Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Tsingtau. Zur Heimkehr der Kriegsgefangenen aus Japan

von R. Kunze (Tokio)

Die Heimreise der Kriegsgefangenen aus Japan nahmen viele Politiker und Publizisten zum Anlass, sich mehr oder weniger ausführlich zur Bedeutung des ehemaligen Pachtgebiets Kiautschou zu äußern. Dazu zählt auch der hier gezeigte Beitrag, worin insbesondere die Rolle von Tirpitz als ›Gründer‹ von Tsingtau positiv gewürdigt und suggeriert wird, wie sehr durch die deutsche Besetzung die deutsch-chinesische Kooperation gefördert worden sei. Insoweit kann der Beitrag als repräsentativ für große Teile der deutschen Publizistik um 1920 angesehen werden.

Der folgende Artikel von R. Kunze (Tokio)1 erschien in der neuen Zweiwochenschrift »Ostasiatische Rundschau«, Jahrgang I, Nummer 2 vom 15. Februar 1920 auf Seite 13-16. – Der Redakteur hat den Text stärker gegliedert, die Rechtschreibung maßvoll angepasst (geographische Bezeichnungen ausgenommen) und Bemerkungen in [ ] oder als Fußnoten eingefügt.
 

In diesen Wochen kehren die Tsingtau-Kämpfer, die fünf lange Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft geschmachtet haben, in die Heimat zurück. Viele von ihren Kampfgenossen kehren nicht zurück, sondern haben ein stilles Grab in der fernen ostasiatischen Erde gefunden. Viele von den Heimkehrenden haben in den endlosen Leiden und der seelischen Zermürbung der Gefangenschaft ihre Gesundheit untergraben und bedürfen für lange Zeit der liebevollen Schonung und Pflege durch ihre glücklicheren Landsleute. Alle aber, die Heimkehrenden wie die Gefallenen, haben den Dank des Vaterlandes verdient, wenn es auch scheint, als wäre ihr Ringen vergeblich gewesen. Wohl weht heute die deutsche Flagge nicht mehr über den Forts der Kiautschou-Bucht; dennoch ist das, wofür sie gearbeitet und gelitten haben, für das deutsche Volk nicht verloren, sondern wird seine reichen Früchte tragen, freilich in einem ganz anderen Sinne, als sie alle geglaubt und gehofft hatten.

Die Besitzergreifung Tsingtaus durch das Deutsche Reich ist ein Ergebnis des deutschen Einspruchs gegen den Frieden von Schimonosseki. Die deutsche Politik hatte von diesem keinen unmittelbaren Vorteil geerntet, und die Unzufriedenheit mit diesem Erfolg verdichtete sich zu dem Wunsch, nachträglich von China eine Entschädigung für die geleistete Hilfe zu erlangen in Gestalt eines Flottenstützpunktes an der chinesischen Küste.2 Über die Lage des zu erwerbenden Stützpunktes entstanden zwischen den beteiligten Reichsämtern Meinungsverschiedenheiten, und es war das Verdienst des damals als Chef des Kreuzergeschwaders in Ostasien weilenden späteren Großadmirals von Tirpitz, dass statt drei unmöglicher Plätze das allein aussichtsreiche Tsingtau gewählt wurde.3 Tirpitz galt als Hauptbedingung für die Wahl des Platzes neben der Brauchbarkeit für die Flotte und der späteren Verteidigung die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit.
Den Anlass zum Zugreifen bot im Herbst 1897 die Ermordung zweier deutscher katholischer Missionare von Süd-Schantung. Am 14. November 1897 hisste der Chef des Kreuzergeschwaders Admiral von Diederichs die deutsche Flagge in Tsingtau und erklärte das Kiautschou-Gebiet für besetzt.4 Es folgten einige diplomatische Häkeleien mit den russischen und französischen Vertretern in Peking, und Russland versuchte ein sogenanntes »erstes Recht der Ankerung« geltend zu machen, weil seine Marine einmal den Gedanken einer Besetzung Tsingtaus erwogen, aber als überflüssig wieder fallen gelassen hatte. Es kam jedoch am 6. März 1898 zum Vertragsschluss mit China, laut dem Deutschland die Bucht und ein kleines Gebiet an ihr auf 99 Jahre pachtete und sich ein größeres, die sogenannte neutrale Zone, als Interessensphäre vorbehielt.

