Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Das erste Jahr in Fukuoka«

von Jakob Neumaier
 

Unter den Augenzeugen des Krieges und der Gefangenschaft ist Jakob Neumaier einer der wichtigsten. Seine Tagebucheintragungen decken den gesamten Zeitraum von den letzten Junitagen 1914 bis zur Rückkehr in die Heimat Anfang März 1920 ab. Er schildert seine Erlebnisse bewusst aus der Perspektive des einfachen Soldaten, ohne »Feldherrnattitüde«, mit guter Beobachtungsgabe und mit viel Liebe zum Detail.

Der vierte Teil aus Neumaiers Bericht schildert das erste Jahr im Lager Fukuoka (bis Weihnachten 1915).

Die hier benutzte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von dem leider verstorbenen Bochumer Sammler Walter Jäckisch zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in Fußnoten.

Übersicht:

  1. Ordnung im Lager
  2. Hoffen und Bangen
  3. Kontakte und Beobachtungen
  4. Kultur im Lager
  5. Weihnachten

 

1. Ordnung im Lager

Das Gefangenenlager in Fukuoka bestand aus drei Gebäudekomplexen, die voneinander durch öffentliche Verkehrsstraßen der Stadt getrennt, jedoch alle drei in der Nähe der Küste und der Mündung eines breiten Flusses lagen. Eine etwa zwei Meter hohe Bretterwand umgab jeden dieser Häuserblöcke. Wo diese an das Wasser grenzten, zog sich am Strande ein hoher Stacheldrahtzaun hin. Die Häuser waren alt, mit ihren vielen niedlichen Räumen, schmalen Stiegen und Gängen, den mit niederen, zierlichen Geländern versehenen Veranden und den weißen Papierwänden typisch japanisch. Das Haus 6, in dem ich wohnte, grenzte mit der Nordfront an Haus 5, mit der West- und Südfront an zwei Straßen mit lebhaftem Verkehr und mit der Ostfront an den Strand der Flussmündung, so dass man da auch Aussicht auf die See hatte. Man konnte nach Belieben von der langen Veranda der Westfront des Hauses das lebhafte Straßenleben der Stadt oder von der Veranda der Ostfront aus die See betrachten. Jenseits des Flusses – nach dessen Namen ich nie fragte – waren Föhrenwälder, aus denen vier hohe, graue Fabrikschornsteine emporragten. Im Hintergrunde zogen sich sanfte, grüne Höhen bis zum Strande der See hin. Blickte man nach Süden, flussaufwärts, so bot sich das Bild eines einförmigen grauen Häusermeeres. Einige Holzbrücken führten über den Fluss.

Die ganze Umgebung war ziemlich eintönig, mit Ausnahme des Meeres, das ich nie und nirgends noch einförmig gefunden habe, was zwar seltsam klingen mag, aber doch wahr ist. Ich nahm mir vor, vom japanischen Straßenleben, von dem Treiben der japanischen Fischer, Muschelsucher, den Weiblein und Männlein, die auf ihren Lastkähnen und Booten am Fluss vor unserem Hause manöverierten und werkten, eine Sammlung von Schilderungen der einzelnen Typen anzulegen. Ich fand aber nicht die Geduld dazu. Die Spannung, mit der wir täglich auf Nachrichten aus der Heimat, vom europäischen Kriegsschauplatze warteten, und das niederdrückende Bewusstsein, dass wir zwecklos, tot für die Heimat, hier vegetieren mussten, ließen ein besonderes Interesse an der exotischen Umgebung nicht aufkommen. Alles, was uns in anderen Verhältnissen höchst interessant erschienen wäre, schien uns in der Gefangenschaft höchstens als kleine, augenblickliche Zerstreuung, aber sonst ganz nebensächlich. Wie konnte es in der Zeit etwa wichtig oder für irgendwen von Interesse sein, mit der Feder aufzuspiessen, wie der japanische Fischer, Rikschamann, die Geisha, der Handwerker, Feuerwehrmann, Student, Straßenhändler oder Polizist sich uns zeigte, sagte man sich. Mochte das fremde Volk noch so interessant sein, wir waren wider Willen da hineingekommen und betrachteten darum alles mit einer gewissen Feindlichkeit, waren leicht geneigt, verächtlich über alles zu reden.

Wir lachten weidlich, als am ersten Tage, als uns gestattet war, Briefe nach der Heimat zu schreiben, die Japaner im Hofe hölzerne Briefkästen anbringen ließen mit der Aufschrift »Der Briefkasten«, neckten den japanischen Schutzmann, der lernbegierig mit aufgeschlagenem Notizbuch fast täglich ins Lager kam und, auf alle möglichen Sachen deutend, immer fragte: »Wie heisst das?« Freundlich nickend trug er, was wir ihm sagten, in sein Notizbuch ein, als Bezeichnung für Eimer etwa »Horizont«, für Mütze »Behauptung«, für Zaunpfahl »Spargel«, für Hose »Abzugsbescheinigung« und auch Ausdrücke, die ich hier nicht anführen kann. Wir wurden mit einer Menge von Vorschriften beglückt und hielten uns nur widerwillig daran. Es war verboten, mit Schuhen die Zimmer zu betreten, in den Zimmern zu rauchen oder zu heizen, sich in der Nähe des Lagertores aufzustellen, ohne Rock sich außerhalb der Räume aufzuhalten, nach dem Wecken tagsüber sich auf die Decke zu legen. Eine Menge Vorschriften über das Essenholen, das Antreten, die Zimmerinstandhaltung, die Ehrenbezeigungen den Japanern gegenüber, über die Abfassung der Briefe sogar und über weiß Gott was noch erging über uns. Das Essen war knapp. Morgens gab es ein Stück gutes Brot von Faustgröße und dünnen, nur leicht gezuckerten Tee dazu, mittags gekochte Kartoffeln, die für jeden Mann vom Zimmerältesten ausgezählt wurden, pro Mann drei bis vier Stück, sowie dünne Fleischschnitten, pro Mann eine, von etwa 50 Gramm, abends wieder Brot und Tee oder einen, wenn es gut ging, zwei Teller Suppe, die natürlich sehr dünn war und hie und da nach etwas Reis oder Graupen schmeckte. Besonders in den ersten Monaten litten wir viel Hunger, später hatte sich der Magen etwas an die knappe Kost gewöhnt. Wir sahen, dass auch die japanischen Soldaten nicht viel mehr als wir bekamen und fanden es schließlich verständlich, dass man uns nicht besser als diese hielt. Zum Vegetieren reichte es.

Mit der Ausgabe von Kleidungsstücken an die Gefangenen hatten es die Japaner niemals sehr eilig. Die meisten von uns besaßen nicht viel mehr, als sie am Leibe trugen. Nur die Leute, die in der Stadt Tsingtau oder sonst hinter der Front in Gefangenschaft gekommen waren, hatten ihre Kleidersäcke mitnehmen können. Die Japaner musterten im Lager öfters genau den Kleiderbestand der Gefangenen und führten peinlichst genau Listen darüber. Es war schwer, Ersatz für ein abgetragenes Kleidungsstück zu bekommen, solange man überhaupt noch Hose, Rock und Schuhe besaß, wenn diese Sachen auch schon jämmerlich aussahen. Auf dringende Gesuche um Kleiderausgabe ließ der Lageroberst durch den Dolmetscher einmal wörtlich bekanntgeben: »Wer zwei Röcke hat, gebe dem einen, der keinen hat.« Mit den Grundsätzen christlichen und deutschen Wesens schienen die Japan ziemlich bekannt zu sein und ließen uns dies auch oft, manchmal in ironischer Weise, merken. Oft schienen sie enttäuscht zu sein, dass wir nicht genau nach solchen Grundsätzen lebten. Wenn der eine oder andere Gefangene etwa ertappt wurde, wie er von der Küche Kartoffeln oder andere Lebensmittel entwendete, wurde uns in einer langen Bekanntmachung vorgehalten, die Japaner hätten von der deutschen Ehre mehr gehalten und nicht erwartet, dass sich ein deutscher Soldat zu so schändlicher Handlung hergeben würde. Sie schienen uns oft für reine Engel zu halten und taten immer sehr entrüstet, wenn wir für Verfehlungen irgendwelche, uns wenigstens plausible Entschuldigungen vorbrachten.

