen haben von den Japanern die folgende Instruktion für die Kriegsgefangenen mitbekommen, deren Abfassung ihnen bestimmt viel Kopfzerbrechen gemacht hat.17

I) Aviso - Hauptquartier den 30. Oktober 1914
An verehrten Herrn Offizieren und Mannschaften in Festung!
Es dürfte dem Gottes-Wille wie der Menschlichkeit entgegenwirkend sein, wenn man die noch nicht ausgenützten Waffen, Kriegsschiffe und sonstigen Baulichkeiten, ohne taktischen Anspruch zu haben, zu Grunde richten würde, und zwar bloß aus der eifersüchtigen Absicht darauf, daß sie in die Hände des Gegners fallen werden.
Obwohl wir bei Herren, die Rittertumsehre schätzen, den Offizieren und Mannschaften, es gewiss nicht glauben können, so eine Gedankenlosigkeit keineswegs zu verwirklichen, erlauben wir uns jedoch die oben Erwähnten als unsere Meinung zum Ausdruck zu bringen.
Belagerungsarmeekommando

II) Instruktion für die Kriegsgefangenen.
1. Die Kriegsgefangenen werden von der Kaiserl. Japanischen Gerechtigkeit achtenden Truppen humanisch ihrem Stande und Range gemäß behandelt. Sie werden ohne Weiteres nie beleidigt und mißhandelt, infolgedessen muß jeder ganz beruhigt im allen willfähig sein.
2. Die Kriegsgefangenen müssen auf die Fragen nach dem Namen und Stande treu und ehrlich antworten.
3. Wenn die Kriegsgefangenen ungehorsam sind, werden sie eingesperrt, verhaftet, oder disziplinarisch bestraft. Falls sie Fluchtversuche machen wollen, tun sie es unter Lebensgefahr, da die japanischen Truppen sie mit Waffengewalt bekämpfen müssen.
4. Verbrechen der Kriegsgefangenen werden beim Kaiserl. Japanischen Kriegsgericht untersucht und beurteilt.
5. Die Waffen, Munition und Pferde, amtliche Schriften und andere Sachen zum Kriegsgebrauch, welche die Gefangenen bei sich tragen, werden in Beschlag genommen. Wer sich aber im Offiziersrang befindet, kann gelegentlich die Säbel und andere Waffen, bei Feuerwaffen die Munition entnommen, tragen.
6. Die Privatsachen der Kriegsgefangenen bleiben immer in ihrem Besitz, aber diese können entweder absichtlich von den japanischen Truppen aufbewahrt oder bequemlichkeitshalber von dem Besitzer bei sich getragen werden.
7. Die Kriegsgefangenen werden in den nächsten Tagen nach Japan zum Gefangenenheim befördert, welches für die Aufrechterhaltung ihrer Ehre und ihrer Gesundheit gut genug errichtet ist.
8. Den Gefangenen wird das Einkaufen jeder Geschmackssache und die briefliche Verkehrung unter Aufsicht der Offiziere gestattet.
9. Nach dem Friedensschluß zwischen Japan und Deutschland werden alle Gefangenen nach ihrem eigenen Lande zurückgesandt.
10. Nach dem Eintreffen in das Gefangenenheim muß jeder alle Vorschriften in demselben befolgen.

III) Erste Begrüßungsrede des Lagerkommandanten.
Personen: Oberstleutnant, Hauptmann, Oberleutnant und Dolmetscher.
Der Oberstleutnant spricht japanisch, der Dolmetscher übersetzt und macht immer sehr lange Pausen, während dessen der Oberstleutnant immer erregt aufstampft:
"Ich grüße zu Ihnen. Wir haben die Ehre gehabt, mit Ihnen auf dem Schlachtfeld die Waffen zu kreuzen. - Wir haben Mitleid mit Sie. - Jedoch wir haben verschiedene Sitten und Gewohnheiten. Soweit das Gesetz es erlaubt, geben wir Ihnen Glück und Bequemlichkeit. Es ist nicht erlaubt, daß wir außer unserem Gesetz Sie behandeln. Allmählich werden wir fertig. - Deshalb haben Sie Rücksicht. - Verhaltungsmaßregeln müssen wir streng beobachten. Deshalb hoffen wir, daß Sie nicht werden zuwiderhandeln und sich in unvorhergesehenes Unglück stürzen. - Es ist verboten, ohne Oberkörper herumzulaufen. (Gemeint war, mit entblößtem Oberkörper.) - Alle Ihre Wünsche empfangen wir und entscheiden darüber. Schlagen Sie Ihre Wünsche vor, so groß sie auch sein."
Oberstleutnant auf Deutsch: "Das ist alles."

Ich selbst mußte natürlich bis zu meiner Heilung noch in Tsingtau verbleiben mit den anderen Verwundeten und Kranken. Als nach etwa 14 Tagen die deutschen Ärzte durch japanische abgelöst wurden, war ich bereits außer Lebensgefahr, dann begann aber für mich erst die eigentliche Leidenszeit.

Der erste mich behandelnde japanische Armeearzt war meistens betrunken; den Verbandswechsel besorgte dann mein Bursche, der aber in Bezug auf Wundbehandlung ein gänzlicher Laie war. Jedenfalls hatte sich die Wunde, als das Japanische Rote Kreuz die Lazarettbehandlung übernahm, wieder erheblich verschlechtert und eiterte stark. Die Behandlung durch die Ärzte des Roten Kreuzes war dagegen besser, und der Wille, uns bald wieder gesund zu machen, war vorhanden und anzuerkennen; das Können war aber nach europäischem Maßstab gemessen ziemlich gering, auch die sanitären Einrichtungen und Verhältnisse waren im allgemeinen schlecht. Dagegen möchte ich die hervorragende Pflege durch die japanischen Schwestern besonders lobend hervorheben, es waren wirklich nette, stets hilfsbereite Geschöpfe, und als wir Tsingtau verließen, haben sie manche Träne vergossen. Sie waren dankbar dafür, daß wir sie immer freundlich und mit Achtung behandelten; das waren sie von ihren Japanern nicht gewöhnt, die sahen in ihnen, so wie auch in ihren Frauen, nicht die Gefährtin, sondern die Dienerin.

Mein Gesundheitszustand hatte sich bedeutend gebessert. Auch die Nerven hatten sich wieder beruhigt, aber die Wunden waren noch ziemlich tief. Trotzdem wurde ich dem Hauptverwundetentransport, der am 21. Januar 1915 Tsingtau verließ, angeschlossen und habe die Fahrt auf dem Lazarettschiff auch gut überstanden.

Am 25.1. kamen wir in Moji an und dampften am Tage darauf durch die wunderschöne Binnenlandsee weiter. Nach einem kurzen Aufenthalt in Ujita legten wir am 27.1., Kaisers Geburtstag, in Kobe an und bald darauf in Osaka, unserem Reiseziel. Hier wurden wir ausgeschifft, während die Gesunden ins Lager kamen.

Das große Militärlazarett in Osaka machte im allgemeinen einen guten und sauberen Eindruck. Es wurde von einem Oberstabsarzt geleitet, der einige Jahre in Deutschland studiert hatte und daher gut deutsch sprach.