Nunmehr lag, nach den Worten von Tirpitz, dem Reich die Aufgabe ob, den getanen Schritt durch friedliche Kulturarbeit zu rechtfertigen, d. h. »mit mässigem Kapitalaufwand Werte zu weisen, deren Vorhandensein die Chinesen selbst nicht ahnten, und mit großem Zuge in kleinem Rahmen zu zeigen, wozu Deutschland imstande sei.«5 Obwohl im Herbst 1914 von den für die Besetzung in Aussicht genommenen 99 Jahren erst 16 Jahre vergangen waren, hat das Deutsche Reich diese doppelte Aufgabe dennoch bereits in musterhafter Weise erfüllt. Sie konnte freilich nur deshalb gelingen, weil Tirpitz durchsetzte, dass das Pachtgebiet dem Reichsmarineamt unterstellt wurde. Dadurch kam in die Verwaltung der große Zug und der frische und wagemutige Geist, der für alle Betätigungen des Reichsmarineamts kennzeichnend gewesen ist.6
Es kann hier nicht im einzelnen alles aufgeführt werden, was neben dem Ausbau des Flottenstützpunktes alles an Kulturwerten in Tsingtau geschaffen worden ist. Aber jedem Deutschen Ostasiens geht das Herz auf, wenn er der »grünen Insel im weiten gelben Meere« gedenkt: der freundlichen weißen Villenstadt mit ihren roten Dächern inmitten weiter Gärten, Forst- und Obstanlagen; mit der sauberen Chinesenstadt, dem heiteren Badestrand und dem weiten durch Molen geschützten Hafen mit Seewarte, Kabeln, Werft und Schwimmdock; mit Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerken und dem ersten modernen Schlachthaus in Ostasien; mit der Deutsch-Chinesischen Hochschule, dem Realgymnasium und all den andern Schulanstalten, Kirchen usw.; mit den Forts an der Meeresküste und den Befestigungen auf den Hügeln der Landseite. Uns allen war Tsingtau fest ans Herz gewachsen mit dem von ihm unzertrennlich gewordenen Kreuzergeschwader, dessen Namen Emden, Scharnhorst, Gneisenau usw. usw. schon einen stolzen Klang für uns hatten, lange bevor der Weltkrieg ihnen Unsterblichkeit verlieh.

Gegenüber der englischen Verleumdung, wir Deutsche hätten nicht verstanden, zu kolonisieren, braucht nur auf die wunderbaren Erfolge unserer Chinesenbehandlung in Kiautschou hingewiesen zu werden. Die strenge Ordnung und gerechte Ehrlichkeit in der deutschen Verwaltung hat dort die natürlichen starken Sympathien zwischen der deutschen und der nordchinesischen Kulturrasse zu aufrichtiger gegenseitiger Anerkennung und Freundschaft erwachsen lassen.7 Die deutsche Verwaltung hat dort das Wunder fertiggebracht, dass zur Pestzeit 1910/11 die chinesische Landbevölkerung die ganze Grenze des Schutzgebietes entlang einen Kordon bildete und freiwillig Tag und Nacht gegen ihre eigenen Landsleute auf Wache stand, sodass die furchtbare Seuche, die bereits die Nord- und Südmanschurei, Tschihli und ganz Schantung überschwemmt und das englisch verwaltete Tschifu zum Hauptseuchenherd der Provinz gemacht hatte, ohnmächtig an den Grenzen des Schutzgebiets zusammenbrach. In der Revolutionszeit von 1911/12 war Tsingtau der einzige feste Hort der Ordnung in dem weiten brodelnden Meer des Aufruhrs, der in dem englisch verwalteten Schanghai seine Hochburg hatte. Die Sicherheit von Leben und Eigentum und die wahre Neutralität, die damals unter allen Küstenplätzen einzig und allein in Tsingtau gewahrt wurde, machte das Schutzgebiet zum beliebtesten Zufluchtsort der chinesischen Wohlhabenden und Würdenträger, die sich damals in Scharen dauernd dort ansiedelten, immer mehr Amtsgenossen und Freunde nach sich zogen und so den Ruhm der deutschen Stadt über das ganze weite Reich verbreiteten.
Keine andere Fremdenverwaltung in China hat sonst mit gleichem Eifer und Erfolg die Chinesen zum Deutsch-Lernen, die Deutschen zum Chinesisch-Sprechen erzogen.8 Im Gegensatz zu der verderblichen, schrankenlosen Bodenspekulation in Schanghai und allen englisch verwalteten Plätzen, die sämtlich einen hässlichen, schmutzigen und charakterlosen Eindruck machen und deren Bewohner einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens als Sklavenlohn an Londoner Bodenwucherer abzuführen haben, wirkte die in Tsingtau durchgeführte Enteignung und Bodenpolitik nach den Grundsätzen von Dr. Damaschkes Bodenreform außerordentlich wohltätig, das Leben verbilligend und das Stadtbild in hohem Grade verschönend.9 Als 1914 die deutsche Herrschaft in den Stürmen des Weltkrieges unterging, wurde von der überwiegenden Mehrzahl des chinesischen Volkes die Besetzung Tsingtaus durch die Deutschen als ein Segen für China anerkannt und ihr Aufhören wie ein eigener Verlust betrauert.

