Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Erster Weltkrieg – Sommer und Herbst 1914«

von Ludwig Wieting
 

Der zweite Teil der »Lebenserinnerungen« von Ludwig Wieting ist relativ kurz und beschreibt sehr nüchtern seinen Kriegseinsatz.

Die hier benutzte, von Frau Ingemarie von Hallen erstellte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von der Familie zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt und Absätze zusammengefasst. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in den Fußnoten.

Übersicht:

  1. Nach Tsingtau
  2. Im Kriegseinsatz

 

[1. Nach Tsingtau]

Die chinesische Revolution machte langsame Fortschritte nach dem Sprichwort »Die Berge fürchten die Langsamen« (Shanpa Man); aber Nordchina blieb noch friedlich. Dafür zogen drohende Wolken am europäischen Völkerhimmel auf. Zuerst nahmen wir das nicht so ernst, aber bald wurden wir eines Besseren belehrt. Fassungslos standen wir dem Anbruch des Ersten Weltkrieges gegenüber. Krieg gegen England? Solch ein Quatsch! Wir waren doch hier in China mit den Engländern befreundet und konnten uns gar nicht vorstellen, dass das eine schreckliche Tatsache war. Ohne Erbarmen nahmen die weiteren Ereignisse ihren Lauf, und diejenigen, die früher schon ihren Militärdienst geleistet hatten, bereiteten sich zur Abreise nach Tsingtau vor. Tsingtau war der kleine, befestigte Flottenstützpunkt der Deutschen in der chinesischen Provinz Shantung, und dort mussten die Gedienten sich stellen.

Ich muss hier noch einmal wiederholen, dass der Ausbruch des Krieges mir und auch wohl den meisten anderen Deutschen überraschend kam; aber wir waren den Engländern und den Franzosen sicher zu unbequem geworden, weil unser Handel ihnen zu starke Konkurrenz machte, und mussten deshalb in einen Krieg getrieben werden.1 Und wir waren ungeschickt genug, dann darauf hereinzufallen. Man wollte durch diesen Krieg eigentlich nur erreichen, dass unser Außenhandel, der den anderen großen Nationen schon genug Ärger bereitet hatte, auf das unseren Feinden genehme Maß reduziert wurde. Dass diese Rechnung später nicht so ganz aufging und die Pleite Freund und Feind erfasste, steht auf einem anderen Blatt.

Trotz aller Sorgen, die der Ausbruch dieses Krieges auslöste, hatte er für mich persönlich aber auch eine gute Seite, denn er brachte mir die Möglichkeit oder die Aussicht, mich zu verändern. Irgendwo und irgendwie wollte ich mir nach diesem Krieg einen mir besser liegenden Broterwerb aufbauen, weil ich beruflich mit mir nicht zufrieden war. Nicht in der Firma, wo ich brav meine Arbeit machte und viele nette Menschen um mich hatte – aber ich hatte längst feststellen müssen, dass ich mich zum Kaufmann nicht gut eignete, und so war ich bisher vernünftig genug, den Spatz in der Hand zu behalten und nicht der Taube auf dem Dach nachzujagen.

Da mein Militärverhältnis noch nicht festgelegt war (Ersatzreserve), wurde ich nicht einberufen und war auch nicht meldepflichtig; aber welcher junge Deutsche hätte sich damals vor dem Wehrdienst gedrückt? Ich empfand, dass es meine selbstverständliche Pflicht war, das angegriffene Vaterland mit zu verteidigen. So reiste ich denn per Eisenbahn – die Pukaubahn war gerade bis Tientsin fertig geworden – nach Tsingtau2 und meldete mich freiwillig bei dem III. Seebataillon. Zuerst wollte man mich partout nicht haben, weil sich bei der ärztlichen Untersuchung herausstellte, dass mein Herz wohl gesund, aber zu schwach wäre, um die harten Anforderungen eines Tropendienstes zu überstehen. Aber schließlich klappte es dann doch. Ich wurde probeweise eingestellt, und damit wurde ich Kriegsfreiwilliger (heutzutage nennt man das wohl gern Kriegsmutwilliger) und Seesoldat. Die Seesoldaten gehörten zu einer selbstständigen Truppe, in der alle an sämtlichen damals üblichen Waffen ausgebildet waren. Dazu gehörten damals außer Infanterie mit Maschinengewehren leichte Feldartillerie und sogar eine berittene Abteilung. Die Seesoldaten wurden nur im Ausland eingesetzt und gehörten zur Kriegsmarine.