An meinem Geburtstage eröffnete mir der mich behandelnde Arzt, daß sich wieder eine Fistel gebildet hätte, die eine neue Operation erforderlich mache. Diese wurde unter Lokalanästhesie gemacht und war ganz erträglich, sogar ganz interessant, weil alle Marterinstrumente auf meinem Bauche ausgebreitet lagen, Messer, Scheren, Sonden usw. und ich alles mitansehen konnte. Die Operation dauerte auch nicht zu lange. Eklig war an den nächsten Tagen immer der Verbandswechsel, aber ich war ja bereits Kummer gewöhnt. Endlich war die Wunde zu, und am 14.3. teilte mir der Oberstabsarzt mit, daß ich am nächsten Tage ins Lager könnte, worüber ich natürlich heilfroh war, denn auf die Dauer ist doch eine so lange Lazarettbehandlung reichlich öde. Auch war es zum Schluß oft auch am Tage empfindlich kalt, denn am 10.3. fängt in Japan der Frühling an, an diesem Tage müssen alle Öfen abgegeben werden, aber leider richtet sich Petrus nicht nach dem japanischen Kalender, sondern nach seinem eigenen.

Kurz vor meiner Übersiedlung ins Lager hatten wir noch ein ziemlich heftiges Erdbeben, alles dröhnte, klirrte und wankte; aber in Japan ist man ja daran gewöhnt, Erdstöße kann man sehr häufig spüren.

Im Gefangenenlager fühlte ich mich erheblich wohler, allein schon aus dem Gefühl heraus, wieder ohne Binden und Bandagen herumlaufen zu können. Meine Kameraden waren ja schon einige Monate im Lager; sie hatten sich schon einigermaßen eingelebt und konnten manches Interessante berichten.

Bei ihrer Ankunft hatte ihnen der japanische Lagerkommandant, ein Oberst, eine Begrüßungsansprache gehalten [siehe oben], die der Dolmetscher mit vielem Stottern und langen Pausen, in denen der Oberst immer nervös aufstampfte, in ein sehr mangelhaftes Deutsch übersetzte.

Eine Eigentümlichkeit der Japaner ist die, daß sie kein R aussprechen können und dafür L sagen. Bei den Chinesen ist es gerade umgekehrt. Mich fragte z.B. der Stabsarzt: Wie gefällt Ihnen hier das "Krima"? Ich fragte: Krima, was ist das? Darauf schrieb er mir richtig "Klima" auf. Aber Hauptmann Ujeda, den ich gefragt hatte, ob ich mein Zimmer tapezieren lassen dürfte, schickte mir einen Zettel: Bitte tapezieren Sie luhig Ihres Zimmers.

In Osaka waren 28 Offiziere, 300 Mann und 140 Zivilgefangene untergebracht. Auch die recht verwöhnten Firmenchefs von Tsingtau waren im Lager. Sie waren genau so primitiv in den alten Baracken untergebracht, in denen schon die Russen im Russisch-Japanischen Krieg gehaust hatten, wie unsere Mannschaften und wurden auch genau so behandelt.

Wir Offiziere hatten alle einen eigenen kleinen Raum für sich, den wir mit eigenen Mitteln sehr nett und wohnlich einrichten konnten. Wir hatten ja alle Arten von Handwerkern im Lager und mit den einfachsten Mitteln ließen sich die schönsten Möbel, sogar Diplomatenschreibtische herstellen.

Vor jeder Bude hatte fast jeder von uns sich ein kleines hübsches Gärtchen angelegt mit den schönsten Blumen und Sträuchern, die es ja in Japan so reichlich gibt. Über die Wege spannten sich überall die herrlichen bunten, wohlriechenden Winden; wer unser Lager ein halbes Jahr nach unserer Ankunft gesehen hätte, würde es fast nicht wiedererkannt haben. Zur Zeit der Kirschblüte oder der Azaleen ist Japan nach meinem Geschmack das schönste Land der Erde. Wirklich ein Paradies, und man kann es verstehen, daß die früheren Bewohner ängstlich bemüht waren, ihr Land allen Fremden zu verbieten.

Das japanische Klima ist sehr angenehm, im Sommer subtropisch, im Winter aber recht kalt mit Schnee und Eis und Temperaturen bis zu 10 Grad, im Norden ist es aber sehr viel kälter. Fast alle Gefangenenlager, etwa ein Dutzend, waren in der Nähe der Inlandsee untergebracht, diese Gegend ist landschaftlich besonders reizvoll und klimatisch sehr angenehm und gesund.

Die Verpflegung war in jeder Hinsicht gut. Die Japaner lieferten uns das Fleisch, Geflügel, Fische, Gemüse und alles andere, und unsere Köche und Bäcker bereiteten daraus ein vorzügliches Essen, das sich mit jeder guten Küche in der Heimat messen konn te. Auch das Gebäck, die Torten und Kuchen waren erstklassig. Alle Getränke gab es reichlich, für viele sogar zu reichlich, vom besten französischen Cognac und Sekt zu 5 Mark die Flasche angefangen, bis zum vortrefflichen japanischen Bier und Reisschnaps, Saki genannt. Geld hatten wir auch genug, die Japaner gaben uns dasselbe Gehalt wie ihren Offizieren und Mannschaften, es war nicht hoch, aber alles war ja so billig. Ein verheirateter japanischer Leutnant erhielt etwa 60 Mark, aber er konnte davon ganz gut leben, sogar im eigenen Häuschen, das ihn monatlich 10 Mark kostete.

Wegen der dauernden Erdbebengefahr war alles im Bungalowstil aus Holz gebaut, nur in den Großstädten gab es auch hohe Gebäude aus Stahlbeton, die gegen Erdbeben sehr widerstandsfähig sind. Glasfenster gab es in unserem Lager natürlich auch nicht, sondern nur solche aus Ölpapier, ebensowenig massive Holztüren, statt dessen die ganz leichten Schiebetüren aus dünnen Stäben mit Ölpapierfenstern. Anlehnen durfte man sich natürlich nicht dagegen, sonst wäre man gleich mit der Türe ins Haus gefallen, was ja meist unbeliebt ist.

Im Sommer war es oft unter den dichten Moskitonetzen bei 30 Grad und darüber, ohne jedes Lüftchen, drückend heiß, und im Winter haben wir oft gefroren, denn Öfen gab es ja nicht wegen der Feuergefahr, sondern nur die kleinen Hibashis mit Holzkohlenbecken, die draußen angefacht [und], wenn sie glühend sind, ins Zimmer getragen werden. Im übrigen konnte man sich ja auch gegen Kälte durch Decken und dickwattierte Kimonos schützen, die man sehr billig kaufen konnte.