Die Handelsentwicklung des Kiautschou-Gebiets ist außerordentlich rasch vor sich gegangen, verglichen mit der Entwicklung von Hongkong und Schanghai sogar in einem geradezu stürmischen Zeitmaß, weil hinter ihr eine einheitliche, verständige und tatkräftige Verwaltung stand, die großzügig zu organisieren und aus den Erfahrungen der anderen Häfen zu lernen wusste. Wenn der Handel im Schutzgebiet auch im Allgemeinen dieselben Wege ging wie in den übrigen Vertragshäfen, war er doch hier von den alten Vorbildern der Portugiesen und Engländer unabhängiger und wandte vielfach ganz neue Verfahren an, dank der besseren Sprachkenntnisse und des innigeren Verständnisses mit den Chinesen; so in der Anlage vieler neuer Heimindustrien für die bäuerliche Bevölkerung, in der verbesserten Handhabung des Compradore-Wesens usw.
Im Ganzen aber blieb der Handel des Kiautschou-Gebiets weit hinter den Vorstellungen zurück, die man sich gemeinhin in Deutschland von ihm machte. Der binnenländische Deutsche daheim sah gewöhnlich Tsingtau für den Mittelpunkt des deutschen China-Handels an, und namentlich die Reichstagsverhandlungen über den Haushalt des Reichsmarineamts haben wiederholt eine geradezu groteske Überschätzung der Bedeutung Tsingtaus durch die Reichsboten enthüllt. Tatsächlich hat Tsingtau im deutschen Handel Ostasiens nur eine verhältnismäßig bescheidene Rolle gespielt. Noch nicht ein Viertel der deutschen Kaufleute und Gewerbetreibenden in China entfiel auf das Schutzgebiet, und die dort vertretenen Firmen waren großenteils recht wenig bedeutend.10 Neben den gewaltigen, seit Jahrzehnten in den Niederlassungen von Schanghai, Hankou, Tientsin usw. angelegten Millionenwerten fielen die bescheidenen Werte des Schutzgebiets wenig ins Gewicht. Der Tsingtauer Handel hatte zum Hinterland nur die kleine, wenig fruchtbare Provinz Schantung, eine der ärmsten Provinzen Chinas, vielfach von Gebirgen eingeengt, von keinem schiffbaren Strom durchflossen, dagegen im Westen von dem »Schrecken Chinas«, dem ewig sein Bett wechselnden und gefährliche Überschwemmungen drohenden Hoangho verwüstet, von einer Bevölkerung bewohnt, die zu dem Kern der nordchinesischen Kulturrasse gehört und zwar zu klugem, selbständigem, erfinderischem Denken befähigt ist, aber nur langsam und bedächtig neue Vorstellungskreise ergreift und mit konservativer Treue am bewährten Alten festhält.
Dagegen haben die Jangtsehäfen Schanghai, Ssutschou, Nanking, Kiukiang, Hankou, Tschangscha, Tschungking, Itschang, und wie sie alle heißen mögen, als Hinterland die unendliche Ebene des Jangtsetals, durchströmt von der gewaltigsten Wasserader Chinas, einem der Riesen des Erdballs, der noch anderthalb tausend Kilometer oberhalb der Mündung für Seedampfer schiffbar ist und mit seinen Nebenflüssen, Seen und Kanalsystemen mehr als die Hälfte der 18 Provinzen bespült. Selbst gegen die bescheideneren Handelsmöglichkeiten der fruchtbaren Tschihli-Ebene um Tientsin und Peking im Norden oder der vom Westfluss durchströmten Provinzen Kuangtung und Kuangsi bei Canton im Süden vermochte der Schantunger Handel nicht aufzukommen. Wie hätte sich auch der konservativ bedachtsame, treufleißige Bauernstamm des Nordens mit dem beweglichen, ewig wetterwendischen Rassengemisch am Jangtse oder gar mit der geriebenen Fremdrasse der Cantonesen, dem verschlagensten Kaufmannsblut Ostasiens, wo nicht der Welt, an geschäftlicher Rührigkeit messen können! So hatte die Tsingtauer Handelskammer es schwer, von den Deutschen Vereinigungen, den stolzen Vertreterinnen des deutschen Handels in den verschiedenen Niederlassungen, für voll angesehen und als gleichberechtigt behandelt zu werden.