Ich wurde der 7ten Kompanie zugeteilt, die fast nur aus Kriegsfreiwilligen bestand, die aus ganz Ostasien zusammengeströmt waren und in der ich 38 Bremer und 43 Hamburger, alles junge Kaufleute, teils Verwandte, teils Bekannte, wiedersah. Die aktiven Unteroffiziere und Offiziere, die aus diesem Haufen kampferprobte Krieger machen sollten, haben es sicherlich nicht ganz leicht gehabt, denn wir gehorchten fast nur auf dem Kulanzweg. In Friedenszeiten, z.B. in Tientsin, wären diese Militärs froh gewesen, wenn wir ihnen im Klub einen ausgegeben hätten, und jetzt sollte es auf einmal andersrum auch gehen. Das begriffen wir noch nicht gleich, waren aber doch voll guten Willens. Und es ging auch so, und zwar prächtig. So richtig kleingekriegt haben sie uns aber nicht, dazu hatten sie keine Zeit mehr, und bei 1200 Gewehren in der Frontlinie wurde jeder schnellstens da eingesetzt, wo er auch wirklich seinem Zweck diente.

Solcher Zwecke gab es genug, denn Tsingtau war eigentlich nur eine befestigte Feldstellung mit 5 Infanteriewerken, die noch schnell behelfsmäßig ausgebaut werden musste, um einer Belagerung notdürftig ein paar Monate standhalten zu können. Denn sofort [23.08.] bei Kriegsausbruch im August 1914 hatte Japan uns den Krieg erklärt, und wir alle waren uns darüber klar, dass wir dem Angriff einer modernen Armee, die ihre Grundausbildung sogar von deutschen Instrukteuren erhalten hatte, nicht lange standhalten könnten.
Wir saßen in Tsingtau buchstäblich in einer Mausefalle, deren Tür auch bald zuklappte, als die Japaner in Shantung landeten und das chinesische Festland abriegelten. Kampflose Übergabe wäre unehrenhaft gewesen und hätte dem deutschen Ansehen in Ostasien ungeheuren Schaden zugefügt. Wir hätten in ganz Asien unser Gesicht verloren, wenn wir dieses Duell nicht angenommen hätten. Auch wussten wir, dass wir einen harten Kampf liefern mussten, bevor wir untergingen. Von unserem Kommandanten wurde das Schlagwort von der »Pflichterfüllung bis zum Äußersten« geprägt, und das stimmte ja so ungefähr, wenn nicht ein Wunder geschah, und darauf war nicht zu hoffen. Also so ganz wohl fühlten wir uns nicht in unserer Haut, doch wir waren jung, und das Bier schmeckte uns trotzdem nicht schlecht. Und wir hatten genug interessante Aufgaben bei den notwendigen Erd- und Bauarbeiten, zu denen wir eingesetzt wurden, weil wir Chinesisch sprachen und deshalb zur Beaufsichtigung der chinesischen Bauarbeiter abkommandiert wurden.
 

[2. Im Kriegseinsatz]

Es war ein wunderschöner Spätsommer, als die ersten japanischen Soldaten von unseren Vorposten gemeldet und die Kämpfe eröffnet wurden. Der »japanische Schüler« trat an, um seinem »deutschen Lehrer« zu zeigen, was er gelernt hatte. Und er gab sich große Mühe, um dieses Examen gut zu bestehen. Er hat sich genau und buchstäblich Seite für Seite an das deutsche Festungsbelagerungsreglement3 gehalten, uns also viel zu umständlich belagert, anstatt uns glatt zu überrennen, was ihm mit seiner ungeheuren artilleristischen Übermacht und den bereitgestellten Truppenmassen zweifellos in wenigen Tagen gelungen wäre. Dadurch bekamen wir noch eine kurze Gnadenfrist, die wir zur Verbesserung unserer bescheidenen Verteidigungswerke nutzten.

Unser Batterien beschossen währenddessen feindliche Ziele im Vorgelände. Ob sie Erfolg hatten, weiß ich nicht, doch hat man uns von vielen und gewaltigen Verlusten des bösen Feindes berichtet, wie das so bei allen Nationen von Alters her üblich ist. Wir hatten in unseren Geschützstellungen nicht nur einige moderne weittragende Geschütze, sondern auch ganz alte Püster, die schon 1870 die Belagerung von Paris mitgemacht hatten. Diese hüpften durch den Rückstoß nach jedem Schuss einige Meter zurück und mussten dann immer wieder neu ausgerichtet werden. Arbeit für unsere Kanoniere gab es also genug.