Im Allgemeinen waren die Japaner bestrebt, nach ihren Begriffen, für menschenwürdige Behandlung, Unterkunft und Verpflegung der Gefangenen zu sorgen. Wenn wir allzuviele Übertretungen mit deutscher Eigenart und Sitte zu entschuldigen suchten, gaben sie uns zu verstehen, dass sie auf deutsche Sitte keine Rücksicht zu nehmen brauchten und erinnerten uns daran, dass wir Kriegsgefangene seien. Nun, darin verstanden wir die Japaner, ohne es ihnen einzugestehen. Sie zeigten, dass sie Nationalgefühl hatten und sich nichts von uns gefallen ließen. Wir waren meist verstimmt, nicht nur über den traurigen Ausgang unseres Kampfes in Tsingtau, sondern auch über jeden Monat, in dem wir vergebens auf das Ende des Krieges gewartet hatten, über unser tatenloses, zweckloses Dasein. Die Japaner ließen uns oft merken, dass sie für unsere Missstimmung Verständnis hatten, empfanden aber auch, dass wir nicht bemitleidet sein wollten, dass wir immer eine gewisse Geringschätzung gegen sie zeigten. Wir fühlten uns als in der Kultur höherstehend, als Angehörige der deutschen Heimat, die siegreich aus dem Weltkriege hervorgehen musste und glaubten, ebensowenig auf japanische Eigenart Rücksicht nehmen zu müssen, wie die Japaner auf unsere Sonderwünsche Rücksicht nahmen. So blieb das Verhältnis zwischen uns und den Japanern immer gespannt.

An die von den Japanern herausgegebene Lagerordnung, die wie schon erwähnt in einer Menge von Vorschriften bestand, hatten wir uns bald gewöhnt. Morgens 7 Uhr war Wecken, dann Quartierreinigen und Frühstück, um 8 Uhr Antreten am Hofe zur Musterung auf Vollzähligkeit, dann wurden die Leute zur Arbeit für die Küche, zum Kartoffelschälen, Wassertragen etc. eingeteilt. 12 Uhr Mittagessen, abends 6 Uhr wieder Musterung, 8 Uhr mussten alle Lichter in den Räumen gelöscht und alle Gefangenen in den Zimmern sein. Außer den Arbeiten für die Küche und Reinigungsdienst auf dem Hofe und in den Häusern wurden wir vorläufig zu keiner anderen Arbeit herangezogen. Einmal wöchentlich konnte jeder in der primitiven Badeanstalt im Lager in warmem Wasser baden. Jeden Monat war »ärztliche Untersuchung« der Gefangenen, die dabei nur gewogen und vom japanischen Arzt kurz angesehen wurden. Zu jeder Tageszeit gingen Posten durch alle Häuser, sahen strenge darauf, dass nicht in den Zimmern geraucht wurde und dass keine japanischen Holzkohlenöfen angemacht wurden. Dass wir uns aus alten Holzstücken Bettläden machen würden, daran hatten die Japaner nicht gedacht. Der diensthabende Offizier war jedenfalls sehr erstaunt, als er eines Tages in vielen Zimmern Gefangene in Betten aus Holzstangen, mit Strohmatten garniert, liegen sah. Es wurde zunächst verboten, noch mehr solche Betten zu machen, aber heimlich zimmerte dann sich noch jeder ein Bett, der noch keines hatte, und die Japaner ließen die Sache auf sich beruhen. In den Wintermonaten froren wir in den dünnen Decken, hinter den leichten Wänden jede Nacht fürchterlich. Trotzdem wir die Räume immer sehr reinlich hielten, gab es in den Strohmatten immer ganze Schwärme von Flöhen. Man konnte sich ihrer nie erwehren und verbrachte jede Nacht in Ärger und Unruhe, Man freute sich jedesmal auf den Tagesanbruch. Tagsüber hatte man wenigstens Zeit zu Sport und Spiel, konnte sich durch Bewegung erwärmen, im Hofe sich wenigstens einer gewissen Freiheit erfreuen, oder auf den Veranden sitzen, lesen oder das Straßenleben beobachten.
 

Hoffen und Bangen

Monate vergingen, und fast jeden Tag brachten die Zeitungen, japanische und englische, die von sprachkundigen Reservisten übersetzt wurden, Nachrichten vom europäischen Kriegsschauplatze. Sie erweckten immer wieder Hoffnungen auf baldige Heimkehr, zerstörten die Hoffnungen wieder, vertrösteten auf unbestimmte Zeiten. Manchmal kamen auch deutsche Zeitungen an. Sie sagten uns nicht mehr als die anderen. Wir wurden misstrauisch gegen alle Neuigkeiten, verfielen in Gleichgültigkeit. Der Schatten der Verzweiflung stand oft deutlich auf manchen Gesichtern. In den ersten Monaten lebte ich noch in den frischen Erinnerungen an Tsingtau, schrieb alles, was des Erwähnens wert schien, gewissenhaft nieder. Das Gefühl, dass unsere Erlebnisse auch für die Heimat von Interesse sein mussten und die Heimat unseren Kampf im Geiste miterlebt hatte, wie wir den fernen Krieg im Geiste miterlebten, war noch vorherrschend. Hatten wir doch auch gewissermaßen für die Ehre des Vaterlandes, für die Zukunft gekämpft, unter Verhältnissen, wie sie wohl nie wiederkehren würden. Jedoch die Vergangenheit verblasste bald in wehmütiger Erinnerung. Im grauen Alltag des Lagerlebens, im Bewusstsein, nicht im geringsten zum Erfolg der Kämpfe in der Heimat beitragen, nichts für die Gestaltung unserer eigenen Zukunft tun zu können, wurde uns die Gegenwart verbittert.

Man suchte durch Beschäftigung, Lesen, Zeichnen, Schnitzen, Basteln, sich darüber hinwegzutäuschen, dass man vom Leben ausgeschaltet war. »Der Geist ist frei«, suchte man gegen das Schicksal zu höhnen und empfand bald umso bitterer, dass der Freiheit des Denkens gegenüber die Freiheit des Handelns auf Tätigkeiten beschränkt war, die nur als Zeitvertreib dienten und dem einzigen uns erstrebenswertem Ziele, der Freiheit, nicht näherführen konnten. Ich mochte auch kein Tagebuch führen; zu kleinlich waren die Erlebnisse im Lager. Es waren viele Bücher von gemeinnützigen Körperschaften aus Deutschland und Ostasien ins Lager gekommen. Viele suchten irgend ein Studium zu beginnen. Das Missliche dabei war, dass jeder, der sich an eine solche Arbeit machte, sich damit auch ein bestimmtes Ziel setzte, das er in einer gewissen Zeit zu erreichen hoffte, dass er dann, immer zwischen Hoffnung und Enttäuschung über die Lage in Europa, sich immer neu zur Weiterarbeit aufraffen musste und keine bestimmte Zeit für die Vollendung der Arbeit vor sich sah. So machten diese sich für überlegen haltende Leute die seltsame Erfahrung, die anderen beneiden zu müssen, die in den Tag hinein lebten. Diese letzteren hatten anscheinend unbewusst das bessere Teil erwählt, indem sie, ohne betäubende Mittel anzuwenden, die Schmerzen hundertmal getäuschter Hoffnung voll auskosteten. Sie waren nach einiger Zeit gegen Enttäuschungen abgehärtet, während die Voreiligen, die durch zeitvertreibende Beschäftigung ihren Sinn von der Trostlosigkeit unserer Lage abzulenken suchten, endlich aus ihrer Narkose erwachten und die Unzulänglichkeit ihrer Mittel in unserer Lage einsehen mussten, was für sie bitterer war als für die, welche sich im Voraus um nichts als um die Nachrichten kümmerten, die aus der Heimat und von den Kriegsschauplätzen kamen.