Dennoch hat Tirpitz mit genial intuitivem Scharfblick das Richtige getroffen, als er für Tsingtau, das Ausfallstor der armen kleinen Provinz Schantung, wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten voraussah, die es unter deutscher Leitung auch den ersten Häfen Chinas ebenbürtig zur Seite stellen mussten. Nicht auf die geschäftliche Regsamkeit der Bewohner und die Größe oder Fruchtbarkeit des Gebiets hatte der Deutsche zu sehen, der in China ungeahnte neue Werte zu weisen unternahm; denn damit können zur Not auch die Chinesen allein und ebenso die rückständigen Methoden der Engländer arbeiten; vielmehr musste er auf die vorhandenen Bodenschätze und ebenso auf die sittlichen Eigenschaften des Volkes sein Hauptaugenmerk richten, die Fleiss und Zuverlässigkeit bei der Arbeit und volles, gegenseitiges Vertrauen zwischen Arbeitern und Unternehmern verbürgten. Mit beiden aber war Schantung reicher gesegnet als irgend ein anderes Land Chinas.
Der Pachtvertrag gewährte den Deutschen u. a. die Ausnutzung der Bergwerke rechts und links der zu bauenden Bahnen, und schon zur Zeit der Besetzung waren dort ausgedehnte Vorkommen guter Kohle bekannt. Bei der Inangriffnahme ergab sich dann, dass die geförderte Kohle der besten Ostasiens die Waage hielt, und dass neben ihr in denkbar günstigstem Verhältnis und in einer Reichlichkeit, die in China nur noch in Tajih bei Hankou ihresgleichen hat, auch der zweite der beiden Rohstoffe vorhanden war, die ein ergiebiges Industrieland aufbauen, nämlich Eisen. Welche Zukunftsmöglichkeiten eröffneten Kohle und Eisen in günstigster Verbindung, nahe bei einem großen, vortrefflichen Seehafen, an einer Bahnlinie, die sich mit den Hauptbahnstrecken kreuzte und zur Reichshauptstadt Anschluss hatte, die schon heute eine der graden Verbindungslinien der Sibirischen Bahn darstellt und später, wenn die dringend nötige Verbindung Pekings durch die Mongolei mit Irkutsk hergestellt ist, der gradeste Schienenweg zwischen Europa und dem Stillen Ozean sein wird!
Ebenso vorzüglich aber wie die natürlichen Voraussetzungen für das Industriegebiet, das hier zu entstehen bestimmt war, war das Menschenmaterial. Welch eine verheissungsvolle Verbindung: der kräftige, arbeitsame, kluge und zuverlässige Schantung-Bauer, geleitet von den Siegern von Coronel,11, dem Wagemut und der Verantwortungsfreudigkeit der Emden und Ajescha! Zwischen Arbeitern und Unternehmern schuf hier das natürliche gegenseitige Gefallen der echten Kulturvölker ein felsenfestes Vertrauensverhältnis, wie es kein anderes Volk zu den Chinesen zu knüpfen verstanden hat. Langsam, Schritt für Schritt, wie der Deutsche und der Nordchinese arbeiten, und wie es die bescheidene Höhe der vom Reichstag bewilligten Haushalte gestattete, war hier im Hinterland von Tsingtau ein neues, größeres Rheinisch-Westfälisches Industriegebiet im Entstehen begriffen.12 Hier boten sich, wie sonst nirgends in Ostasien, großartige Möglichkeiten zur Ansiedlung aller Arten von Industrieunternehmungen. Als der Weltkrieg ausbrach, war gerade der Grund gelegt für die Errichtung eines großen Eisenwerks mit Stahl- und Walzwerk, der einzigen Eisenhütte an der chinesischen Küste. Mit der Vollendung wäre der gesamte Stahlmarkt des Fernen Ostens in deutsche Hände übergegangen! Wahrlich, die Verwaltung des Schutzgebiets hatte das Arbeitsprogramm erfüllt, das Tirpitz ihr vorgezeichnet hatte: »mit mäßigem Kapitalaufwand Werte zu weisen, deren Vorhandensein die Chinesen selbst nicht ahnten«! Aber, und darin liegt die tiefe Tragik der Besetzung von Tsingtau, die Deutschen hatten die ungeahnten Riesenwerte des Gebietes nicht nur den Chinesen gewiesen, sondern noch einem Dritten, der von Anfang an mit heißem Herzen und gespanntester Aufmerksamkeit die deutsche Arbeit verfolgte: dem Japaner!