Etwa ein Dutzend von uns, darunter auch ich, wurden sehr bald für einen interessanten Job ausgesucht, wohl weil wir als hoffnungslos undiszipliniert, aber trotzdem als sehr verlässlich erkannt wurden und als sprachkundige Kriegsfreiwillige jederzeit unseren ganzen Mann standen. An der Hindernismauer, außerhalb des Haupthindernisses, wurden wir in einem Unterstand stationiert, und von hier aus zogen wir auf Posten in drei Schützenlöcher, um rechtzeitig feindliche Angriffe melden zu können. Mir kam es immer so vor wie in Indien bei einer Tigerjagd, wo man eine Ziege an einen Pfahl bindet, um das Großwild anzulocken. Wenn die dann meckerte, und der böse Tiger wollte sich seinen Leckerbissen holen, dann schoss der Jäger. Das Blöken besorgten wir mit einer Klingelleitung, die aber nicht sehr lange funktionierte, und als Ersatz gab man jedem von uns ein Tuthorn der Tsingtauer Feuerwehr. Die Töne dieses Horns klangen wirklich so ähnlich wie das Meckern der angepflockten, verängstigten Ziege.

Tagsüber konnten wir schlafen oder uns sonnen oder unserem Unteroffizier im Skat seine Löhnung abnehmen. Aber bei Einbruch der Dunkelheit rückten immer drei von uns aus, um auf langem oder kürzerem Fußmarsch unsere Beobachtungsposten zu erreichen. Die japanischen Artilleriegeschosse störten uns nicht. Die flogen weit hinter uns in die Gebirgsstellungen und richteten dort noch nicht so viel Unheil an, wie es oft den Anschein hatte. Unser Unteroffizier, mit Namen Schon, war Reservist und eine Seele von Apfelschimmel. Von Beruf war er Blumenbinder, und er stammte aus Berlin. Er war in seinem Fach ein berühmter Mann und hatte in Berlin für Blumenarrangements zu sorgen, wenn Kaiser Wilhelm oder andere prominente Leute eine geschmückte Festtafel brauchten und seine Firma die Lieferung hatte. Er konnte sehr interessant aus seiner Tätigkeit erzählen.

Unsere idyllische Sommerfrische, ein oder zweimal jäh gestört durch den »Höflichkeitsbesuch« eines Offiziers, dauerte so etwa bis Mitte Oktober 1914. Zu dieser Zeit hatten sich die Japaner endlich im Vorgelände bis in unsere nächste Nähe vorgerobbt, und mir ist es heute noch unverständlich, dass sie uns nicht gefunden haben. Aber so etwas konnte früher vorkommen, denn Flugzeuge kamen bei den Japanern noch nicht zur Verwendung,4 und wir hatten auch nur eine Rumpler-Taube (Plüschow), mit der man noch nicht viel anfangen konnte.

Etwas ungemütlicher war es ja mittlerweile schon für uns geworden, aber wir zogen munter weiter Nacht für Nacht auf Posten. Unsere Postenlöcher lagen, wie schon erwähnt, außerhalb des Haupthindernisses, und vor uns dehnte sich, leicht abfallend, das Vorgelände aus, das durch einen Tretminengürtel gesichert war, an dem ich selbst auch mitgearbeitet hatte. Also kannten wir das Gelände im Bereich der ersten Kilometer [im] Umkreis gut, und besonders gut wussten wir in der Nähe unserer Postenlöcher Bescheid. Bei gutem Wetter und klarem Mond war uns jeder Schatten, den ein Busch warf, vertraut, und bei völliger Dunkelheit gab es kein unbekanntes Geräusch, das vielleicht durch Wind oder ein Tier verursacht wurde, das wir nicht als unwichtig abtun konnten. Unsere Aufgabe bestand ja nur darin, zu beobachten und nicht zu schießen, und solange die Japaner sich vor uns nicht zeigten, war das nicht weiter aufregend. Nur die Wege zu unseren Postenständen vom Unterstand aus waren recht lang, besonders wenn man den letzten Posten (III) beziehen musste und die Herbstregen den Pfad verdorben hatten.