Freilich wurde bei allen die Kraft zu neuer Hoffnung immer wieder gelähmt dadurch, dass die Nachrichten aus der Heimat monatelang keine Änderung der Kriegslage erkennen ließen oder monatelang keine Post kam. Selbst aus den japanischen und englischen Zeitungen erfuhren wir zwar von Erfolgen unserer Truppen. Eine große Karte vom europäischen Kriegsschauplatze war von irgendwo her ins Lager gekommen und in einem Hausgange zur allgemeinen Ansicht an die Wand geheftet worden. Wir steckten nach den eingegangenen Nachrichten die Kampffronten mit kleinen Flaggen ab. Oft standen auch Japaner, Offiziere und Mannschaften, vor der Karte und ließen sich von uns die Lage erklären. Noch im Winter 1914-15 schienen die Japaner von dem endgültigen Siege der Mittelmächte überzeugt. Japanische Zeitungen brachten oft zwischen den Zeilen und auch offen ein gewisses Bedauern darüber zum Ausdruck, dass Japan zu den Feinden Deutschlands zählte. Später, etwa vom Frühjahr 1915 ab, fiel es keinem der Japaner, dem wir Erfolge unserer Truppen auf der Karte erklärten, noch ein, auf unsere davon abgeleiteten optimistischen Schlussfolgerungen zustimmend einzugehen. Den Japanern schien die Weltkarte und die darauf sichtbare Vorherrschaft der Alliierten im Kopfe »geläufiger« zu sein als uns, schien die Größe der Länder unserer Feinde der schlagendste Beweis für deren Sieg.

Wir selbst ließen uns unseren Optimismus über den Kriegsausgang nicht nehmen und wurden darin von Heimatzeitungen immer wieder bestärkt. Allerdings wird jedem von uns, der feindliche Zeitungen mit deutschen verglich, die Überlegenheit des feindlichen Pressekampfes, der feindlichen Propaganda gegen die Mittelmächte in der weiteren Welt klar. Klar war vor allem, dass es dem feindlichen Pressedienst weniger darauf ankam, »wissenschaftliche Beweise« zu liefern, als vielmehr gegen die Mittelmachte, wenn auch mit Lügen, zu hetzen. Diese Hetze schien uns schlimmere Wirkung zu haben als die materielle Übermacht der Feinde. Wir verstanden, dass die Entscheidung zu Lande nicht mehr von heute auf morgen fallen konnte, nachdem sich die Armeen im Stellungskampfe festgebissen hatten, ahnten wohl auch, dass die Zeit nicht für uns arbeitete, dass alles, Armeen und Flotte, zu einem entscheidenden Schlage eingesetzt worden musste, wenn noch ein voller Sieg errungen worden sollte. Wir verstanden nicht, warum unsere Flotte zurückgehalten wurde, wir wurden misstrauisch gegen alle Pressemeldungen, mochten sie aus Deutschland, aus feindlichen oder neutralen Ländern kommen, und gerieten bei Nachrichten von größeren Erfolgen unserer Truppen doch auch wieder in überschwängliche Begeisterung, aus der man dann umso tiefer in Hoffnungslosigkeit und Gereiztheit verfiel, je öfter die Hoffnungen enttäuscht, die freudigen Nachrichten als bedeutungslos für den Ausgang des Krieges erschienen waren.

Festtage seelischer Erhebung aus dem »toten Sein« waren die, allerdings seltenen, Tage, in denen Post aus der Heimat ankam. »Für dich ist Post da«, das war der Ruf, der jeden, dem er galt, zu neuem Leben erweckte. Ob es ein Paket, eine Karte oder ein Brief war, der Empfänger schwelgte wochenlang in Seligkeit über den Gruß aus der Welt der »Lebenden«. Nie werde ich die erwartungsvollen Gesichter vergessen, die unseren Feldwebel umdrängten, wenn er mit einem Bündel Postsachen in der Hand vom japanischen Büro ins Haus kam und anfing, die Namen aufzurufen, nie die strahlenden Blicke, mit denen der glückliche Gefangene seinen Brief oder seine Karte entgegennahm, nie aber auch die niedergeschlagenen Mienen, mit denen Nichtaufgerufene still sich vom Platze schlichen und von weitem zusahen, wie die Glücklichen ihre Heimatspost lasen, nein, verschlangen. Zeitungsnachrichten verblassen immer im Gedächtnis, wurden überholt und beiseite geworfen, geschriebene Grüße und Nachrichten von Lieben aber bewahrte man wie Heiligtümer, holte sie immer wieder hervor. Wenn monatelang die Zeitungen nichts vom Kriege meldeten als etwa: »Artilleriekämpfe im X-Abschnitt«, »Teilerfolge bei Y«, »Im Z-Abschnitte ist die Lage unverändert« usw. und die Gefangenen wieder in eine Art von tierischer Phlegmatik verfallen waren, so konnte ein Gruß von Lieben, eine Nachricht, dass es ihnen oder »ihr« noch gut gehe, allen drohenden Pessimismus über die Kriegslage verscheuchen. Dann flammte die Lebensfreude wieder auf, die Lust zu irgend einer Beschäftigung und selbst das Interesse an der fremden Umgebung.
 

3. Kontakte und Beobachtungen

Einzelne von den vielen Passanten, die wir von den Veranden aus täglich betrachteten und um ihre Freiheit beneideten, waren im Laufe der Zeit sozusagen gute Bekannte von uns geworden, obwohl wir sie meist nur sahen, im besten Falle uns durch Gesten oder kurzen Gruß mit ihnen verständigen konnten. Besonderes Interesse für uns zeigten immer die japanischen Studenten, die am Lager vorbeikamen. Dass sowohl von nüchternen als auch von angeheiterten, gebildeten oder in Bildung begriffenen japanischen Jünglingen den Gefangenen deutsche Worte zugerufen wurden, wunderte uns weiter nicht. lch habe nie gehört, dass uns von Studenten unfreundliche oder gar beleidigende Worte gesagt worden wären. Es kam besonders im ersten Jahre sogar sehr oft vor, dass japanische Studenten deutsche Lieder sangen, wenn sie am Lager vorbeikamen, und wir glaubten zunächst unseren Ohren nicht trauen zu können, als wir sie, mit fremdem Akzent zwar, aber in richtiger Melodie singen hörten: »Deutschland, Deutschland über alles« oder »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« oder »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«. Diese drei Lieder schienen in allen höheren Schulen Japans bekannt zu sein, und wir hörten die vertrauten Melodien auch zuweilen in Privathäusern der Nachbarschaft am Klavier oder Harmonium gespielt. Später wurden uns diese auffallenden Sympathiekundgebungen allerdings seltener zuteil als im ersten Jahr unserer Gefangenschaft. Dennoch zeigte wenigstens das gewöhnliche Volk in den Straßen, die am Lager vorbeiführten, dass man mit den Deutschen sympathisierte.