Japan, ein schmales, langgestrecktes Inselland von mäßiger Fruchtbarkeit, zu mehr als zwei Dritteln von Gebirgen durchzogen, ist von der Natur darauf angewiesen, eine große Industrie aufzubauen, wenn es seine, ungefähr der deutschen an Zahl gleichkommende, Bevölkerung unabhängig vom Ausland ernähren will. Aber diesem Industrieland fehlen die beiden notwendigsten Voraussetzungen eines solchen, nämlich das Vorhandensein von Kohle in ausreichender Güte und von Eisen in ausreichenden Mengen. Die japanischen Berge sind zwar reich an Steinkohle, aber sie ist weich und außerordentlich rußig, steht der chinesischen an Güte unendlich nach und ist als Schiffskohle kaum zu verwenden. Sehr viel trauriger noch ist es um das Vorkommen von Eisen bestellt, von dem sich ein einigermaßen ausgedehntes Lager eigentlich nur bei Kamaischi an der Nordostküste findet.
Der Mangel an diesen beiden wichtigsten Rohstoffen hat mit dazu beigetragen, Japan auf das asiatische Festland hinüberzuweisen. Der Erwerb von Korea brachte die großen Eisenlager von Tschinnampo in seine Hand, die im Kriege gegen Russland erworbenen Rechte an der Südmandschurei die Kohlen und Eisenerze von Pentschino und die ausgedehnten Kohlengruben von Fuschun. Wenn Japan damit seinen Bedarf an Kohlen auch einigermaßen gedeckt hat, reichte die damit ermöglichte Beschaffung von Eisen noch bei weitem nicht aus, und so sehen wir in fast allen politischen und wirtschaftlichen Abmachungen mit China Japan bestrebt, sich von China die Lieferung der Mengen von Eisen zu sichern, die ihm im eigenen Lande versagt waren, namentlich in den vielen Anleihe- und Verpfändungsverträgen, durch die Japan die Hand auf die sogenannten Hanjehping-Betriebe gelegt hat, nämlich die Kohlengruben von Pinghsiang, die Eisenlager von Tajih und das Stahlwerk von Hanjang bei Hankou. Diese Betriebe aber liegen sämtlich viele Tausende von Kilometern weit von Japan entfernt mitten im chinesischen Binnenland, wenn auch nahe dem Jangtse, und ohne die gesicherte Zufuhr von Eisenerzen ist Japan, ganz abgesehen von den Bedürfnissen seiner Friedensindustrie, nicht imstande, seine Kriegsflotte in dem erforderlichen Maß auszubauen, geschweige denn die ungeheuren Mengen von Munition und Kriegsmaterial herzustellen, ohne die, wie der Weltkrieg gezeigt hat, eine moderne Kriegführung nicht möglich ist. Die Verbindung Japans mit Hankou aber kann im Kriegsfall, selbst wenn China dann neutral wäre oder auf der Seite Japans stände, von einem zur See einigermaßen mächtigen Feind jederzeit mit Leichtigkeit abgeschnitten werden.13 Ganz anders steht es dagegen um die Verbindung Japans mit dem Kiautschou-Gebiet, das unmittelbar vor den Toren Japans gelegen ist.