Inzwischen hatte das Bombardement sich verstärkt, und auch von unserer Seite wurde häufiger darauf geantwortet – das heißt, wenn die Ziele sich lohnten, denn unser Geschossvorrat war knapp und gestattete keine imponierende Ballerei, wie sie die Japaner jetzt öfter veranstalteten. Sie hatten ja genug Nachschub, während bei uns jeder Schuss sitzen musste. Es muss auf unserer Gegenseite aber doch allerhand Verluste gegeben haben, weil die Japaner und Engländer zweimal um Waffenstillstand baten, um Tote und Verwundete zu bergen. Dieser Waffenstillstand wurde in ritterlicher Form vereinbart und eingehalten, und es wurden dabei sogar höfliche Grüße ausgetauscht zwischen Freund und Feind. Ehrensache war auch die Waffenruhe während des englischen 5-Uhr-Tees. Für uns Mannschaften und Offiziere war Krieg damals noch ein anständiger Sport, in dem Haltung erwartet und bewahrt wurde.

Bis Ende Oktober ging alles so seinen gewohnten Gang. Aber dann fühlten wir, dass das bittere Ende sehr nah bevorstand. Hinter uns waren die Hindernisse schon fast sturmreif geschossen. Nur die Bunker waren noch heil, lagen aber unter ständigem Artilleriebeschuss, der immer stärker wurde und kaum aussetzte. Und dazu kam noch das Gerücht, dass die Japaner ihrem Kaiser den Fall von Tsingtau zu seinem Geburtstag schenken wollten, was sie dann tatsächlich, wenn auch unter großen Opfern, pünktlich am 7. November geschafft haben.5

Um verschiedene während der Belagerung beim Feind gemachte Beobachtungen zu überprüfen, wurde eines Tages eine Truppe zusammengestellt, die im Vorgelände so weit wie möglich vorstoßen sollte. Weil ich gerade wachfrei war und mich nach Abwechslung sehnte, meldete ich mich freiwillig zu diesem Haufen. Lange vor Sonnenaufgang marschierten wir in getrennten Trupps los, um uns dann an einer bestimmten Stelle zu treffen. Es waren drei Trupps mit je 50 Mann aus drei Infanteriewerken. Wir kamen im Zentrum zügig vorwärts, aber an beiden Flügeln klappte es nicht, und wir mussten auf den Anschluss warten. Die Morgendämmerung brach an, und dann standen wir plötzlich vor einer japanischen Stellung. Es gab eine wüste Knallerei, und wir mussten uns zurückziehen. Wer nicht schwer verwundet oder tot war, versuchte nun rückwärts in Deckung zu gehen, was bei dem unübersichtlichen hügeligen Gelände leicht möglich war, zumal auch die Japaner sich wohl von ihrer Überraschung noch nicht ganz erholt hatten und uns nicht sofort folgten.

Für mich ging alles ganz gut, bis ich über die Ranke einer Süßkartoffel stolperte und der Länge nach hinfiel. Die Japaner schossen wie wild in der Gegend herum, und deshalb hielt ich es für das Richtigste, erst einmal da liegen zu bleiben. Als dann die Knallerei allmählich nachließ, nahm ich Herz und Gewehr in die Hand und marschierte in Richtung Heimat, ein einsamer Wanderer zwischen Feind und Freund, der vollkommen ausgepumpt war. Als ich im Unterstand glücklich angelangt war, wurde mir erzählt, dass man mich schon als gefallen gemeldet hätte. Ich wurde fast wie ein Held gefeiert, aber meine Todesnachricht lief auf dem Dienstweg weiter, bis sie meinen Vater in Bremen erreichte, als er schon lange wusste, dass ich unverletzt in japanische Gefangenschaft geraten war. Wie man im Leben durch einen dummen Zufall mit einem guten oder schlechten Ruf abgestempelt wird, so geschah es auch hier in meiner – ach so kurzen – Soldatenlaufbahn. Ich konnte nichts dagegen tun, aber von nun an war ich der Inbegriff des »guten Soldaten«. Dabei war ich doch nur stur und wurstig gewesen.

