Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt
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»Aus Land Stargard in die weite Welt«
von Traugott Diesing
Die unprätentiösen Lebenserinnerungen des Marine-Ingenieurs Diesing reichen von seiner Schulzeit bis zur Heimkehr aus der Gefangenschaft. Die den Zeitraum 1914 bis 1920 betreffenden Abschnitte sind sehr knapp gehalten, dem Jahrzehnt vor 1912 sind nur wenige Sätze gewidmet. Gleichwohl erschien es dem Redakteur sinnvoll, das Ganze zu übernehmen, um damit einen Einblick in den durchausv typischen Werdegang zu gewähren.
Die handschriftlichen Aufzeichnungen, insgesamt 18 Seiten, befinden sich in Familienbesitz und wurden von Krystyna Schmidt, einer Urgroßnichte des Verfassers, zur Verfügung gestellt – dafür herzlichen Dank!
Ein erster Abdruck erfolgte in der Schulzeitschrift des Gymnasiums Neustrelitz (Mecklenburg-Vorpommern), »Das Carolinum«, Nr. 38 (1963), S. 90–95; hieraus wurden die einleitenden Sätze übernommen.
Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in den Fußnoten.
Übersicht:
Jugendjahre und Seefahrt
[Einleitung aus dem ersten Abdruck]
Der Trieb zum Vorwärtskommen hat manchen Mecklenburger im 19. Jahrhundert veranlasst, zeitweise – leider oft auch für immer – der Heimat den Rücken zu kehren. Von den Dörfern erfolgte in den [18]80er Jahren die große Auswanderung nach Nordamerika. Wer Stadtschulen besuchen konnte, kam auch weiter, ohne auszuwandern, wobei der Seemannsberuf nahelag.
So konnte sich ein Dorfjunge aus der Nähe von Altenstargard zum Beispiel in Neustrelitz das Schulwissen holen, um in der Seefahrt seinen Beruf zu finden. Von einem solchen Schüler der Neustrelitzer Realschule soll hier die Rede sein; verzichten wir auf seinen Namen und lassen wir diesen Caroliner1 denen, die es angeht, einiges aus seinem Leben berichten, was ihm bemerkenswert erscheint:
Mit neun Jahren [1889] sah ich, in der Neustrelitzer Schloßstraße spalierbildend, den Altreichskanzler in der historischen Kürassier-Uniform vorüberfahren, als er den Kaiser bei einem Besuch unseres Großherzogs begleitete – für uns alle eine einmalige Erinnerung, da doch ein Jahr später die Ara vorüber war, in der dieser große Mann dann und wann, nach seinen eigenen Worten, »Europa vierelang vom Bock« zu fahren vermochte.
Von 1894 bis 1898 habe ich in der Realschule frisch-froh gearbeitet und die mittlere Reife erreicht. Zwei Volantärjahre in einer Maschinenfabrik und 13 Monate Seefahrt als Maschinistenassistent auf Hamburger Dampfern ergaben, da ich nun zur seemännischen Bevölkerung gehörte, die sichere Voraussetzung für den Marinedienst. Das Jahr als Assistent war hart. Von New York oder Batum wurde Petroleum geholt. Einmal gab es auf der Elbe durch Stromversetzung einen Zusammenstoß. Dampfer Lemnos von der Deutschen Levante-Linie sank in fünf Minuten, glücklicherweise ohne Menschenverluste, da alle zu uns überstiegen oder aufgefischt wurden. Wir hatten das Glück, das eingebeulte Vorschiff drei Wochen lang in Tynemouth flicken zu lassen; Steven neu, Kollisionsschott hatte nicht gelitten. Man konnte fast jeden Abend an Land gehen, unter anderem einen schönen Park, der ungefähr bis Newcastle reichte, genießen. In South Shields gab es sogar ein Theater, in dem eine Londoner Truppe »The Bells of Corneville« spielte, nicht so schön, wie man es von Neustrelitz kannte, sondern mehr possenhaft; aber das liebt der Engländer.