Zwischen den Gefangenen und einzelnen Japanern, die in der Nähe wohnten oder deren Gang täglich am Lager vorbeiführte, hatte sich im Laufe der Zeit ein gewisser freundlich-nachbarlicher Verkehr angebahnt, der sich zwar nur in Gesten und harmlosen Worten bemerkbar machte, aber doch dazu führte, dass sich schließlich Gefangene und japanische Zivilisten wie alte gute Bekannte täglich grüßten, wenn auch meist nur von weitem. Zunächst waren wir auf diese Weise mit dem japanischen Zeitungsträger, der täglich morgens, mittags und abends mit seiner Mappe vorbeikam, gewissermaßen »gut Freund« geworden. Er war ein junger kleiner Bursche, von uns Fritz genannt, hatte bald begriffen, dass wir immer das Neueste vom Kriege von ihm erfahren wollten. Er steckte uns denn auch oft, wenn der Torposten nachsichtig oder unaufmerksam war, Zeitungen oder Telegrammblätter zu, die dann von sprachkundigen Kameraden ins Deutsche übersetzt wurden. Oft war auch ein grimmiger Posten am Tore, der Fritz nicht heranließ. Dann zeigte uns dieser wenigstens von weitem immer die Kriegslage an. Für uns war es schon viel, zu wissen, ob es wichtige Neuigkeiten gab oder nicht, und Fritz war da im Anzeigen des »Wetters« ziemlich geschickt und zuverlässig. Zeigte er beispielweise schon von weitem eine bedauernde Miene und klopfte verächtlich auf seine Mappe, dann gab es nichts Neues von Bedeutung; lachte und nickte er jedoch und schwang seine Mappe dabei, dann stand unsere Sache am europäischen Kriegsschauplätze gut.

Durch besondere Freundlichkeit war uns unter den vielen Straßenpassanten eine junge Japanerin, die täglich am Morgen und Abend um die gleiche Stunde das Lager passierte, bald aufgefallen. Sie war schlank, immer sauber, mit Kimono und dunklem, nach europäischer Art gemachtem Faltenrock bekleidet, mochte Lehrerin oder »höhere Tochter« sein, sah immer etwas kindlich-schüchtern zu uns nach der Veranda herauf und erwiderte stets lächelnd und mit Verbeugung, die bessere Bildung verriet, unser »Ohayo« (Guten Morgen) oder »Konbanwa« (Guten Abend) und unsere sonstigen Zurufe. Ein Kenner japanischer Mädchennamen hatte für sie den Namen »Otomisan« gewählt; sie hörte auch darauf, blieb immer gleich höflich, selbst auf ziemlich aufdringliche Zurufe hin, bewahrte bei aller Freundlichkeit stets einen vornehmen Ernst, sodass wir geradezu für sie schwärmten und offensichtlich jeder von ihrem Gruße beglückt war.

»Musume« (das Mädchen) nannten wir die nicht mehr sehr jugendliche Aufwärterin des Lagerbüros, die täglich über den Hof kam. Sie war klein und mollig, manchmal etwas unsauber in ihrem Äußeren, hatte primitive Manieren und glich damit, wie mit ihren vollen glänzenden Backen und dem herausfordernd freundlichem Blick, einigermaßen dem Typ des deutschen Dienstmädchens vom Lande. Sie ließ sich gerne von uns necken und quittierte weitere Annäherungsversuche gewöhnlich mit heftigem, geziertem Lachen, Einige Kameraden rühmten sich, mit Musume in intimere Beziehungen gekommen zu sein, was mir sehr glaubhaft schien. Mir steckte sie einmal heimlich ein Bild von ihr zu, das mir leider später verloren ging oder von einem guten Kameraden geklaut wurde.

Gegenüber unserem Hause, an der breiten Verkehrsstraße, in der die Trambahn fuhr, wohnte in einem niedlichen zweistöckigem Holzhause eine Schönheit von einer japanischen Frau mit einem herzigen, etwa dreijährigen Kinde. Sie fiel uns durch ihr stilles, vornehmes Wesen, ihr frisches, rosiges, ungeschminktes Gesicht und durch die Sauberkeit ihrer Kleidung und ihres Heimes auf. Sie schien etwas träumerisch und vereinsamt, trotzdem sie tagsüber immer mit ihrem Kinde und mit häuslichen Arbeiten beschäftigt war. Manchmal sah sie längere Zeit wie träumend zu uns herüber, und wir glaubten in ihrem schönen Gesichte Mitgefühl und Verständnis für unsere Lage lesen zu können. Abends konnten wir im Scheine der Straßenlampen durch das Holzgitter ihres Schlafzimmers sehen, wie sie ihr Kind auf den Mattenboden in Decken bettete, dann eine gute Weile mit hochgehobenen Armen Verbeugungen, religiöse Zeremonien – Freiübungen, sagten wir – machte und sich dann neben das Kind in die Decken legte. Erst nach einigen Monaten kamen wir auf eine Erklärung ihres immerhin seltsam einsamen Lebens. Da kam von Zeit zu Zeit, etwa immer nach mehreren Wochen, ein schlanker Herr, offenbar ihr Gatte, eine ernste Seemannsgestalt mit hellem Mantel und Schiffsoffiziersmütze an das Haus, wurde von der Frau mit vielen Verneigungen an der Türe empfangen und hineingeführt. Am nächsten Tage sah man sie dann mit dem Manne, der Handelsschiffsoffizier sein mochte, und mit dem Kinde durch die Straße spazierengehen, sie heiterer als sonst, er immer gleichmäßig vornehm und ganz Kavalier, beide abwechselnd mit dem Kinde scherzend, beide offensichtlich beglückt durch das Zusammensein und erhaben über das gewöhnliche Straßenvolk. Meist nur einen Tag dauerte dieses Glück. Dann war sie wieder wochenlange mit ihrem Kinde allein. Wir empfanden eine Art Hochachtung vor ihrer Tapferkeit, mit der sie die Einsamkeit ertrug, und freuten uns an ihrem Glücke, unternahmen darum keinen Versuch, sie durch Gesten oder Worte zu stören.

Im Allgemeinen konnten wir vom japanischen Volksleben nur Äußerlichkeiten beobachten, doch auch diese verrieten oft deutlich, dass im japanischen Familien- und Gesellschaftsleben hohe Kultur zu finden war. Wenn auch die breite Masse des Volkes in ärmlicheren wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, als etwa die deutsche Volksmasse zu leben gewohnt ist, so steht das japanische Volk wohl geistig, kulturell der deutschen breiten Masse nicht viel nach. Schon der Wissensdurst oder Bildungsdrang der Japaner und die vielen Volks- und höheren Schulen in Japan zeigten dies. Von den Japanern aus niederen Volksschichten, den Handwerkern, Monteuren, die im Lager zu tun hatten, von Arbeitem, die Holz, Kohlen und Lebensmittel hereinbrachten, von den Verkäufern in der Lagerkantine, von Büroboys und anderen Japanern der unteren Schicht könnte, nebenbei erwähnt, vielleicht mancher weiße Mann aus dem Volke, mancher nur zivilisierte Proletarier des Westens noch an Höflichkeit und Takt etwas lernen, Es liegt im gesellschaftlichem Verkehr der Japaner untereinander und mit Fremden immer ein gewisser kindlich-schwärmerischer Zug, eine Art leichtsinnige, scherzhafte Lebensauffassung, die vielfach zu Unrecht als Falschheit gedeutet wird. In japanischen Festlichkeiten bemerkten wir oft jene Eigenart, die aus einer Mischung von kindlich-schwärmerischer Poesie, idealistischen Gesten und Aberglauben zu bestehen scheint.