Die Küsten Schantungs sind durch wenig mehr als eine Tagereise zur See von der Gegenküste der japanischen Insel Kjuschu getrennt, Tsingtau liegt also geradezu unter den Kanonen des japanischen Kriegshafens Ssassebo, und so sehr die vereinigte Land- und Seemacht Japans dem deutschen Kreuzergeschwader und dem dritten Seebataillon überlegen war, so schutzlos war das Kiautschougebiet von dem guten Willen Japans abhängig, desselben Japans, dem der deutsche Einspruch gegen den Frieden von Schimonosseki, der eigentliche Rechtstitel für den Erwerb des Pachtgebiets, die Festsetzung an der chinesischen Küste untersagt hatte. Die deutsche Reichspolitik hätte also, wenn nicht schon aus zwingenden viel gewichtigeren Gründen weltpolitischer Beziehungen, wenigstens um der Dauer der Besetzung Tsingtaus willen alle Ursache gehabt, die Beziehungen zu Japan mit der schonendsten Sorgfalt zu pflegen.14
Es war zu erwarten, dass Japan als Vorkämpfer des Grundsatzes »Asien den Asiaten!« jede Gelegenheit benutzen würde, die chinesische Küste von allen westländischen Stützpunkten zu befreien, und zwar um so eher, je näher sie seiner eigenen Küste lagen. Dazu kam, dass die Entwicklung des Kiautschougebiets den Japanern die Augen öffnete für die großen Möglichkeiten, die sich hier ihrem eigenen Handel boten. Im Sommer 1913 verkündete Baron Kato, der ein Jahr später das Ultimatum und die Kriegserklärung an Deutschland durchsetzte, mit triumphierendem Hohn, dass der Handel des Kiautschou-Gebiets zu nicht weniger als 75 v. H. durch japanische Hände gehe, ohne zu ahnen, wie glänzend er damit die ehrliche deutsche Wahrung der offenen Tür und der gleichen Handelsmöglichkeiten für alle anerkannte.
Eine noch glänzendere Anerkennung der deutschen Arbeit in Tsingtau bedeutete die japanische Arbeit in der Südmandschurei, die unter der Leitung des großzügigen Organisators Baron Goto, dieses gelehrigsten Schülers deutscher Arbeitsweisen, eine getreue Nachbildung des in Tsingtau Geleisteten darstellte, freilich in unendlich großartigerem Umfang und mit unvergleichlich reicheren Mitteln. Als dann vollends die deutsche Arbeit die Riesenwerte nachgewiesen hatte, die das künftige Hauptindustriegebiet Ostasiens mit seinen unerschöpflichen Reichtümern an Eisen und Kohle birgt, da war es nur noch eine Frage der Zeit und der Gelegenheit, ob Japan sich diese schutzlos vor seinen Toren gelegene notwendige Ergänzung seiner eigenen Wirtschaft und unentbehrliche Voraussetzung seiner militärischen Machtstellung anzueignen suchen werde. Es hatte keinen Anlass, geduldig zu warten, bis die Deutschen »in kleinem Rahmen und mit mäßigem Kapitalaufwand« das Werk vollenden, das Japan in dem unvergleichlich großzügigeren mandschurischen Maßstab für sich selbst vollbringen konnte. In diesem, von den Deutschen gewiesenen Wert des Kiautschou-Gebiets für Japan liegt die tiefe Tragik der Besetzung von Tsingtau und der eigentliche Grund für Japans Teilnahme am Weltkrieg auf Seiten unserer Gegner. Der von den Deutschen gewiesene Wert des Kiautschou-Gebiets hat dann auch den Angelpunkt gebildet, um den sich Japans Politik in den chinesischen Wirren des Weltkriegs und auf der Versailler Konferenz gedreht hat, mit dem Ergebnis, dass der Versailler Vertrag den Übergang aller deutschen Rechte in Schantung auf Japan ausgesprochen hat. Ist damit auch das Schutzgebiet unmittelbar für Deutschland verloren, so ist sein mittelbarer Wert für die deutsche Außenpolitik nur umso größer geworden. Wer das übersieht, der hat sich noch nicht von dem Materialismus der wilhelminischen Zeit frei gemacht und muss erst lernen, politische Werte höher zu achten als wirtschaftlichen Besitz.15 Denn wie wir heute klar erkennen können, verbürgt erst die gesicherte Ausnutzung der Bodenwerte des Kiautschou-Gebiets die wirtschaftliche Selbständigkeit und die militärische Machtstellung Japans. Ein wirtschaftlich selbständiges und zu Lande wie zur See schlagfertiges Japan, im Rücken Russlands, Indiens und Australiens, aber bildet, mögen sich die zeitweiligen politischen Konstellationen auch gestalten, wie sie wollen, einen hochwichtigen Aktivposten der deutschen Außenpolitik.16 Diesen aber haben in erster Linie die deutschen Pioniere in Tsingtau geschaffen, und ob sie nun in Schantung gearbeitet, auf den Forts von Tsingtau gestritten und geblutet, vor Coronel gesiegt haben oder vor den Falklands- oder Cocos-Inseln ins Meer gesunken sind, ob sie nun in australischer oder japanischer Gefangenschaft geschmachtet haben und jetzt endlich zu den Ihrigen heimkehren: Ihnen allen gebührt der tiefste Dank des deutschen Vaterlands!
 