In New York traf man viele Deutsche, auch Mecklenburger. Einen alten Schmiedemeister aus Groß Miltzow konnte ich in Brooklyn besuchen. Aus dem Diadem der Freiheitsstatue hat man einen herrlichen Ausblick auf die Riesenstadt; der Aufstieg bis in die Fackel war wegen Unsicherheit gesperrt. Durch die Sommerhitze kam es damals zu zwei schweren Brandkatastrophen: An der Lloydpier in Hoboken brannten [am 30. Juni 1900] zwei Lloyddampfer völlig aus, ein dritter (Kaiser Wilhelm der Große) erlitt erheblichen Schaden. Ferner brannten, auch in Jersey-City, 30 große Öltanks aus, wobei das auslaufende Öl noch weithin auf dem Wasser brannte. Die zweite Eastriver-Brücke nach Brooklyn war gerade fertig geworden, und wir sahen auf einem der dicken Hängeseile (etwa 60 cm dick) eine Varieté-Akrobatin von einem Brückenturm zum anderen hinübergehen.
Tunnel unter dem Hudson von Manhattan nach Jersey-City gab es damals noch nicht. Die Elevated (Dampfhochbahn) mutete veraltet an; denn sie streute, besonders bei Regenwetter, viel Schmutz auf die Straße; man wird sie wohl sehr bald elektrifiziert haben.
Eine Ölladung brachten wir nach Savona unweit Genua. In Malta wurden gute englische Kohlen genommen, in Konstantinopel wurde nur Post abgegeben und dann von Batum am Kaukasus Öl geholt. Unter der buntscheckigen Bevölkerung waren blutige Streitigkeiten, infolge von Alkohol, an der Tagesordnung. Die Patrouillen des russischen Militärs bestanden immer aus fünf Mann. Tscherkessen hatten das Recht, Waffen zu tragen.
Auf der Heimfahrt im Schwarzen Meer folgten uns viele Delphine. Einer wurde von der Back aus harpuniert und schmeckte uns ähnlich wie Rindfleisch, jedoch etwas tranig. Im März 1901 hatten wir bei der Ausreise, etwa Mitte Atlantik, einen Äquinoktiumsturm aus Westen zu überstehen, so dass der Kapitän 24 Stunden beidrehte, damit die Brückenaufbauten und die Boote heil blieben. Dem Hapag-Viermastfrachter Belgravia brach in diesem Wetter der Ruderschaft, und der Red-Star-Liner St. Paul verlor die Schraube nebst Schwanzwelle. Beide Schiffe trieben tagelang schwer rollend, bis sie endlich aufgefunden und eingeschleppt wurden. Die Funkentelegrafie kam einige Jahre später zur Entwicklung, und erst dann war allgemeine Standort- und Schadensmeldung möglich.
Bei der Kaiserlichen Marine
Ich verließ die Petroleumfahrt im September 1901, meldete mich zum freiwilligen Dienst in Kiel und wurde am 1. Oktober 1901 in die Kaiserliche Marine eingestellt. Als Einjähriger tat ich Maschinendienst auf dem Minenschiff Pelikan, als Maat auf dem Kanonenboot Habicht, als Maat und Obermaat auf dem Linienschiff Kaiser Wilhelm der Große, als Ingenieuraspirant auf Linienschiff Schwaben, als Wachingenieur auf dem Panzerkreuzer Yorck und als Leitender Ingenieur auf dem Kanonenboot Jaguar.
An der Westafrikaküste mit dem Kanonenboot Habicht erlitt ich bei übermäßiger Hitze (über 60° im Maschinenraum) auf dem Calabar-Fluß im Urwald einen Hitzschlag und erlebte mit der Dampfpinasse eine Fahrt in schwerem Seegang, die Jolle schleppend; aber beides lief glücklich ab. Die Ausreise und Heimfahrt auf schönen Wörmann-Dampfern waren herrlich. Madeira und Las Palmas wurden dabei angelaufen. Auf der Ausreise beobachteten wir, etwa querab von Liberia eine mächtige Wasserhose, breit und wild drehend, dann abnehmend und in halber Höhe abreißend. Das Schiff versuchte der schwarzen Wolke auszuweichen, so dass wir von dem darauf niedergehenden Regen wenig abbekamen. Etwas weiter ostwärts gab es noch ein seltenes Schauspiel: Wale, darunter Mutter und Kind, miteinander spielend; das habe ich nie wieder erlebt.