Anfang November passierte mir eine ganz ähnliche Geschichte, die mir tatsächlich nach Kriegsschluss noch das Eiserne Kreuz und die Beförderung vom Seesoldaten zum Gefreiten eingebracht hat: Der Zugangsweg zu meinem Posten III lag unter ständigem Beschuss und war fast ungangbar geworden, und weil ich dort eines Nachts ablösen musste, konnte ich meinen Kameraden da nicht schmoren lassen. Es gelang mir aber schließlich doch, ihn zu erreichen und abzulösen, um dem »bösen Feind« meine Brust darzubieten, wie es in jedem Heldengedicht nachgelesen werden kann. Die Klingelleitung war zerstört, aber ich hatte ja meine Feuerwehrtrompete mitgenommen, um mich gegebenenfalls zu melden. Und tatsächlich erfolgte der erste japanische Infanterieangriff in meinem Bereich, und ich konnte noch zur rechten Zeit warnen. Hinter mir brach die Hölle los, und ich konnte nur abwarten, was das Schicksal weiter mit mir vorhatte. Nichts hatte es mit mir vor, denn mir wurde bei all dem Geballer kein Haar gekrümmt, und nur die Japaner hatten das Pech, dass ihr erster groß angelegter Angriff zusammenbrach.

Als ich dann wider Erwarten nach stundenlangem Ausharren nicht abgelöst wurde, machte ich mich auf den Rückweg zum Unterstand, um Meldung zu machen. Das ging natürlich auf dem völlig aufgewühlten Pfad nicht ganz geräuschlos vonstatten, und – wupp – hatten mich unsere eigenen Scheinwerfer im Lichtkegel, und es wurde ein lustiges Schießen auf mich veranstaltet. Ich war den Schützen natürlich etwas böse, dass sie mich für einen Japaner hielten und dazu auch noch so schlecht schossen, aber die dahinten waren wohl noch etwas nervös, und sie verloren mich auch bald aus dem Licht ihrer Scheinwerfer. Als ich mich in unserem Unterstand zurückmeldete, waren meine Kameraden gerade beim Auszug, der befohlen worden war, weil die Japaner jetzt nahe genug herangekommen waren und unser Zweck erfüllt war. Aber auch hier war ich schon wieder als tot abgeschrieben worden. Im Infanteriewerk meldeten wir uns vollzählig zurück, und dann musste ich mein Verslein beim Kommandanten aufsagen, der mich anschließend zum Helden stempelte, weil ich ein gutes Teil dazu beigetragen hätte, dass der erste japanische Versuch, uns zu überrollen, abgeschlagen wurde. Was uns Heimkehrern aber viel wichtiger war: Wir bekamen zur Belohnung die letzten 6 Flaschen Portwein aus dem Kasino und durften in der folgenden Nacht ausschlafen. Und das haben wir gründlich besorgt. Von da ab folgte ein Angriff dem anderen, und am 7. November war unsere Munition verschossen, wir wurden überrannt und mussten uns ergeben.

1200 deutsche Gewehre und etwas Artillerie gegen 140.000 Japaner,6 aber unser Gesicht hatten wir wahren können. Dafür hatten wir aber auch etwa 60 % Verluste.7 Der japanische Kommandeur bescheinigte uns später, dass wir »bis zur Erschöpfung der Kugeln« gekämpft hätten.
Das war das sogenannte Heldentum von Tsingtau. Der Vorhang fiel, und wir wurden nach Japan gebracht in eine unerwartet lange Kriegsgefangenschaft.
 

Anmerkungen

1.  Das war seinerzeit sicherlich die deutscherseits am meisten verbreitete Auffassung zur Kriegsschuld.

2.  Mit Umstieg in Tsinanfu in die Shantung-Bahn; siehe Karte.

3.  Die vom preußischen Kriegsministerium herausgegebene »Anleitung für den Kampf um Festungen« vom 13.08.1910 war den Japanern mit Sicherheit bekannt, so daß diese aus vielen Berichten bekannte Vermutung plausibel ist.

4.  Nach Donko waren japanische Flugzeuge jedoch spätestens ab 04.09.1914 im Einsatz.

5.  Der Hinweis auf den Geburtstag des japanischen Kaisers findet sich in vielen Berichten, kann sich aber nicht auf den seinerzeitigen Tenno Yoshihito (*31.08.1879) beziehen.

6.  Es ist unklar, woher diese Angaben stammen.

7.  Mögliche Erklärung dieser Angabe: 200 Tote und 520 Verwundete = 60 % von 1200?
 

©  Ingemarie von Hallen; für diese Fassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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