Anmerkungen

1. Der Autor R. Kunze arbeitete vor und um 1920 für die »Deutsche Japan-Post« und gab 1919 auch die »Mitteilungen für Ostasiendeutsche« heraus; er darf nicht mit dem Nazipolitiker Richard Kunze (»Knüppel-Kunze«) verwechselt werden.

2. Das deutsche Ansinnen, als »Belohnung« für die Intervention 1895 einen Hafen zu erhalten, wurde von China 1895 und 1896 aus dem (verständlichen) Grund abgelehnt, dass dann auch andere Mächte entsprechende Forderungen stellen würden.

3. Tirpitz stützte sich dabei auch auf die Publikationen des Forschungsreisenden Ferdinand von Richthofen. Der Ausbau von Tsingtau war seit etwa 1890 auch auf chinesischer Seite geplant.

4. Ein »Gebiet« gab es nicht. Die Invasoren erzwangen am 14.11.1897 zunächst »nur« die Räumung der chinesischen Garnison in der Kleinstadt Tsingtau (1.300 Einwohner); die Truppe wurde 15 km weiter landeinwärts verlegt.

5. Woher das Zitat stammt, konnte der Redakteur nicht ermitteln.

6. Nicht »Zug« und »Geist« waren ausschlaggebend, sondern das Argument, ein auszubauender Flottenstützpunkt müsse komplett der Marine unterstehen; die Flottenpräsenz in Ostasien blieb nach 1900 allerdings relativ bescheiden, weil das meiste Geld in den Schlachtflottenbau floss.

7. Von natürlicher Sympathie zwischen der nordchinesischen und der deutschen »Rasse« war bis 1914 freilich nirgendwo die Rede gewesen. Auch die faktische Rassentrennung wird hier einfach ausgeblendet.

8. In Wirklichkeit wurde bis 1914 lebhaft beklagt, dass relativ wenige deutsche Kaufleute bereit waren, Chinesisch zu lernen.

9. Zur »Landordnung« des hier nicht erwähnten Admiralitätsrats Schrameier siehe Matzat.

10. Die Kritik, dass deutsche Unternehmen wenig Bereitschaft zeigten, in Tsingtau zu investieren, zieht sich durch die gesamte kurze Geschichte des Pachtgebiets.

11. Bei Coronel versenkte das deutsche Kreuzergeschwader zwei veraltete britische Kreuzer, was seither als Beleg für die Behauptung diente, die britische Seemacht könne erschüttert oder gar vernichtet werden.

12. Bei diesem Vergleich geht offenbar dem Verfasser die Phantasie durch, auch in den beiden folgenden Sätzen.

13. Hier ist wohl in erster Linie Großbritannien gemeint; die Rolle der USA kommt noch nicht in den Blick, ebenso wenig wird in Erwägung gezogen, China selbst könne imstande sein, sich zu einer erstrangigen Macht zu entwickeln.

14. Auch nach dem britisch-japanische Bündnis (1902), so eine weitverbreitete Kritik, hätte die deutsche Politik um Japan werben müssen; das »Wie« hat indessen niemand näher beschrieben.

15. Was genau mit diesem »Materialismus« gemeint ist, geht aus dem Text nicht hervor; es handelt sich jedenfalls um eine (versteckte) Kritik Wilhelms II.

16. Die hier anklingende Idee eines deutsch-japanischen Bündnisses wurde – freilich sehr rudimentär – Mitte der 1930er Jahre umgesetzt.
 
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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