Der Fritz-Reuter-Verein in Kapstadt, der mich zu einem Picknick einlud, war von einem alten Güstrower gegründet, der als Senior noch mitmachte. In der Messe der Irma Wörmann trat mit einem bauchigen Gefäß kalter Bowle (wir hatten sonst nur Bier von 25-28°) der Schiffskoch ein – und der war bei meinen Eltern als Schwedter Dragoner im Manöver in Quartier und auf Dampfer Helios unser Kochsmaat gwesen; hier, beim dritten Zusammenbeffen war er chief-cook! Fast entfiel ihm, als er mich sichtete, vor Überraschung die Terrine. Stand nicht dann – 10 Jahre später – im Klub Germania in Hongkong hinter der Theke als Klubökonom auch ein Helios-Gast von 1902, nämlich unser derzeitiger Steward Drescher aus Salzwedel! Fürwahr, die Welt ist wie ein Dorf! Männertrunk und Wiedersehenspalaver ohne Ende. —
Die Kommandos auf der Kaiser Wilhelm der Große, Schwaben und Yorck folgten. Auf der Aspiranten- und Ingenieurschule, die ich zwischendurch je ein Jahr besuchen musste, hatte ich in den Sommerferien Gelegenheit, schöne Reisen zu machen, zum Beispiel zum Königssee, in die Schweiz, nach Holland, nach Nürnberg, Ulm, Straßburg; Münchens Kunstschätze, das Ryksmuseum in Amsterdam, auch Köln und Dresden konnte ich würdigen; im Reich fuhren wir als Soldat überall für einen Pfennig pro km.
Durch Sibirien nach China
Die Fahrten unserer Flotte nach Kopenhagen, Onsala, Oslo, Bergen, Molde, den Shetlandinseln, Vlissigen und Plymouth brachten unvergeßliche Erinnerungen. Nach zwei Jahren auf Yorck als Leitender Ingenieur qualifiziert, wurde ich Anfang Oktober 1912 über Sibirien nach Hankou hinausgesandt, um als Nachfolger des Kameraden Lindstroem Leitender Ingenieur des Kanonenbootes Jaguar zu werden.
Mit einem vom russischen Generalkonsul in Lübeck visierten Paß und einem Kreditbrief über 1300 Mark ging die Reise von Berlin über Moskau, Irkutsk und Peking nach Hankou, 12000 km in 19 Tagen, vonstatten. In Moskau waren die Tretjakoff-Galerie und das 1812-Museum zu besichtigen. Eine »platzkarti«, für die man am Kursker Bahnhof stundenlang anstehen mußte, sicherte das Mitgenommenwerden im »passagierskipojest«. Den schnelleren »internationalen« Zug, der jede Woche außer den zwei russischen fuhr, vermied ich, um echt russisch zu reisen. Jedes Abteil nahm vier Fahrgäste auf, teils auch Damen. Die Rücklehnen wurden als 3. und 4. Bett nachts hochgeklappt. Zum Zubettgehen traten die Herren auf den Gang, ebenso zum Aufstehen, bis die Dame sich eingerichtet hatte; Waschraum vorne, Heizkessel hinten in jedem Wagen, Holzheizung. Ufa (Baschkirenland), Tscheljabinsk (Ural), Westsibirien (Kornfelder, Birkengruppen); bei Omsk wird der Irtysch, bei Novosibirsk der Ob und bei Krasnojarsk der Jennissei überquert. Der Zug hielt auf diesen großen Stationen so lange, dass man in den Bahnhofsrestaurants bequem seinen Teller Kohlsuppe genießen, Kaviar und Geräuchertes mitnehmen konnte. Auf kleineren Stationen wurde manchmal auch gehalten, wo fliegende Tafeln mit frisch gebratenen Hühnchen und Fischgerichten spottbillig zu haben waren. Man hörte fast überall Deutsch sprechen, meist wohl von Balten, Polen und Juden. Deutsch spielte damals in Sibirien als Geschäftssprache eine ähnliche Rolle wie sonst auf dem Globus das Englische. Nach acht