Überhaupt konnte man im Lager eigentlich alles kaufen, die Händler brachten es aus den großen Kaufhäusern von Osaka gegen einen kleinen Aufschlag; vor allem gab es hervorragende Textil-, Leder-, Metall- und Porzellansachen. Je nach Geschmack und Laune legte man sein Geld verschieden an, viele jagten es durch die Gurgel, einige steckten es in den Sparstrumpf, ich legte es in Sachwerten an. Als ich nach mehr als 5-jähriger Kriegsgefangenschaft in die Heimat zurückkehren konnte, hatte ich außer 5 Koffern aus Rind-, Schweine- oder Alligatorleder noch mindestens 12 große Bierkisten voll der schönsten Sachen, eine Wäscheausrüstung, von der ich jetzt, 1948, noch zehre, dutzendweise Oberhemden und Unterzeug aus dem unverwüstlichen japanischen Krepp oder Seide, Schlafanzüge, Strümpfe usw., auch viele seidene, gestickte Kimonos und zwei herrliche, dickgestickte Abendmäntel, die eine Fürstin mit Stolz hätte tragen können, für meine Zukünftige. Ferner einige Kisten voll Curiosities aus Silber, Bronce, Porzellan, Lack oder Seide, Spitzen usw., ich hätte damit einen Kunstladen aufmachen können.

Unsere Bewegungsfreiheit war leider sehr beschränkt. In den ersten Wochen durfte man 2-mal in der Woche unter Aufsicht des Hauptmanns spazieren gehen, aber die Umgebung des Lagers war so trostlos, meist aufgeschüttetes Sumpfgelände und Baggergut, beste Brutplätze für Moskitos, so daß wir bald lieber im Lager blieben.

Im Lager standen die Baracken so dicht nebeneinander, daß der Zwischenraum nur ein paar Meter betrug, nur ein kleiner Platz war vorhanden, auf dem zur Not das ganze Lager antreten konnte. Rings um das Lager führte ein 3 m hoher schwarzer Bretterzaun, so daß wir von unserer Welt eigentlich nur den Himmel sehen konnten. Zwischen diesem Zaun und den Baracken führte ein schmaler Gang, auf dem gerade 2 oder 3 Mann nebeneinander gehen konnten. Da ein Ausweichen infolgedessen immer schwierig war, ging man an den geraden Tagen immer rechts herum, an den ungeraden links herum.

Im 2. Jahr [1916] entstand durch Funkenflug aus dem Schornstein einer benachbarten Müllverbrennungsanstalt, deren widerliche Gerüche uns immer sehr belästigten, ein großer Brand, der trotz zahlreicher Feuerbeschwörungsflaggen, die an alle vom Feuer bedrohten Stellen hingebracht wurden, einen großen Teil des Lagers niederlegte.

Da dieser Teil des Lagers gerade unbelegt war, wurde dieser Brand für uns sehr segensreich, denn wir hatten dadurch einen schönen, großen Sportplatz erhalten, auf dem wir neben einem schönen Fußballplatz auch noch einige Tennisplätze anlegen konnten.

Nun begann ein eifriger Sportbetrieb, der unserem Wohlbefinden sehr zuträglich war. Für mich dauerte der Aufenthalt im Lager leider zunächst nur kurze Zeit, denn nach einigen Wochen hatte sich in der Nähe der alten Wunde wieder eine neue Fistel gebildet. Also hieß es wieder ins Lazarett und Operation. Darüber regte ich mich nicht mehr sonderlich auf, es war ja nichts Neues für mich. Aber einige Beobachtungen waren doch immer wieder neu und interessant, z. B. die Vorbereitungen für die Operation. Alle möglichen Instrumente wurden dafür bereit gelegt, viele Messer, Scheren, Sonden u.s.w. und gründlich sterilisiert und in Alkohol gebadet. Wenn die Herren Ärzte dann aber nicht rechtzeitig da waren, wurde es dem Unterpersonal zu langweilig, und sie fingen an, sich mit den eben gereinigten Instrumenten die Nägel an Händen und Füßen zu beschneiden. Gereinigt wurden dann aber diese Instrumente vor der Operation nicht mehr. Noch unmöglicher waren die hygienischen Verhältnisse bei den Zahnärzten. Daß ihre Instrumente nach jedem Wechsel des Patienten auch gereinigt werden müssten, wurde ihnen erst von uns beigebracht.

Nach der üblichen Zeit von 3 Monaten war auch diese Quälerei im Lazarett Osaka glücklich überwunden, und ich konnte wieder zurück zu den Kameraden ins Lager. Nach rührendem Abschied, wie es je einem so alten Stammgast, wie ich es allmählich geworden war, auch zukam, fuhr ich, wie sonst, zuerst mit der elektrischen Straßenbahn, wo man mir immer sehr höflich einen guten Sitzplatz anbot. Begleitet war ich von einem japanischen Gefreiten in großer Manöverausrüstung; dann bestieg ich eine Rikscha, die mich in einer halben Stunde im flotten Trab ins Lager brachte. Leid tat mir der arme Gefreite, der mit Gewehr, Tornister im Mantel, in flottem Trab nebenherlaufen mußte und bei der blöden Hitze natürlich arg schwitzte, dabei aber immer freundlich blieb und nicht etwa darüber ungehalten war, daß er rennen mußte, während sein Gefangener bequem in der Rikscha sitzen konnte. Eine deutsche Bewachung hätte es sich leichter gemacht und wäre bedächtig nebenhergegangen.

Hier noch einige Eindrücke über die japanischen Ärzte in jener Zeit, natürlich haben sich die Verhältnisse inzwischen wieder sehr geändert. Im Laufe des Jahres haben mehr als 20 Ärzte an mir herumgedoktert. Zunächst muß ich anerkennen, daß alle Ärzte, überhaupt das ganze Personal, sich stets mit uns die größte Mühe gegeben haben, uns alle möglichst schnell wieder gesund zu machen. Nicht ganz im Verhältnis zu ihrem Willen stand aber ihr Können. Einige, die zu ihrer Ausbildung in Deutschland, England oder Amerika gewesen waren, standen durchaus auf der Höhe, wir hatten volles Vertrauen zu ihnen, die anderen aber waren doch mit Vorsicht zu genießen und wußten zu wenig.

Besonders gering war die Kenntnis der inneren Krankheiten, sogenannte Spezialisten verdienten diesen Namen nur selten. Im allgemeinen waren die Chirurgen wohl am meisten auf der Höhe. Trotzdem war ihr Erfolg doch ziemlich gering, und selbst unbedeutende Wunden brauchten zu ihrer Heilung eine verhältnismäßig lange Zeit. Zum Teil lag dies auch wohl daran, daß die Natur und damit auch die Heilkraft eines Japaners von der eines Europäers sehr verschieden ist, demzufolge auch die Behandlung eine verschiedene sein muß. Ein Japaner hat keine Nerven und empfindet eben ganz anders. Viele Operationen, die bei uns unter Narkose gemacht werden, machen die Japaner bei ihren Leuten ohne jedes Betäubungsmittel, und ihre Heilung geht viel schneller.

In Osaka blieben wir bis zum Februar 1917. Da diese Gegend sehr ungesund war, sumpfig und stickig, weil der Fluß, an dem das Lager lag, oft über seine Ufer trat und auch Teile des Lagers überschwemmte, wurden wir nach Ninoshima, einer sehr schön gelegenen kleinen Insel in der Inlandsee verlegt, die nur ein paar Kilometer von Hiroshima entfernt ist, ein nettes kleines Städtchen, das im zweiten Weltkrieg durch den Abwurf der ersten Atombombe eine so traurige Berühmtheit erlangte.