Im April 1915 konnten wir zum ersten Male das Fest der Kirschblüte sehen, wenigstens soweit es sich in der Nähe des Lagers abspielte. An einem sonnigen Morgen zogen durch die breite Verkehrsstraße lange Züge von Schulkindern. Ein Zug von hell und bunt gekleideten Schulmädchen mit weiß und rötlich blühenden Kirschbaumzweigen hielt gegenüber dem Lager an, nahm Front zu uns und führte einen reizenden Tanz auf. Es war ein überaus farbenprächtiges, lebhaftes Bild, wie die zarten, geschminkten Mädels mit ihren blumengeschmückten Köpfchen und aufgehobenen, rhythmisch bewegten Ärmchen singend in Reihe vor und zurück tanzten und sich immer wieder gegen uns verneigten, eine Art Puppenreigen, der sich auf jeder großen Varietebühne hätte zeigen können. Wir klatschten reichlich Beifall. Die Häuserfronten und sogar die Dächer und Fenster der Straßenbahnzüge waren mit blühenden Kirschbaumzweigen geschmückt, und die meisten Straßenbummler trugen solche blühende Zweige in Händen oder an die Kleider gesteckt. Die Großen wie die Kleinen zeigten feierliche Mienen, begrüßten den Frühling.

Am Strande, in der Nähe des Lagers, war ein luftiger, an allen Leiten offener Holzpavillon, auf hohen Pfählen über dem Wasser stehend. Er gehörte zu dem Teehause, zu dem ein kurzer Steg an den Strand führte. In den schönen Sommernächten waren oft lustige Zecher bis nach Mitternacht in dem von Lampions erleuchteten Pavillon. Von der östlichen Veranda unseres Hauses, die über dem Strande »schwebte«, konnten wir beobachten, wie die Zechbrüder und Geishas in leichten Kimonos am Boden sitzend schäkerten und sangen. Manchmal schien die ganze Gesellschaft stark angeheitert. Dann tanzten Männlein und Weiblein in Reihen, in ausgelassener, lärmender Fröhlichkeit, eine Art Française, während andere, am Boden hockend, gitarrenähnliche Instrumente (Samisen) von seltsamem Klange spielten. Dazwischen wurde Tee und wohl auch Reisschnaps und Wein (Sake) getrunken, bis alle nur mehr torkeln und lallen konnten. Trotzdem es sehr laut herging und das Geschrei mitunter recht wild, ja tierisch anmutete, hatte so eine Festlichkeit immer das Aussehen eines ausgelassenen, aber harmlosen Kinderspieles. Wir hätten, selbst wenn wir so angeheitert gewesen wären, sicherlich nicht in diese Gesellschaft gepasst, beneideten sie aber oft um ihre Fröhlichkeit und Freiheit, sahen gerne zu und mussten noch vorsichtig sein, dass uns die Posten zu später Nachtstunde, da wir eigentlich schlafen sollten, nicht auf der Veranda kitschten.

An drückend heißen Sommerabenden liefen oft Trupps von nackten, nur mit Badehosen bekleideten, braunen Gestalten durch die Straßen. Wir hielten diese Läufer zunächst für Sportler, kamen aber dann darauf, dass ihr seltsames, keuchendes Geschrei, das einen gewissen Rhythmus hatte und sich anhörte wie "hussa... hussa... haaa...", eine besondere Bedeutung haben musste. Unheimlich, gespensterhaft sahen diese dunklen jagenden Haufen mit ihren verzerrten Gesichtern und ihrem tierischen Keuchen aus. Wir nannten sie »Lützows wilde verwegene Jagd«. Der japanische Arzt, den wir nach der Bedeutung dieser Rennen fragten, sagte uns: »Jetzt lange nicht geregnet, Felder sehr trocken, böse Geister haben Trockenheit gemacht, Japaner laufen abends durch die Straßen und verjagen böse Geister.« Auf unsere Frage an den Arzt, ob er selbst an die bösen Geister glaube und an die Möglichkeit, dass sie durch das Laufen und Geschrei verscheucht werden könnten, sagte er nur achselzuckend und lächelnd, er könne das nicht sagen. Er wollte jedenfalls nicht für abergläubisch gelten, eine japanische Sitte aber auch nicht von uns lächerlich gemacht sehen.

Unvergesslich bleibt mir auch der japanische Flötenspieler, der jeden schönen Sommerabend stundenlang unserem Lager gegenüber am jenseitigen Ufer des Flusses saß und seine Flöte spielte, eine immer gleichbleibende Melodie, »dülii...luu...lülilü...luu..lüluu...lii«, stundenlang und mit einer Feinheit des Klanges, melancholisch und einförmig, dass man davon immer wieder angezogen und zu Träumereien verlockt werden konnte. Ich glaube, diese Töne bargen alle Klangschönheiten eines großen Orchesters in sich.
 

4. Kultur im Lager

Was blieb uns in unserer Lage anderes übrig, als in das wenige Schöne, das sich uns bot, uns zu vertiefen, um zeitweise die Qual des Wartens zu betäuben. Der Durst nach Freude und Schönheit war es, der unsere Lager-Künstler auch dazu brachte, sich selbst in den schönen Künsten zu versuchen. Dichter und Poeten fanden hier wohl nie die nötige Ruhe zum Schreiben, man war schon froh, wenn man Werke der schönen Literatur, wie sie in der Lagerbücherei zu bekommen waren, in Ruhe lesen konnte. Besser hatte es schon der zum Malen Talentierte, wenn auch er vielen Störungen von Seiten der Kameraden ausgesetzt war. Man sah, was er vollbrachte oder vollbringen wollte, und ließ ihn meist in Ruhe. Ein »Dichter« aber konnte sich nicht zuschauen lassen. Am erfolgreichsten waren schließlich die Musiker und die – Schauspieler.

Ein ehemaliger Dirigent am Konservatorium in Schanghai, Obermaat der Reserve [Millies], war es, der in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Musikkapelle zusammenbrachte, die von einfachen Volksliedern, Militärmärschen und Schlagern zu höherer Musik überging und schon nach mehreren Monaten Opernstücke, Sinfonien, Stücke von Wagner, Felix Mendelssohn Bartholdy, Grieg usw. in einer Vollendung brachte, wie man sie besser wohl in keiner großstädtischen Oper oder Musikhalle zu hören bekommt. Obermaat Millies probte fast jeden Tag mit seiner etwa vierzig Mann starken Kapelle, mit Streich- und Blasorchester. Schon seinen Proben zuzuhören, war ein Hochgenuss, denn er verstand es, auf originelle Art seinen Musikern die Idee eines Stückes und der einzelnen Stellen verständlich zu machen. Er erklärte ihnen beispielweise, wie in einer Stelle das Säuseln des Windes oder das Flimmern des Meeres, die sprühenden Farben eines Urwaldstrandes, der tappende Gang der Gnomen, die Ruhe des Waldes, die Gewalt des Sturmes, die Feierlichkeit eines königlichen Aufzuges oder das Erlöschen eines Sterbenden in der Musik dargestellt werden musste. Auch der Laie konnte dann bei der Generalprobe oder gar bei den »öffentlichen« Konzerten im Lager, zu denen richtige Programme verteilt wurden, Zusammenhang und Sinn schwieriger Stücke erfassen.