Tagen, von Moskau ab gerechnet, war Irkutsk erreicht, die alte Hauptstadt Sibiriens; die Häuser meist Holzbau, ähnlich wie in Norwegen, praktisch für die Winterzeit. Universität, Bank, Zentralhotel, Kirchen (auch eine kleine lutherische) waren Steinbauten. Die Angara, blau, tief, mit scharfer Strömung, kommt hier aus dem Baikalsee, der ein großes Einzugsgebiet hat und wie ein Meer wirkt. Die Bahn umging ihn, damals noch eingleisig, mit über 30 Tunneln, der steilen Felsufer und des häufigen Steinschlags halber. Mit bedeutenden Steigungen wurde erst das Jablonoi-Gebirge überwunden, dann nach Passieren der russischen Grenze bei Mandschuria mit weiteren starken Steigungen in einem 1000-Meter-Tunnel 1500 Meter über dem Meeresspiegel das mongolische Randgebirge. Bei völlig stiller Luft waren auf der Station danach 16° Kälte. Allgemein kurzer Erleichterungsspaziergang in der »Freiheit«. Vor Erfrieren von Ohren und Nase wurde gewarnt. Dann ging es in rasender Fahrt bergab. In zwei Tagen nach Irkutsk war Charbin und nach weiteren zwei Tagen Mukden und Shanhaiguan erreicht, wo die große über 3000 km lange chinesische Mauer am Meer endigt.
Übernachtung im Hotel, deutsche Wirtsleute. Einen Tag später über Tientsin bis Peking. Im Zug mehrere Deutsche, unter anderem Baurat Dorpmüller, der die Tientsin-Pukou-Bahn baute. In Peking zwei Tage im Hotel Trendel (Wagon-lits) gewohnt, mit Rickscha 16 km Nordwest zum Sommerpalast. Stadtmauer 24 km lang, 16 Tore. Nach weiteren 1200 km Fahrt dann am 27. Oktober in Hankou, dort abends an Bord der Jaguar. Am 28. Oktober [1912] flußabwärts. 600 Seemeilen nach Schanghai. Der Vertragslotse der Kaiserlichen Marine für den Yangtse, Herr Kley, war ein Mecklenburger, der Bankdirektor Mirow in Hankou auch. Die Stationierung von Kanonenbooten und flachgehenden Flußkanonenbooten wurde wie von England, Amerika und Japan auch vom Deutschen Reich für notwendig erachtet, um den Handel vor Flußpiraten zu schützen. Die beiden »Kleinen« [Flußkanonenboote], Vaterland und Tsingtau, befuhren den oberen Yangtse bzw. den Sikiang oberhalb Kanton; Iltis, Jaguar, Tiger, Luchs wechselten ihren Bereich um Hongkong, Schanghai, Hankou und Tientsin. Fahrten nach Korea, Japan und den Philippinen konnte man Erholungsreisen nennen.
Wie von den anderen Seemächten in aller Welt gab es auch von deutscher Seite hier große Schiffe: Panzerkreuzer Scharnhorst und Gneisenau, kleine Kreuzer Emden und Nürnberg. Stützpunkt für Instandhaltung aller deutschen Schiffe war die Tsingtauwerft mit Dock. Mit den deutschen Botschaften, Generalkonsuln und Konsuln standen die Kommandanten laufend in Verbindung.
Die 600 Seemeilen (rund 1000 km) des Yangte-Unterlaufes legten wir in drei Tagen zurück, da nachts meist einige Stunden geankert werden mußte; denn Untiefen gibt es genug, dagegen keine Fahrwasserbojen. In Schanghai sahen wir uns um: Klub Konkordia, Iltisdenkmal am Land (im Weltkrieg beseitigt), Bubbling Well-Road als Hauptstraße, Weihnachtseinkäufe und Postversand. Am 6. November in See, Ziel Hongkong; Amoy und Swatou wurden angelaufen. Hongkong: Ankunft 13. November, dort stießen wir auf den Lloyd-Dampfer Princess Alice mit dem Fähnrichstransport, er brachte auch meine zwei schweren Kisten Ausrüstung mit.