Im großen und ganzen war es auf dieser Insel, deren Schönheit man infolge des hohen, undurchsichtigen Lattenzaunes mehr ahnen als sehen konnte, auch nicht besser oder schlechter als in Osaka, aber die Luft war sehr viel angenehmer, und vor der Insel lag eine Austernbank, die uns beständig mit frischen Austern versorgte. Ein Sack mit etwa 2.OOO Stück kostete etwa 2 Mark. Wir hatten uns die Dinger aber bald übergegessen und waren wieder mehr zu den ausgezeichneten Fischen und Hummern übergegangen.

Die Verpflegung war auch in diesem Lager ausgezeichnet, und auch an guten Getränken war kein Mangel. Der Deutsche Botschafter war ein ausgezeichneter Weinkenner und seine Bestände waren immer reichlich aufgefüllt, die er aber nach seiner Abreise nicht mitnehmen konnte. Da die Japaner dafür kein Verständnis hatten, mußten wir uns der köstlichen Mosel- und Rheinweine annehmen, was mir persönlich durchaus nicht unangenehm war.

So schlich die Zeit dahin, ein Tag wie der andere, so vergingen die Tage, die Wochen, die Monate und Jahre. Fast 6 Jahre unseres besten Lebens unserer so kurzen Erdendauer haben wir nutzlos und sinnlos hinter einer Welt von Brettern verbringen müssen, für einen geistig regen und körperlich gesunden Menschen eine sehr schwere Belastung. Viele haben sie nicht ertragen und freiwillig auf solch ein Weiterleben verzichtet.18

In unserem Lager in Ninoshima bildeten immer 8 bis 10 Offiziere eine Messe, in der sie gemeinsam lebten und ihre Mahlzeiten einnahmen. Da man so fast immer zusammen war und im allgemeinen wenig Anregung von außen hatte, denn die Post kam selten, vielleicht einmal im Monat, kannte man sich bereits nach ein paar Monaten viel zu gut, besonders die Schwächen der anderen, während man das Gute leider oft übersah; manche verstumpften, der Geist, falls ein solcher überhaupt noch vorhanden war, blieb im Leerlauf ausgeschaltet, während der Schnabel, wie bei einem abgestellten Motor, nur leer mitlief. Mehr als etwa 10 Geschichten hatten diese Leute nicht, man hatte sie schon 100 Mal gehört, aber immer wieder mußte man sie über sich ergehen lassen.

Fast jeder hatte sein Steckenpferd, das er ritt, aber am schlimmsten waren doch die, welche immer ihre Geschichten erzählen mußten. Andere droschen ihren Dauerskat, andere trieben meistens ihren Sport, gingen im Lager herum oder besahen sich die Sehenswürdigkeiten des Lagers.

Viel war da ja nicht zu sehen, bis auf das entzückende Vogelhaus des Kapitänleutnants von Martin, genannt der Magnat, weil er einen großen Besitz mit Schloß Rotenburg bei Görlitz besaß, wo ich ihn auch einmal nach unserer Heimreise mit meiner Frau besuchte. Martin hat später, wie ich schon anfangs erwähnte,19 zusammen mit meinem Bruder Fritz in Portugiesisch Ost-Afrika eine große Sisalplantage gegründet, die auch gut einschlug. In seiner Voliere im Lager gab es viel hübsche Arten von Vögeln: Papageien und Sittiche in allen Farben, chinesische Nachtigallen, sehr bunt und mit schönem Gesang, Kanarienvögel, alle möglichen Finkenarten usw. Ihr Herr sorgte vorbildlich für seine vielen Lieblinge, sie gediehen, vermehrten sich und fühlten sich in ihrem hübschen Gefängnis sehr wohl; sie waren ja auch nicht so anspruchsvoll wie wir.

Meine Passion war das Lernen von Sprachen, Englisch, Französisch und Spanisch. Es gab unter den vielen Kaufleuten im Lager immer einige, die diese Sprachen beherrschten, mit ihnen trieb ich Konversation und im übrigen lernte ich dauernd Vokabeln, stumpfsinnig nach dem Lexikon, 3 bis 4 Stunden täglich. Ich habe mir in diesen Jahren einen sehr großen Wörterschatz angeeignet, wußte die ausgefallensten Wörter und kannte im Französischen Worte, die auch meine Frau nicht wußte, trotzdem sie doch in Paris geboren und dort mehr als 20 Jahre gelebt hat.

Die angenehmste Abwechslung brachte uns natürlich die Post, die meist einmal im Monat ankam. Die Europapost brauchte etwa 3 bis 6 Monate, und wenn die Nachrichten aus der Heimat auch nicht neu waren, so dienten sie doch sehr zu unserer Beruhigung, auch wenn sie uns bisweilen manche traurige Nachrichten brachten, z.B. den Heldentod meines Bruders Ernst, der vor Bogamoyo [in Deutsch-Ostafrika, 1916] als Hauptmann in einem siegreichen Gefecht an der Spitze seiner Abteilung durch Kopfschuß fiel.

Die Nachrichten von den Kriegsschauplätzen brachten uns die japanischen Zeitungen sehr schnell, sie wurden von uns übersetzt und in einer Lagerzeitung herausgegeben. Groß war natürlich immer unsere Begeisterung, wenn größere Erfolge berichtet werden konnten, z. B. der Sieg in der Skagerrakschlacht. An der Freude über diesen Sieg nahmen auch die Japaner lebhaften Anteil, denn das Verhältnis zwischen diesen beiden Verbündeten war nie recht herzlich, im Gegenteil meist sehr gespannt. Dann kamen Extrablätter heraus, die Musik spielte Märsche und patriotische Lieder, alles sang begeistert mit, und der Alkoholverbrauch stieg erheblich.

Auch die verschiedenen Weihnachtsfeste, von denen wir 6 in der Gefangenschaft feierten, brachten immer eine kleine Abwechslung in den Alltag des Lebens. Bisweilen erreichte uns sogar ein Paket aus der Heimat, aber auch die Deutschen in China und Japan, die man ziemlich ungeschoren ließ, versuchten uns durch häufige kleine Geschenke das Leben zu erleichtern, und mit Dankbarkeit gedenke ich besonders unserer lieben "Gugge", Frau Kopp und Frau Hass.20 Auch die Mannschaft meines Jaguar, die leider nicht in unserem Lager war, hat meiner bei jeder Gelegenheit, besonders zu Weihnachten oder zum Geburtstag, stets gedacht und oft auch durch kleine Geschenke, Bilder und Modelle vom Jaguar usw. erfreut.

Das Verhältnis zwischen Offizieren und Mannschaften war immer gut und kameradschaftlich und durchaus nicht so, wie es in der Heimat die Sozialdemokraten und Gewerkschaftler oft schilderten.21

Zu den angenehmen Abwechslungen gehörten auch die Besuche vom Superintendenten Schröder, der die Kriegsgefangenenlager in gewissen Abständen besuchte, und dessen gute Predigten uns sehr ansprachen, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der für seine erste Predigt den Text gewählt hatte: Liebet Eure Feinde; dafür waren wir damals noch nicht zu haben, denn das Verhältnis zu unseren japanischen Offizierswächtern war meist sehr gespannt, die Schikanen hörten nie auf, dreimal tägliche Musterungen, nachts 3-4 mal Revisionen, bei denen die Wachtposten mit ihren Laternen uns ins Gesicht leuchteten und mit ihren schweren Stiefeln durchs Zimmer polterten. Auch die häufigen Durchsuchungen unseres Gepäcks waren keine Annehmlichkeiten und auch völlig überflüssig. Sie dienten wohl auch nur zur Befriedigung ihrer Neugierde, wie auch die häufigen Besuche fremder Offiziere, die sich das Lager und ihre Insassen ansehen wollten.