Einige kunstbegabte Elsass-Lothringer waren es, die auch eine Schauspielertruppe heranbildeten. Sie übten als erstes Stück, da sie sich anscheinend ihrer großen Fähigkeiten bewusst war, gleich Schillers »Räuber«. Die Proben fanden im großen Speisesaal von Haus 2 statt. Für die große Vorstellung wurden dann die nach der Hofseite zu liegenden Papierschiebewände weggenommen und ein Vorhang angebracht, sodass man den großen Hof als Zuschauerraum hatte. Die Japaner legten unseren Kunstjüngern nichts in den Weg. Es kostete dennoch viel Mühe, die Dekorationen, Kulissen und Kostüme zu beschaffen, aber die Gefangenen brachten mit ihren geringen Mitteln alles her, und ich behaupte, dass allein das Bühnenbild und die Kostüme nicht weniger eindrucksvoll und künstlerisch waren als auf einer Großstadtbühne, wenn man auch nicht die teure Pracht einer solchen entfalten konnte. Einmal wurde eine Probe der »Räuber« von einer japanischen Patrouille, die von unserem Theaterspiel vermutlich nichts wusste, erheblich gestört. Die drei Posten kamen auf ihrem Rundgang durch den Hof ahnungslos an der Bühne vorbei, sahen da eine Waldlandschaft, seltsam gekleidete Männer, die Reden schwangen, Schwerter zückten. Als dann gar der Räuber Schweizer den heimtückischen Spiegelberg niederstach, wurde es den drei Japanern zu bunt: Sie stürmten mit gezückten Bajonetten auf die Bühne und zwangen mit Gebrüll und drohenden Waffen die Räubergesellschaft, Franz, die Kanaille, Amalie, den Mönch und den alten, gebeugten Moor, ins japanische Büro mitzugehen. Alle Versuche, den Posten zu erklären, dass es nur Theater war, nützten nichts. Im Büro allerdings klärte der Offizier vom Dienst, Leutnant Suzuki, lächelnd die Lage, und die Schauspieler wurden sofort nach der Bühne entlassen. Die erste »öffentliche« Aufführung der »Räuber«, zu der auch viele Japaner kamen, gelang über Erwarten gut. Diese Schauspieler spielten das Stück nicht, sie lebten es, wenn man so sagen kann. Es war nichts Angelerntes darin zu merken.

Einige Wochen später schon wurde Lessings »Minna von Barnhelm« gegeben. Ich habe das Stück nach meiner Gefangenschaft auf einer Großstadtbühne gesehen, aber ich muss sagen, dass unser Wachtmeister Werner, Major Tellheim, Just und selbst unsere Minna und Franziska in Fukuoka besser waren als in der betreffenden Großstadt, wenn ich auch nicht verkenne, dass wir in unserer Lage als Gefangene leichter begeistert oder doch empfänglicher für die Eindrücke eines derartigen Spiels waren. Dass man mit einfachen Leuten, wie es die Soldaten meist waren, mit den einfachsten Hilfsmitteln, welche zur Bühnenausstattung notwendig sind, ein derartiges feinsinniges Lustspiel überhaupt spielen konnte, war schon bewundernswert. Selbstverständlich wurde auch kein Eintrittsgeld erhoben. Jeder Gefangene fand an dem Theater eine große geistige Erhebung aus dem sonst traurigen und grauen Alltagsleben des Lagers. Den Künstlern selbst war es gewissermaßen Lebenszweck geworden, darum spielten sie so gut.

Als der Winter 1915-16 nahte und man sich nicht mehr soviel außerhalb des Hauses aufhalten konnte, auch in den Buden die Kälte sich bemerkbar machte, schlief der Kunstbetrieb im Lager merklich ein. Die allgemeine Stimmung wurde düsterer, und man lebte wieder etwas stumpfsinniger dahin, von einem Tag auf den anderen, ab und zu durch eine Siegesnachricht aus Deutschland aufgeweckt, im Übrigen aber verbittert oder in Galgenhumor vegetierend. Die Japaner zeigten durch kleine Aufmerksamkeiten, dass sie uns gut gesinnt waren, aber auch durch kleine Schikanen, dass sie unsere Phlegmatik ihren Anordnungen gegenüber nicht dulden wollten. Es ging fast unmerklich irgend eine Veränderung in unserem Gemütsleben vor sich. Wir wurden bissig auf uns selbst, auf alles. Es freute uns nicht mehr, wenn wir von den Japanern kleine Geschenke, Notizbücher, Zahnputzzeug, Bleistifte, Papierfächer, bekamen, wenn wir – unter Bewachung selbstverständlich – einige Ausflüge nach den schönen Parks von Fukuoka machen durften; selbst die Aufregung über Bestrafungen war bei uns und bei den Betroffenen künstlich. Man schimpfte und war froh um die Abwechslung, wenn sie nicht abzuwenden war. Keiner war noch sonderlich bemüht, sich »gut zu führen«, wie man so sagt. Aus der Heimat bekamen wir regelmäßig Liebesgabengeld, pro Mann im Monat 1,30 Yen (2,60 Mark). Da die Lebensmittel, d.h. Esswaren, für unsere Verhältnisse sehr teuer waren und man sich für das Liebesgabengeld doch nur einmal im Monat hätte satt essen können, wir aber vor allem gute Stimmung täglich notwendiger als je brauchten, kaufte man sich für das Geld lieber Zigaretten, die so billig waren, dass man fast im ganzen Monat zu rauchen hatte. Nach unseren Begriffen war das vernünftiger, als einmal im Monat sich satt essen und die übrigen Tage nichts zu haben.

Das Verhältnis zwischen Mannschaften und Unteroffizieren im Lager war bald nicht mehr streng militärisch. Die sich als Menschen gut verstanden, fanden sich frei von militärischen Formalitäten zusammen; die sich nie hatten riechen können, mieden sich. Die Japaner mischten sich meist nicht in die Angelegenheiten, die Mannschaften mit den Unteroffizieren austrugen. Die Unteroffiziere wohnten in Zimmern beisammen und brauchten den täglichen Arbeitsdienst nicht mitzumachen. Im übrigen hatten sie keine Vergünstigungen, und die Japaner kümmerten sich nicht darum, ob Mannschaften für Unteroffiziere Putzerdienst leisteten oder wie das Vorgesetztenverhältnis unter den Gefangenen sich aufrecht erhielt. Nur für die täglichen Musterungen galt die Anordnung, dass die Mannschaften bzw. Korporalschaften beim Antreten den Unteroffizieren zu gehorchen hätten. In jedem Hause war ein älterer Unteroffizier, von den Japanern als »Hausmeister« bezeichnet. Diese Hausmeister hatten täglich im japanischen Büro eine Art Rapport, bei dem Befehle bekanntgegeben, Gesuche und Beschwerden entgegengenommen und etwa angekommene Postsachen ausgegeben wurden. Das Oberkommando über die Hausmeister hatte der älteste Feldwebel.

Unsere Offiziere waren in einem Sonderlager, das etwa ein Stunde von unserem Lager entfernt war. Sie durften nur bei besonderen Anlässen, Gottesdiensten, Weihnachten oder sonstigen Feiern, in unser Lager kommen. Im Allgemeinen kamen wir mit unseren Vorgesetzten gut aus. Es waren nur ein paar Unteroffiziere, die in den ersten Monaten der Gefangenschaft noch Leute wegen eines nachlässigen Grußes oder einer anderen Kleinigkeit zu schikanieren suchten. Diese unverbesserlichen Hochmutspinsel stießen jedoch sofort auf ärgsten Widerstand und auf einen Zusammenhalt unter den Mannschaften, dass sie sich bald still verhielten und uns ganz in Ruhe ließen. Es ging uns deshalb nicht schlechter, wenn sie nicht kommandierten, auch kamen wir deshalb nicht in Unordnung. Die lange Wartezeit hatte in jedem Gefangenen eine Art trotziger Selbständigkeit gebildet, einen Willen, sich selbst die Mittel zu suchen, durch die er sein Los am besten ertragen konnte. Wir fanden militärische Straffheit gut, solange sie ein höheres Ziel hatte, mochte dieses Kampf oder auch nur Parade sein. In Gefangenschaft wollte man nichts davon wissen. Man suchte notgedrungen einen anderen »Sinn des Lebens«.