Hongkong hat subtropisches Klima und war anfangs ein Seuchenherd (acht Friedhöfe im »happy valley«); aber die Engländer haben die Insel saniert. Die Europäer wohnten zumeist auf dem »peak« (ca. 600 m), Zahnradbahn führt hinauf. Klub Germania in halber Höhe. Konsul Vorretsch (Schwabe) wohnte auch oben. Besuche, Einkäufe, mit der Mannschaft Ausflug zum Baden nach Deepwater-Bay.
1. Dezember in See, 7. Dezember vor der Yangtsemündung (Wusung), Scharnhorst und Gneisenau dort. Dienstantrittsmeldung beim Geschwader-Chef Kontre-Admiral Graf Spee. Dann den Wangpu hinauf nach Schanghai: Chinesisches Theater (historische Dramen mit burleskem Zwischenspiel), chinesisches Diner (viele Leckereien, Reis); zuletzt »sing song girls«2, ein teurer Spaß für den Gastgeber, der Schiffshändler für die Marine war. Deutsche Medizin- und Ingenieurschule dort besucht, viele Schüler, die in Deutschland studieren wollen.
Von Dezember 1912 bis Hochsommer 1914 habe ich an vielen Fahrten und Landbesuchen und hochinteressanten Besichtigungen teilgenommen.
Krieg und Gefangenschaft
Am 25. Juli 1914 erhielten wir wegen der gespannten politischen Lage den Befehl, beschleunigt yangtse-abwärts zu fahren. Dabei gab es einen kleinen Zusammenstoß mit einem großen chinesischen Holzfloß, so dass wir in Shanghai einen Tag ins Dock mussten. An diesem 31. Juli 1914 fuhr das englische Kanonenboot Thistle, schon ohne Relingketten, gefechtsklar vorbei. Wir wurden am selben Abend ausgedockt; ohne Lichter seewärts, nachts durch die Norddurchfahrt unter »Klarschiff« nordwärts mit hoher Fahrt, kein Feind – nach Tsingtau. 1. August 1914, 7 Uhr früh an Tsingtau. Cormoran, Iltis, Luchs, Tiger, Kaiserin Elisabeth waren schon dort. Emden war am 31. Juli bereits ausgelaufen. Wir erwarteten Befehle.
Am 2. August kommt das Telegramm: Kriegszustand mit Rußland und Frankreich. Lloyddampfer Prinz Eitel Friedrich, von Schanghai zurückgerufen, läuft ein, wird von Iltis-, Tiger-, Luchs-Besatzungen als Hilfskreuzer besetzt und ausgerüstet.
Am 5. August erhält die Deutsche Bank Telegramm: England mobil!
6. August 1914: Emden hat den Dampfer Rjäsan der russisch-freiwilligen Flotte gekapert und läuft mit ihm ein. Cormoran-Besatzung geht auf ihn über und macht ihn zum Hilfskreuzer. Emden und Prinz Eitel Friedrich voll Kohlen, laufen aus. Bis zum Endkampf schädigten die Emden und Prinz Eitel Friedrich, später in den USA interniert, den Feind durch Versenkung von Handelsschiffen.
Aus China, Sibirien, Japan trafen laufend Reservisten in Tsingtau ein. Telegrafische Verbindung nach der Heimat war vorläufig unterbrochen. Japan stellte am 15. August Ultimatum betreffend Übergabe Tsingtaus und aller deutschen Schiffe. Frist 23. August.
Krieg. Frauen und Kinder wurden fast alle nach Tientsin und Schanghai evakuiert. Über die Verteidigung Tsingtaus, die Versenkung der Schiffe außer Jaguar sind Bücher geschrieben worden. Bis zum 6. November hat Jaguar von der Kiautschou-Bucht aus häufig auf japanische Batterien, die Anmarschstraße und Schützengräben geschossen. Am 7. November früh, als zwei von fünf Infanteriewerken gefallen waren und der Kampf an Land eingestellt wurde, ging die Besatzung auf den Polizeidampfer über, als letzte der Artillerieoffizier [Leffler] und ich, nachdem wir drei Bodenventile geöffnet und Sprengladungen vorbereitet hatten. Kurz vor 5 Uhr sank das treue Schiff im tiefen Fahrwasser – wie ein Mensch stirbt.