Sehr hart und oft ungerecht waren auch die Strafen. So hatte z. B. zu Weihnachten der Hauptmann Ujeda bei der Musterung bekannt gegeben, daß an den beiden Feiertagen auch auf den Quartieren Bier getrunken werden dürfte, was sonst nicht gestattet war. Als am ersten Festtag der japanische Stabsarzt seine Runde ging und dabei einige Zivilisten, darunter mehrere Firmenchefs aus Tsingtau, bei einer Flasche Bier antraf, meldete er sie dem Lagerkommandanten zum Rapport. Trotzdem hierbei der Hauptmann zugab, die Genehmigung hierzu erteilt zu haben, entschied der Oberst, das wäre gegen seinen Willen geschehen und bestrafte sie mit der niedrigsten Strafe: 5 Tage Arrest.

Das Arrestlokal war ein viereckiger Pfahlbau, im Winter sehr kalt, im Sommer sehr heiß und voller Moskitos. Dort wurden die Arrestanten eingesperrt, durch das kleine Fenster bekamen sie das Essen hineingereicht, nämlich Wasser und Brot. Im übrigen durften sie den Raum nicht verlassen, nicht einmal zum Austreten, es war eine Schweinerei.

Ganz übel erging es 5 Offizieren22, die einen Fluchtversuch versucht hatten, was an sich schon eine große Dummheit war, denn die Chancen für ein Gelingen waren gleich null. Bis zum japanischen Festland brauchte der Dampfer fast eine Stunde, irgend ein Boot stand ihnen nicht zur Verfügung, und auch selbst, wenn sie aufs Festland gekommen wären, hätten sie bis zum nächsten Hafen fast einen Tag mit der Bahn fahren müssen, wo jeder Europäer ebenso auffiel, wie hier ein Japaner. Überdies war der Plan durch Spitzel längst den Japanern verraten worden, und als sie durch ein Loch unter dem Zaune auf der anderen Seite erschienen, wurden sie sofort von der Wache festgenommen. Strafen: die beiden Ältesten 4 Jahre Zuchthaus, die anderen 3 Jahre. Eigentlich wollten sie den Rädelsführer erschießen, dieser konnte aber nicht ermittelt werden, weil jeder behauptete, der Anstifter zur Flucht gewesen zu sein.

Die Zuchthausstrafe wurde in einem richtigen japanischen Zuchthaus verbüßt, zwischen japanischen Raubmördern. Einer von den 5 hat diese Tortour nicht lange überlebt, ein anderer wurde wahnsinnig, die anderen kamen als alte, weißhaarige Männer heraus, als wir die Heimreise antreten durften.23

Auch das ganze Lager wurde immer mit bestraft, die Behandlung wurde noch rücksichtsloser, die Kontrollen sehr verschärft, die Post wurde uns vorenthalten und ähnliches. Dafür wurden aber auch der Lagerkommandant und alle anderen japanischen Offiziere mit vielen Tagen Arrest bestraft, weil sie nicht genügend für Bewachung gesorgt hätten. Andererseits ging den Japanern aber auch das Gefühl für Ritterlichkeit nicht ab. Einmal sah ich durch ein Astloch im Zaun in die Außenwelt, da kam ein japanischer Posten und schubste mich weg, worauf ich ihm unwillkürlich auch einen Stoß versetzte, was der kleine Japse aber sehr krumm nahm. Er drehte sein Gewehr um und wollte mir einen Schlag mit dem Kolben versetzen. Als ich ihn anschrie, kam der Offizier der Wache und brachte die ganze Sache zur Meldung. Es gab eine lange gerichtliche Untersuchung, die bis zum Kriegsministerium ging, das entschied: ich hätte den japanischen Posten beleidigt und eine schwere Strafe verdient, aber mit Rücksicht darauf, daß ich ein in Tsingtau im Kriege hochverdienter Offizier und mit vielen Orden ausgezeichnet wäre, wollten sie es diesmal nur mit einem Verweis bewenden lassen. Das war mir denn auch lieber, als ein paar Jahre in einem japanischen Zuchthaus zu verkümmern.

An dem schlechten Verhältnis zu den Japanern waren zum Teil auch manche von unseren Offizieren und Mannschaften schuld, die die Japaner auf jede Weise provozierten und ärgerten. Diese rächten sich dann auf ihre Weise, sie waren hier ja leider die Stärkeren.

Sehr töricht und für das ganze Lager nachteilig waren auch andere Fluchtversuche einzelner Lagerinsassen. Was für einen Zweck hatte es z. B., wenn Matrosen in Uniform und ohne Mittel und ohne Sprachkenntnisse aus dem Lager ausbrachen. Natürlich wurden sie sehr bald festgenommen. Da bei solchen Vergehen auch immer der Lagerkommandant und Offiziere mit Arrest bestraft wurden, hatten sie natürlich eine große Wut auf uns und rächten sich durch alle möglichen Schikanen und Verbote.

Die Bekanntgabe erfolgte dann durch eine Ansprache des Obersten und der sehr unglücklichen Übersetzung durch den Dolmetscher, sie lautete: "Dieser Tage waren 2 Leute wieder festgenommen, und diese letzte Nacht hat auch wieder einer versucht, aus dem Lager wegzukommen. Diese 2 Leute, schon am 30ten weggegangen, und haben wir am 31ten bei der Musterung der Baracken richtig gezählt, 30 Mann. Solche Leute, welche weggeflogen sein" – allgemeines Gelächter – "Schweigen Sie!" Neues Gelächter. "Sind Sie ganz still! Darum will ich von gestern die Vertreter für die 2 Mann haben, welche weggegangen sind." Gemeint sind Strohmänner, die [beim Appell] von anderen Baracken für die beiden Fehlenden eingesprungen waren, doch meldet sich keiner. "Da glaube ich jetzt, daß es solche Vertreter gibt. Darum so lange Vertreter sich nicht meldet, verstoppe ich Post und Korrespondenz und Kantine." Zwischenrufe: "Was geht das uns an?" Antwort: "Nicht hier sprechen, nachher Büro kommen. Alle Kriegsgefangene sollen ihr Schicksal befriedigen, wenn man dagegen handelt, muß man mehr Folge haben. Und hier im Lager bekommt man verhältnismäßig gutes Essen und gute Unterbringung und auch Bewegungsfreiheit, da ist es ganz verruckt, daß man, weil man nicht im Freien gehen kann, aber wenn man solche Dummheiten gemacht hat, so muß ich immer schärfer behandeln. Es sind viele bei den Matrosen, welche oft solche Frechheiten machen. Diejenigen, welche weggegangen sind, und ihren Zweck nicht gelungen haben, werden streng bestraft, 2 1/2 Jahre, und auch darum müssen Kameraden haben. Daraus kommt Unzufriedenheit im Ganzen, zumal man kann nicht mehr erreichen, aus Japan wegzukommen. Schon hat man 3 Mann wieder festgenommen. Auch ist es gefährlich, wenn man versucht, wegzugehen, da hat man wieder festgenommen. Wenn man solches schlechte Zeug macht. Daher müssen nie mehr solche Sachen unternehmen. Verbot über die Post und Kantine, ich werde sofort aufheben, wenn der Mann sich meldet. Aber der Mann schnell bei uns sich meldet. – Das ist alles. Wenn man sonst was sagen will, dann zum Büro kommen."