Man suchte, suchte wie ein Eier im Käfig, das keinen Ausweg findet, ließ den Kopf wieder hängen und brütete manchmal stundenlang vor sich hin. Ein Tier kann sich an die Gefangenschaft gewöhnen. Es kann sich nicht erinnern und kann wohl nicht an eine Zukunft denken. Ein Sträfling im Gefängnis weiß, wie lange er eingesperrt sein wird, kann darum immerhin Pläne für die Zukunft machen. Unsere Zeit der Gefangenschaft war unbestimmt. Unsere Hoffnung lebte heute gewaltig auf und war morgen wieder tief gesunken. Wir konnten uns nicht mehr an die Ereignisse halten, die draußen in der Welt passierten. Wir mussten in uns selbst einen Halt suchen. Mochten die Dinge draußen sich zum Guten oder Schlimmen wenden. Ich setzte mich, ohne ein bestimmtes Ziel dabei im Sinne zu haben, am Neujahrstage 1916 hin und begann ein Tagebuch zu führen. Ich dachte wenig darüber nach, was ich schreiben wollte; ich schrieb eigensinnig auch alle Kleinigkeiten nieder, die sich in unserem Lager zutrugen und suchte nachträglich einen Sinn darin zu finden. Und das Suchen wurde mir zum Vergnügen.
 

5. Weihnachten

Fukuoka, 1.1.1916. — Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen 1915 war bei den meisten der Gefangenen die Finanzlage derart miserabel, dass man voraus sah, die Weihnachtsfeier würde sehr bescheiden ausfallen. Von der Lagerküche war nicht viel zu erhoffen. Auch in geistiger Hinsicht konnte man keinen Aufwand erwarten, denn die allgemeine Stimmung war sehr gedrückt. Infolge längeren Ausbleibens der Heimatspost und Fehlens ermutigender Kriegsnachrichten war man in einer derart wurschtigen Geistesverfassung, dass einem beinahe nichts mehr heilig war.

Aber das Fest wurde doch schöner, als man erwartet hatte. Am Heiligen Abend kamen Briefe, Karten und Pakete aus der Heimat an. Schon jeder Kartengruß aus der Heimat wirkte belebend. Zudem zeigten sich unsere »Master« (Reservisten), meist alte Ostasiaten, die immer Geld besaßen, in der Festtagsstimmung den ärmeren Kameraden gegenüber ziemlich hilfsbereit, bewilligten diesen »Kriegsanleihen«, die oft nicht mehr zurückbezahlt wurden wegen der allgemeinen wirtschaftlichen Not der gewöhnlichen Soldaten. Die Not machte in mancher Beziehung die Leute gewissenlos.

Überraschenderweise lieferte schon am Heiligen Abend die Küche besseres Essen als gewöhnlich. Auf soviel Dusel hin hatten wir uns schließlich aufgeschwungen, die Speise-»Säle« mit Papiergirlanden zu schmücken. Die Japaner waren wegen verschiedener Vorkommnisse, Übertretungen von Lagervorschriften, Kleinigkeiten, die in letzter Zeit passiert waren, nicht so entgegenkommend wie zu Weihnachten 1914. Sie lieferten nicht wie damals für jeden Saal einen Christbaum, sondern stellten nur am Hofe einen Tannenbaum mit Lichtern auf. Immerhin wussten wir auch diese Aufmerksamkeit zu schätzen. Am Heiligen Abend 1914 hatten wir bis nachts 12 Uhr in den Buden Licht brennen und feiern dürfen. 1915 war die »Polizeistunde« auf 10 Uhr abends festgesetzt. Je naoh Finanzlage hatte sich jeder Gefangene mit einem kleineren oder größeren Vorrat von Asahi-Bier in Flaschen und mit Zigaretten versorgt, denn die allgemeine Ansicht war, dass ohne diese Sachen überhaupt keine Feierstimmung aufkäme.

Abends gegen halb fünf Uhr traten wir am Hofe vor dem großen Christbaume zur Feier des Heiligen Abends an. Unser Feldwebel Rosner1 als Lagerältester gab sich nicht viel Mühe, eine große Rede zu halten. Er kannte die Stimmung seiner Leute und mochte wohl denken, er wolle keine Perlen unter die Säue werfen. Im Übrigen war er kein großes Licht vor dem Herrn. So blieb seine Weihnachtsrede ganz der Stimmung angepasst. Er sagte etwa folgendes:

»Aufpassen! Ich hoffe, dass Ihr euch am Heiligen Abend anständig benehmt, nichts kaputt schlagt, keinen Radau macht und euer Bier gemütlich trinkt. Ihr müsst denken, dass Ihr immer noch kultivierter seid als andere Völker. Das Weihnachtsfest ist kein Fest zum Saufen und Krachschlagen. Singt anständig eure Weihnachts- und meinetwegen auch Reservelieder, und wenn einer genug hat, legt er sich in seinen Flohweiher, fällt nicht rum in der Weltgeschichte und macht mir keine Unannehmlichkeiten. Ich bin verantwortlich und werde von den Japanern gefasst für alles. Die japanische Wache steht mir zur Verfügung, und ich kann jeden von euch vom Platze weg verhaften lassen. Also zeigt, dass Ihr Deutsche seid und unser höchstes Fest anständig feiern könnt', Denkt an unsere Kameraden im Felde und an die Heimat. Ich habe gehört, dass eine ›Sache‹ geplant ist. Die unterbleibt gefälligst! Ich möchte damit keine Unannehmlichkeiten haben. Das gehört sich nicht zu Weihnachten, verschiebt es auf ein anderes Mal. So wünsche ich euch allen fröhliche Weihnachten und hoffe, dass Ihr meine Worte beherzigt und mir keine Scherereien macht.«

Ohne dass jemand ein besonderes Zeichen dazu gegeben hatte, stimmten wir das Lied an »Stille Nacht, heilige Wacht« an, das mit seltsam klaren Stimmen gesungen wurde. Wir mussten doch nicht so schlimm sein, dachte ich, denn ich sah lauter andächtige Gesichter, und sogar die Rowdys unter uns schienen mir wie Kinder. Das war unsere »offizielle« Feier. Ziemlich schweigsam gingen wir auseinander. Es fiel keinem ein, auch dem Feldwebel fröhliche Weihnachten zu wünschen. Er war nicht unrecht, aber wir waren zu stumpfsinnig, um an das zu denken, was sich gehört hätte. Im Übrigen lächelte jeder geringschätzend über die »große Rede«.