9. November 1914: Totenfeier auf dem Friedhof, 101 Mann in zwei Massengräbern. Etwa 60 Mann waren schon vorher gefallen bei der Verteidigung und dem Ausfall, darunter eine Anzahl Österreicher und ein Marine-Oberingenieur der Reserve [Gerhold], der mir nahestand.
Wir hatten es als Kriegsgefangene nur mit japanischen Offizieren zu tun, und die waren ritterlich eingestellt infolge ihrer Samurai-Überlieferung. Der [Lager-] Kommandeur, ein hoher Adeliger, Marquis SAIGO Torataro, war in Deutschland ausgebildet worden. Wir wurden in den vier Jahren gleichmäßig gut behandelt.3 Bei unserem Transport mit der Bahn von Kobe nach Tokyo wurden wir auf mehreren Stationen mit Höflichkeit und Fürsorge behandelt. Im Lager erhielt jeder Weihnachten [1914] ein kleines Geschenk von den Japanern, dazu viele Pakete von den Chinadeutschen (ich noch besonders vom Verein Deutscher Ingenieure in Schanghai), vom Reich erhielt jeder Soldat 2 Yen (4 Mark). Später, Weihnachten 1918, brachte uns eine Deputation japanischer Damen 10 kunstvolle Körbe mit Blumen und etwa 400 farbige Postkarten nebst einer langen Gruß- und Trost-Adresse in gutem Deutsch. Es waren Angehörige der Gefallenen und Gefangenen von Hitachi Maru, dem Schiff, das Hilfskreuzer Wolf beschossen und versenkt hatte. Der Kapitän der Hitachi Maru hat sich später angesichts der Heimat erschossen als Opfer und Entgelt für den Tod der bei der Gegenwehr Gefallenen (Yamato-damaschii, Japans Ehrenpflichtkodex).
In Kobe wurden wir [Ende 1919] durch einen Vertreter des Reiches (Schweizer Konsul) vom Fahneneid entbunden und als Soldaten zur Republik übernommen. Der Dampfer Hofuku Maru brachte uns heim. Von Sabang nahe Sumatra, Kohlenstation, bis Aden 19 Tage, Rotes Meer, Suezkanal, 6. Februar Port Said, 26. Februar Wilhelmshaven, in der Nordsee mit deutschem Lotsen durch Minenfelder, 28. Februar Neubrandenburg und 2. März bei den Eltern.
Ich war nicht – wie jene zwei in Rostock und Parchim geborenen nordischen Kornetts4 – »bei den Preußen« zu höchsten militärischen Ehren aufgestiegen, hatte nicht wie jene in Menzendorf bei Ratzeburg aufgewachsenen Brüder Siemens5 große Erfindungen macht, auch nicht wie jener Rostocker Behm6 etwas dem Echolot Ähnliches erfunden, war vielmehr als Seemann in meinem ganzen Lebenslauf bemüht, alle sich bildenden Schwierigkeiten zu überwinden und damit dem Ganzen zu dienen, gemäß dem von Professor Haberland in der Tertia zitierten Schiller-Distichon:7
Immer strebe zum Ganzen! Und kannst du selber kein Ganzes /
Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an!
Anmerkungen
1. Absolvent des Gymnasiums Carolinum (siehe oben).
2. Auf Deutsch soviel wie »Unterhaltungsdamen«; siehe die englische Wikipedia.
3. Bezieht sich auf die Zeit im Lager Narashino (07.09.1915 bis Ende 1919); hinzu kommt die Zeit im Lager Tokyo-Asakusa. Saigo war Kommandant beider Lager.
4. Anspielung auf Gerhard Leberecht von Blücher (1742–1819) bzw. Hellmuth von Moltke (1800-1891).
5. Gemeint sind Werner Siemens und seine Brüder.
6. Gemeint ist Alexander Behm (1880–1952).
7. Mit der Überschrift »Pflicht für jeden« zuerst veröffentlicht im »Musen-Almanach für das Jahr 1797«, herausgegeben von Schiller (Gemeinschaftswerk mit Goethe).
© Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
Zuletzt geändert am
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