Solche und ähnliche Ansprachen der Lagerleitung dienten nur zu unserer Erheiterung und untergruben ihr Ansehen.

Der Gesundheitszustand war im allgemeinen gut. Seuchen sind nicht ausgebrochen, nur kamen viele Fälle von Blinddarmerkrankungen vor. Unser Stabsarzt war Spezialist für solche Fälle, er hat in etwa 30 Fällen uns durch Herausschneiden des wurmförmigen Fortsatzes von seinen unangenehmen Folgen befreit. Auch ich war eines der zahlreichen Opfer. Ein guter deutscher Chirurg würde allerdings wohl häufig den Kopf geschüttelt haben, wenn er eine solche Operation mit angesehen hätte. Die Operation bei mir dauerte über 2 Stunden und wurde nur mit Lokalanästhesie durchgeführt, die eine halbe Stunde auch gut wirkte.

Ich konnte mir mit Ruhe die Operation mit ansehen, die verschiedenen Marterinstrumente lagen auf meinem Bauche ausgebreitet. Der erste Schnitt war nur so, als ob man mit seinem Nagel über die Stelle fuhr. Scheußlich war nur der fürchterliche Gestank, der sich gleich darauf entwickelte, als ob ein Ochse oder Schwein geschlachtet würde. Aber nach einer halben Stunde setzten die heftigsten, kaum erträglichen Schmerzen ein, als er in den Gedärmen lange Zeit vergeblich nach dem blöden Ding suchte. Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, was mein Zutrauen auf seine Kunst und den guten Verlauf der Operation auch nicht gerade erhöhte. Endlich aber war es doch glücklich vorüber und die etwa 10 cm lange Naht wieder zu. Als ich ihn später fragte, warum die Operation denn so lange gedauert hätte, gab er mir zur Antwort, der Blinddarm wäre durch das Bauchfell durchgewachsen, aber er hätte das Loch wieder zugenäht.

Als ich den Stabsarzt, der leidlich gut Deutsch sprach, fragte, wo er das Operieren gelernt hätte, antwortete er mir stolz, er wäre Autodidakt; er sei früher Arzt in einem mandschurischen Gefängnis gewesen, und da hätte er jedem Gefangenen prophylaktisch den Blinddarm herausgeschnitten. Die ersten 10 wären wohl alle eingegangen, aber dann wäre es immer besser gegangen, und jetzt könnte er es.

So schlichen die Jahre in grauer Eintönigkeit dahin. Natürlich wurde alles versucht, um über die Langeweile hinwegzukommen und die Leute durch Unterricht, Sport, Konzerte und Theateraufführungen fortzubilden und zu zerstreuen.

Wir hatten einen ausgezeichneten Gesangverein und natürlich auch eine vorzügliche Kapelle, die häufig im Lager spielte und gute Konzerte gab, zu denen auch gern die Japaner kamen. Die technische Fortbildung wurde anfangs dadurch sehr erschwert, daß uns jedes Handwerkszeug verboten wurde, weder Hammer, Säge, Kneifzange oder sonst etwas. Als wir nach dem Grunde fragten, meinte die Lagerleitung, wir würden uns dann ein Flugzeug bauen und damit wegfliegen. Man traute uns also wirklich allerhand Fähigkeiten zu.

Auch das Erteilen von Unterricht wurde von der Lagerleitung nur ungern gesehen, später aber doch gestattet. Da wir sehr gute Lehrkräfte hatten, Prof. Keiper, Dr. Othmer, Dr. Wagner und andere, wurden doch sehr bemerkenswerte Leistungen erzielt. Viele wurden sogar soweit vorgebildet, daß sie vor einer Prüfungskommission, der u. a. Geheimrat Rosenberger, Richter Lehmann, Prof. Keiper und ich angehörten, ein vollgültiges Abitur oder Einjährigenzeugnis erwerben konnte.24

Die Theaterleitung bestand aus Oberleutnant Bergemann, und einem Kaufmann Albrecht, der lange in Japan gelebt hatte und auch gut japanisch sprach. Das Spielprogramm wechselte alle Woche, und es wurden 4 Vorstellungen gegeben. Die Leistungen waren über Erwarten gut, auch hinsichtlich der Damenrollen, die natürlich auch von jungen Leuten gegeben wurden. Beim Rampenlicht waren sie wirklich von niedlichen Mädels kaum zu unterscheiden, wenn man nicht gerade auf ihre Hände und Füße sah.

Je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger wurde für uns das Lagerleben. Die Stimmung wurde immer schlechter, alle waren gereizt und verbittert, die Fehler und Eigentümlichkeiten des Einzelnen wurden immer deutlicher und mehr beachtet als die guten Seiten, die Behandlung durch die Japaner wurde immer schroffer und ungerechter, besonders auch durch die häufigen, sinnlosen Fluchtversuche, für die alle bestraft wurden, auch die unschuldigen Kameraden, auch die japanischen Offiziere, und zwar sehr streng.

Auch die Verpflegung wurde erheblich schlechter. Die Offiziere konnten sich ja vieles hinzukaufen, aber die Mannschaften hatten kein Geld und sie wurden kaum satt. Die Preise für die Lebensmittel kletterten sehr in die Höhe, und manches gab es überhaupt nicht mehr. Auch die Widerstandskraft des Einzelnen nahm ab, manche schieden freiwillig aus dem Leben.25

Die Nachrichten aus der Heimat wurden seltener und schlechter, da die U-Boote auch manchen Postdampfer versenkten.

Erleichtert wurde unser Dasein durch reichliche Ausübung des Sports, die Mannschaft spielte viel Fußball, und die Offiziere durften sich auf ihre Kosten 2 gute Tennisplätze anlegen. Es wurde im allgemeinen wirklich gut gespielt, ich hatte Vorgabe 15, beim Wettspiel im Vierer wurden wir erste und im Spiel ohne Vorgabe kam ich in die Vorschlußrunde, für einen Mann über 40 doch eine gute Leistung.

Besonders wohltuend wurde es von uns empfunden, daß uns die Lagerleitung einen sehr schönen, bewaldeten Talkessel außerhalb des Lagers freigab, in dem sich jeder ein kleines Gartenhäuschen mit Strohdach bauen konnte, in dem es wirklich ruhig und friedlich zuging, und wo man lesen, schreiben und arbeiten konnte. Denn die leicht gebauten Holzbaracken waren so heilhörig, daß man alles durch mehrere Räume hindurch hören konnte. Wenn jemand nieste, wurde durch 4 Wände "Prosit" gerufen.