Die »geplante Sache«, von der Rosner gesprochen hatte, war ein geplanter Überfall auf acht Elsässer, die seit längerer Zeit schon im Verdachte standen, sich mit den Japanern in Verbindung gesetzt zu haben, um in französische Dienste zu kommen.2 Man erzählte sich von diesen Franzosenfreunden, dass sie die französischen Erfolge bei Arras durch Singen der Marseillaise und mehrere Runden Bier in ihrer Bude, in Haus 5, gefeiert hätten. Ihr Ziel sei, hieß es, in die französische Armee einzutreten. Der französische Botschafter soll sich für die Sache interessieren und die Japaner sollen den Verrätern Vorschub leisten wollen, sodass sie eines schönen Tages unbemerkt von uns aus dem Lager verschwinden könnten. Bestimmtes wussten wir nicht, und es sprach sich auch merkwürdigerweise keiner von uns den Verdächtigen gegenüber offen aus. Diese selbst wichen jeder Anspielung auf den Verdacht aus, gingen stolz im Lager herum, von allen anderen schief angesehen und möglichst gemieden. Am Heiligen Abend war, ich wusste nicht, von wem, ein Überfall geplant auf die Elsässerbude. Ich hörte es nur erzählen. Anscheinend zeigten die meisten von uns keine große Lust, sich an einer Offensive, bei der man den Führer nicht kannte, zu beteiligen. Ich hatte den Verdacht, dass einige Radaubrüder von uns mit den Elsässern persönliche Gehässigkeiten austragen wollten. Darum hielt ich mich zurück, wenn auch abends erzählt wurde, dass die Verdächtigen in ihrer Bude mit Messern bewaffnet auf den Überfall warteten. Ich konnte keine Tatsachen erfragen, die den ausgesprochenen Verdacht, dass die Elsässer für den Übertritt zu den Franzosen schwärmten, gerechtfertigt hätten.

Von den japanischen Offizieren hatte an dem Abend der Zahlmeister Kumamoto Dienst im Lager. Er galt als deutschfreundlich, verstand aber kein Wort Deutsch. Wegen seines gebückten Ganges hatte er den Spitznamen »Krummamoto« bekommen. In unserem Zimmer, wo wir die Decken gerollt hatten und auf den blanken Matten saßen, feierte ich mit vier meiner besten Freunde bei einigen Flaschen Asahi-Bier einige Stunden. Es wollte keine rechte Stimmung aufkommen, vielleicht weil wir partout von der Heimat schwärmen wollten. Wir hatten uns nichts zu erzählen, als was wir uns seit Jahr und Tag hundertmal erzählt hatten. Eine Viertelstunde beratschlagten wir, welches Lied wir singen wollten. Dann, als wir das »Seemannslos« anstimmten, stellte sich heraus, dass Pickel, Bertold und Brusinsky3 geradezu fürchterliche Singstimmen hatten und alles verpatzten. Missgestimmt verdrückte ich mich nach einiger Zeit mit meinem Landsmann Gleixner nach dem Zimmer der 10. Korporalschaft, wo es gleich gemütlicher herging. Böttcher4, ein zünftiger Hamburger, und ein paar Landsleute aus Franken waren schon etwas benebelt. Der Hamburger begann bereits »urbayerisch« zu singen. Da kamen wir gerade recht! Wir tranken und sorgten dafür, dass die Lieder nicht ausgingen. »Der Bua der is trauri auf die Oim auffistiegen, ja weil eahm sei Reserl is nimma treu bliem.« »Kennst du das Tal im Alpengrün.« Immer wieder fiel uns ein anderes Lied ein. Zuletzt kamen wir noch auf »Stille Nacht«, schwärmten schließlich von unserem letzten Heimatsurlaub zu Weihnachten 1912, von Cuxhaven und von der Ausreise, nichts vom Kriege, nichts von einer Hoffnung auf baldige Heimkehr wurde erwähnt. Es war, als fürchtete jeder, mit dem Gedanken an die Zukunft die Stimmung zu verderben, als wäre nur mehr die Vergangenheit erwähnenswert.

Punkt zehn Uhr begann der japanische Hornist auf der Straße Zapfenstreich zu blasen. Er wiederholte das Signal öfter wie sonst. Aber wir waren gerade im besten Erzählen und blieben fest auf der Strohmatte sitzen. Erst um halb zwölf Uhr wurde es uns, das heisst mir und dem Landsmann Gleixner, doch ungemütlich, und wir wankten ziemlich angeheitert die zierliche Treppe hinunter unserer Bude zu. Kumamoto stand im Hausgang und lächelte, nachsichtig nickend, als wir ihn etwas herablassend grüßten. Unser Feldwebel Rosner begegnete uns mit besorgtem Gesichte und sagte: »Nun ist's aber höchster Poeng!« (Bei uns gebräuchlicher Ausdruck für »höchste Zeit«, Pointe = Spitze). In unserer Bude schlief schon alles. Aus anderen Zimmern hörten wir noch Singen und Radau. Am nächsten Morgen sah man verschiedene Kameraden mit blauen Flecken im Gesichte, die von Stürzen oder kleinen Keilereien herrühren mochten, im Lager herumlaufen. Auch einige Papierwände waren in Fetzen gegangenen. Es war jedoch nicht eingetroffen, was man befürchtet hatte: Reibereien mit der japanischen Wache, auch nicht was man gehofft hatte: ein Verprügeln der Franzosenfreunde. Und das war gut

Am Weihnachtstage bei klarblauem Himmel führte ein Flieger über der Stadt Kunstflüge vor. Er zeigte wirklich die waghalsigsten Stücke: Saltos, Sturzflug, seitliches Überschlagen, Flug mit dem Kopfe nach unten. Angeblich war es ein Amerikaner. – Viermal wurde am Weihnachtstage vom japanischen Büro Heimatspost ausgegeben, aber für mich war nichts dabei, und ich war darüber sehr niedergeschlagen. Seit mehreren Wochen haben wir auch keine Zeitung mehr bekommen. Was man Neues vom Kriege erzählte, erweckte allerdings wieder Hoffnungen auf ein baldiges Ende. Ob wahr oder erfunden, wir konnten es nicht prüfen und begnügten uns schon mit der Einbildung, dass an den Gerüchten etwas Wahres sein müsse. »Die Westfront hat sich sehr verändert: Die Deutschen sind bei Arras durchgebrochen, die Armee des deutschen Kronprinzen steht 12 Kilometer vor Paris, die französischen und englischen Armeen im Westen sind erschüttert und zur Aufnahme einer Offensive unfähig. Die Gallipolihalbinsel ist von den alliierten Truppen verlassen, Serbien vollständig erledigt, die Landungstruppen von Saloniki sind zu spät in Macedonien erschienen und in die Klemme geraten, ein englisches Regiment ist von Reuter als vermisst, von den Bulgaren als beerdigt gemeldet. Deutsche, österreichische und bulgarische Truppen sind in Konstantinopel angekommen, der Weg zum Suezkanal ist frei, und 200 000 Mann deutscher Genietruppen sind am Kanal beim Wege- und Bahnbau. Aufstände in Indien, regere Tätigkeit unserer U-Boote im Mittelmeer, Zusammenziehen starker deutscher Streitkräfte an der bessarabischen Grenze. Starke Friedenswünsche der Alliierten.« Die Gerüchte stammen von Japanern aus dem Lagerbüro. In den japanischen und englischen Zeitungen sollen die Meldungen stehen. Einen Teil davon glauben wir bestimmt, aber sonderbar, keiner weiß, welchen Teil.

Die beiden Weihnachtsfeiertage sind gut vergangen. Die Küche hat als Zulagen sogar Nüsse, Äpfel und Lebkuchen geliefert. Von woher sie die Sachen bekommen hat, ist uns gleichgültig, wir wollen allen Spendern dankbar sein, wenn wir uns erkenntlich zeigen können. Nur nicht mit Worten! Man lasse uns handeln!
 

Anmerkungen

1.  Der Name »Rosner« ist unbekannt. Von den vier Feldwebeln im Lager Fukuoka kommt am ehesten Rosenberg (MAK 3) in Frage.

2.  Siehe die Aufstellung über die Elsass-Lothringer.

3.  Alle drei Namen (Spitznamen?) sind unbekannt.

4.  Möglicherweise ist Bötjer gemeint.
 

©  für diese Fassung: Hans-Joachim Schmidt
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