Und dann kam das Ende, der Zusammenbruch. Er traf uns umso härter, als wir und auch die Japaner bis zum Schluß mit einer Niederlage gar nicht gerechnet hatten. Jetzt erst begann für uns die schlimmste Leidenszeit. Die Stimmung verschlechterte sich von Tag zu Tag, die Behandlung durch die Japaner wurde immer schlimmer und der Zeitpunkt unseres Rücktransportes immer weiter hinausgeschoben. Die deutsche Regierung hatte ja andere größere Sorgen, als sich um den Rücktransport der wenigen Tsingtaukämpfer zu bekümmern. Deutschland besaß ja auch keine eigenen Schiffe, und die Feinde brauchten ihre Dampfer selbst sehr dringend. Erst im Januar 1920 war es so weit, daß wir die Heimreise antreten konnten.
 

5. Heimkehr nach Deutschland

Ich war als Transportführer für die Hudson Maru bestimmt, die in Kobe von der deutschen Firma Illies & Co. als Truppentransporter für 1500 Mann sehr zweckmäßig ausgebaut worden war.

In Tokyo hatte ich mit dem deutschen Gouvernementsstab und dem japanischen Kriegsministerium alle Einzelheiten für die Rückreise besprochen. Die lange Eisenbahnfahrt nach Tokyo in einem eleganten Pullmannwagen mit ausgebauter Aussichtsgalerie und bequemen Korbsesseln, einen anständigen Whisky und Soda neben sich, durch den landschaftlich reizvollsten Teil von Japan, im Hintergrund den mächtigen Fujiyama, der sich mitten aus der grünen Landschaft zu majestätischer Höhe in blendendem Weiß und mit einer Rauchfahne geschmückt erhebt. Der Abschied von Japan ist uns wirklich nicht schwer geworden.

Bei der Abfahrt aus Kobe sprach ich den zahlreich erschienenen Deutschen unseren herzlichsten Dank aus für all das Gute, das sie uns in all den vielen Jahren in so reichem Maße erwiesen hatten. – Wie anders hatten wir uns doch bei der Ausreise unsere Heimfahrt vorgestellt! Aber immerhin, es ging wieder in unsere liebe Heimat, und das stimmte doch auch wieder etwas fröhlich, trotz alledem. Bald hatten wir uns an Bord wieder eingelebt, es war fast alles so, wie auf dem Ablösungstransport. Von einem Arbeiter- und Soldatenrat, wie es ihn überall in der Heimat gab26 , war nicht die Rede, die Stimmung war gut, die Verpflegung auch und alles war guter Dinge.

Unser erster Hafen, den wir anliefen, war Shanghai, wo wir am 1. 2. 1920 ankamen. Am Bund hatte sich die Deutsche Kolonie sehr zahlreich eingefunden, trotz des heftigen Windes und Schnee und Eis, die Damen in ihren Pelzen, die – wir trauten unseren Augen nicht – nur bis zum Knie reichten! Von der neuen Mode hatten wir ja nichts gesehen oder gehört, in den 5 bis 6 Jahren unserer Einkerkerung hatten wir ja nie eine Europäerin zu Gesicht bekommen und damals trug alles noch lange Kleider, wie es ja für die kalte Jahreszeit auch viel vernünftiger gewesen wäre.

Da ich in Shanghai noch über 1.000 t Fracht und viele Gefangene aus sibirischen Lagern sowie die Besatzung von S 90 an Bord nehmen mußte, andererseits auch viele meiner Heimkehrer, die in China ihre Geschäfte hatten und dort bleiben wollten, hatte ich natürlich blöde viel zu tun. Trotzdem mußte ich gleich am ersten Abend eine Einladung unseres Dr. Bird annehmen, der mich in Tsingtau seiner Zeit so glänzend operiert und behandelt hatte.

In der Elektrischen fuhren wir mit einigen englischen Offizieren und Kaufleuten zusammen, die uns natürlich gleich als Tsingtaukämpfer erkannten, trotzdem wir in Zivil waren. Sie versicherten uns ihrer uneingeschränkten Anerkennung über das, was wir im Kampfe um die Festung geleistet hätten, aber jetzt müßten wir einen Strich unter unsere Feindschaft machen und wieder wie früher kameradschaftlich zusammenhalten. Der Engländer ist bereit, wenn es um sein Geschäft geht, auch erlittene Unbilden schnell wieder zu vergessen.

Dr. Bird hatte uns zu Ehren ein fabelhaftes Essen gegeben, zu dem er etwa 15 Personen eingeladen hatte, auch die offiziellen Vertreter der Stadt und des Holländischen Konsulates, das während des Krieges unsere Vertretung und unseren Schutz übernommen hatte27, mit ihren Damen.

Man kann sich vorstellen, welchen Eindruck diese große, sehr gepflegte Häuslichkeit, die glänzende Tafel mit ihrem herrlichen Blumenschmuck, dem kostbaren Porzellan, Silber und Crystall, den köstlichen Speisen und erlesenen Weinen auf uns machte, die wir seit dem Fall der Festung dergleichen nie mehr mitgemacht hatten. Die Stimmung war sofort auf der Höhe, viele Reden wurden gehalten, ich sprach auf den Gastgeber und auf Holland und seine Königin.

Ich hatte im Laufe der langen Gefangenschaft angenommen, daß ich meines Lebens nie mehr recht froh werden und wieder von Herzen lachen können, und jetzt schon, nach ein paar Stunden, war ich wieder so vergnügt, als ob ich diese schwere Zeit der Kriegsgefangenschaft schon ganz vergessen hätte. Wie heißt es bei Goethe: Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wind!28

Es war ein herrlicher Abend, und zum Abschied überreichte mir Dr. Bird noch ein wertvolles Geschenk: eine etwa 5 kg schwere Geschenkpackung mit dem besten Tee, den es in China gab, ein Geschenk eines Vizekönigs, den Dr. Bird erfolgreich behandelt hatte. Wie viel Freude habe ich mit diesem köstlichen Getränk machen können, denn in Deutschland war es natürlich unmöglich, eine auch nur annähernd gleichwertige Qualität zu bekommen.

Nach vielen Hin und Her und allen möglichen Verhandlungen mit den Behörden – meine blinden Passagiere für China hatte ich glücklich an Land geschmuggelt29 – war es endlich so weit, daß die Hudson Maru am 3.2. nachmittags ablegen konnte. Ich atmete erleichtert auf.

Bald kamen wir wieder in südliche, warme und heiße Zonen, die Sonne brannte wieder, es herrschte gute Stimmung, jeder an Bord war zufrieden.

Dienst wurde natürlich außer dem üblichen Reinigungsdienst nicht gemacht. Nach dem Kaffee um 4 Uhr fand eine Palaverstunde statt, alles war unter dem Sonnensegel auf dem Vordeck versammelt und lauschte den Vorträgen, die besonders 2 Universitätsprofessoren hielten, die aus russischer Kriegsgefangenschaft gekommen waren. Außer allgemeinen, geschichtlichen, politischen oder unpolitischen Vorträgen bekamen wir jedesmal, wenn wir ein neues Land oder Insel passierten, sehr interessante Vorträge über Land und Leute zu hören und auch manche gemeinnützliche oder kulturelle Gebiete wurden dabei berührt. Am 17.2. kamen wir in Sabang an, einem kleinen hübsch gelegenen Hafen auf Sumatra, um Kohlen und Proviant aufzufüllen, der recht teuer und dabei noch schlecht war. Mit Unterstützung der Konsulate habe ich noch 58 meiner Leute gute Anstellungen in der Industrie, oder als Beamte in der Polizei oder Steuer verschaffen können.30 Von vielen von ihnen habe ich später Briefe bekommen, die mir mitteilten, daß es ihnen gut ginge und sie vorwärts kämen, besser als die Aussichten in der Heimat.

Nach kurzem Aufenthalt ging es dann wieder weiter. Auch die Rückreise meines Transports stand unter einem günstigen Stern, der Gesundheitszustand war gut und man sah überall zufriedene Gesichter. Sogar die Fahrt durch das rote Meer war durchaus erträglich, und am 12. März trafen wir in Port Said ein. Hier erfuhr ich, daß sich noch in einem Lager einige hundert Ostafrikaner befänden, die sehnsüchtig auf eine Gelegenheit zur Rückkehr in die Heimat warteten. Ich setzte mich sofort mit den englischen Behörden in Verbindung und trotz heftigen Einspruchs des japanischen Kapitäns nahm ich noch 100 Ostafrikaner an Bord, die mir natürlich sehr dankbar waren, daß sie endlich in die Heimat zurückkehren konnten. Sie waren ein willkommener Zuwachs und ein belebendes Element für unsere Schiffsbesatzung. Einige von ihnen kannten natürlich auch meinen gefallenen Bruder Ernst.

Dann ging es weiter durch das Mittelmeer und die Straße von Gibraltar, in die Biscaya und den Atlantic, wo uns die Hudson Maru wieder ihre Schlingerkünste vorführte, 30 Grad nach jeder Seite31, alle Achtung!

Am 30.3. nahmen wir bei Dungeness an der Südküste von England unseren deutschen Lotsen an Bord und bekamen am Tage darauf durch Funkspruch den Befehl, nicht nach Wilhelmshaven, sondern nach Bremerhaven zu gehen. Hier wurde ich draußen auf Reede vom Leiter der Kriegsmarine Dienststelle Bremen, Fregattenkapitän Raven, feierlichst empfangen, auch mein Bruder Fritz war mit ihm an Bord gekommen und brachte mir Grüße und gute Nachrichten von allen meinen lieben Angehörigen der Heimat.

So war ich nun am 1. April 1920 seit langer Zeit wieder in meinem lieben Deutschen Vaterland.
 

Anmerkungen des Redakteurs

1.  Der lateinische Ausdruck hatte 1913 durch den Roman "Seefahrt ist not!" des Schriftstellers Gorch Fock in Deuschland neue Popularität erlangt.

2.  "SS" bedeutet "steam ship", "Dampfer" ist die Übersetzung.

3.  Solche Zwischenfälle (zu einem zweiten siehe weiter unten) haben sich auf mehreren Transporten ereignet; dass der Verfasser alles ihm Mögliche zur Rettung tat, ist auch wegen anderer Vokommnisse (siehe unten) plausibel.

4.  Gemeint sind Carl Hagenbeck und, vor allem, sein Halbbruder John Hagenbeck, der 1891-1914 und 1927-1940 auf Ceylon lebte.

5.  Hier gibt der Verfasser die Meinung der meisten Deutschen in dieser Zeit wieder.

6.  Ein kleines Essen (im Unterschied zum Lunch); solche englischen Begriffe waren in Marinekreisen gang und gäbe.

7.  Gemeint ist der Besitzer des "Fürstenhofs", Paul Dachsel. Dessen Familie hat mir bestätigt, dass dieses das Stammlokal des Grafen Spee und seines Stabes war und dass Gertrud, Pauls kleine Tochter, des Öfteren auf Spees Schoß gesessen hat...

8.  Gemeint sind die Gräber der Leute des 1896 untergegangenen Kanonenboots.

9.  Dies muss noch in der ersten Juli-Dekade gewesen sein.

10.  Jaguar war natürlich bereits mit Geschützen bestückt, Tiger gab seine am 1.8. an den Hilfskreuzer Prinz Eitel Friedrich ab.

11.  Rjäsan war als Hilfskreuzer vorgesehen, aber dafür noch nicht ausgerüstet.

12.  Der Name des Matrosen ist nicht bekannt.

13.  Tiger erhielt zwar mehrere Treffer, blieb aber schwimmfähig.

14.  Dies wird durch niemanden bestätigt – vielleicht ein Scherz von Offizierskameraden des Seebataillons?

15.  Fast alle Schiffe wurden bereits Ende September versenkt, nur Jaguar in der letzten Nacht.

16.  Hierbei handelte es sich um ein Gerücht.

17.  Zu den drei folgenden Zitaten: Das "Aviso" (I) wurde am 30.10.1914 von japanischen Fliegern über Tsingtau abgeworfen; die Verhaltensanweisungen (II) wurden nach dem 7.11. in Tsingtau als Merkblatt ausgegeben; die Rede (III) wurde bei der Ankunft im Lager gehalten (siehe auch weiter unten).

18.  Unter den in Japan Gefangenen ist nur ein Fall von Selbsttötung bekannt.

19.  Dieser Teil ist hier nicht abgedruckt.

20.  Die Bedeutung von "Gugge" ist unklar.

21.  Wie hingegen aus dem Bericht des Schweizers Arztes Dr. Paravicini (1918) hervorgeht, war in Ninoshima das Verhältnis der Mannschaften zu den Offizieren zeiweise so gestört, dass letztere (erfolglos) um eine räumliche Trennung ersuchten.

22.  Meller nennt in seinem Bericht die Namen Artelt, Esterer, Morawek und Schaumburg, aber keinen fünften Mann.

23.  Morawek fiel (nach Meller) in "geistige Umnachtung"; die Identität des Frühverstorbenen ist unklar.

24.  Auf welcher Rechtsgrundlage die Anerkennung der Leistungen in der Heimat erfolgte, ist nicht klar.

25.  Siehe Fußnote 18.

26.  In Deutschland war die Zeit der "Arbeiter- und Soldatenräte" schon vorbei. Der Hinweis bezieht sich vielleicht unbewusst darauf, dass ausgerechnet in Ninoshima Ende 1918/Anfang 1919 ein Soldatenrat bestanden hat.

27.  Hiermit ist die diplomatische Vertretung des Deutschen Reiches gegenüber China seit Beginn des Kriegszustands 1917 gemeint.

28.  Im Original (aus Goethes "Gesang der Geister über den Wassern"): "Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!"

29.  "Schmuggeln" war insoweit notwendig, als China 1919 offiziell alle Deutschen des Landes verwiesen hatte.

30.  Über die Mitwirkung der Offiziere bei Besetzung offener Stellen in Niederländisch-Indien ist nichts Näheres bekannt.

31.  Eine Krängung von 30° ist sehr viel – Schreibfehler?
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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