Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Nagoya

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Unterricht und Vorträge [in Nagoya]

von Max Schumann

Der Bericht von Max Schumann wurde über Hermann Voigtländer mit Brief vom 21. Dezember 1919 dem deutschen Pfarrer Schroeder in Tokyo übermittelt. Ein Durchschlag des maschinengeschriebenen Originals wurde dankenswerterweise von der Familie Voigtländer zur Verfügung gestellt.
 

I. a) Unterrichtsfächer und
I. b) Unterrichtsbeteiligung

Ein geregelter Unterrichtsbetrieb erfordert Lehrkräfte, die einen Überblick über den zu behandelnden Stoff haben, diesen beherrschen und ihn systematisch aufbauen können. Natürlicherweise mangelte es daran. Die Unterrichtenden in Sprachen waren meist Kaufleute, die die Umgangssprache des Landes, in dem sie sich aufgehalten hatten, oder deren Handelssprache sehr gut beherrschten. In technischen, kaufmännischen oder anderen Fachwissenschaften waren die Unterrichtenden Fachleute, wie Ingenieure, Bautechniker, Maschinentechniker, Kaufleute. So bildeten sich nach Neigung Gruppen von Lehrenden und Lernenden. In gewisssen Zweigen Vorgeschrittene befestigten selbst wieder durch Lehren das Gelernte. In Deutsch, Geschichte, Geographie, Naturkunde verfuhr man nach dem Gang der Lehrbücher.

Der Unterricht durch Fachleute und Praktiker hatte den großen Vorteil, aus dem Leben und aus der Praxis zu schöpfen, überflüssigen Ballast zu vermeiden und das Interesse durch Naheliegendes wachzuhalten. Auch der Unterricht in Sprachen gewann einmal durch Beherrschung des Wortschatzes der betreffenden Umgangssprache durch die Lehrenden, dann durch eine meist nicht gelernte, sondern abgelautschte Aussprache und endlich durch die Möglichkeit der Übung in Unterhaltung.

Mängel waren das teilweise Fehlen eines das ganze Wissensgebiet umfassenden organischen und abrundenden Aufbaus, Fehlen des Übergangs von leicht zu schwer, der Zergliederung des Bewusstseinsinhaltes und der genauen Begriffsbildung, der bei dem unterschiedlichen Schülermaterial sowieso schwierigen Berücksichtigung der jeweiligen Vorbildung und Fassungskraft, teilweises Fehlen der Unterrichtsmittel, der Übung, Wiederholung und Befestigung des Lehrstoffes.
Die Art dieses Gruppenunterrichts war erschwert durch einen Befehl des Lagerkomandes, der nur Unterricht zu dreien, einem Lehrer und zwei Schülern, erlaubte. Solche Befehle wurden meist sehr bald übertreten, und diese Übertretungen wurden nach Ablauf genügender Zeit selbst vom Lagerkommando meist stillschweigend übergangen. Anfangs bestand auch das Verbot zu lehren für Offiziere.

Ein zweites Erfordernis eines geregelten Unterrichtsbetriebes ist das Vorhandensein von passenden Räumen. Das Fehlen solcher war eines der empfindlichsten Hindernisse. Die Klassen waren immer der Störung, im Winter im Freien der Witterung ausgesetzt. Hier hätte nur der Bau einer Unterrichtsbaracke Abhülfe schaffen können. Dieser wurde erst im Sommer 1918 nach langen Verhandlungen genehmigt, doch forderte das Lagerkommando vorherige Zensur des Lehrstoffes, Beschränkung des Unterrichts auf täglich eine Stunde (!) und die Gegenwart eines Zensors während des Unterrichts. Als weitere Verhandlungen das Misstrauen der Japaner gegen eine großzügigere Gestaltung des Unterrichts beseitigten, ein systematischer Unterrichtsplan aufgestellt war und dem Bau der Baracke nähergetreten werden konnte, brachten die Ereignisse zu Hause die ganze Frage zur endgültigen Erledigung. Das Zustandekommen größerer Klassen mit geregeltem Betriebe ist deshalb während der ganzen Dauer der Gefangenschaft in unserem Lager nicht möglich gewesen.
Ferner war der Unterricht erschwert durch den Mangel einer genügenden Anzahl gleicher Lehrbücher und durch das Fehlen von Anschauungsmaterial in technischen Fächern, praktischen Wissenschaften, den verschiedenen Zweigen der Naturkunde, Chemie, Physik usw. Nur mehrere Bienenzuchtkurse hatten in einem Bienenstand vortreffliches Anschauungsmaterial.

Folgendes stellt die gesamten Unterrichtsfächer und die Zahl der der Beteiligung an den einzelnen dar. Zum Verständnis der Zahlen sei die jetzige Lagerstärke von 488 Köpfen, 13 Offizieren, 23 Portepee-Unteroffizieren, 389 Mannschaften angegeben.
1) Sprachen: Englisch, Französisch, Chinesisch und Japanisch wurde am meisten gelernt. Da Viele bedeutende Vorkenntnisse hierin mitbrachten, die ausgebaut wurden, andere innerhalb der fünf Jahre zu bedeutenden Leistungen gekommen sind, werden zwei Zahlen angegeben, von denen die erste (a) die Zahl der nennenswerten Erfolge angibt, für die in Englisch und Französisch etwa Lektüre ohne Hilfsmittel der Maßstab ist, in Chinesisch und Japanisch die Möglichkeit, sich in allen Lebensgebieten bewegen zu können; die zweite (b) ist die Zahl der Anfangsleistungen ohne Abschluss [Anmerkung hinter Spanisch: dies und folgende in der Hauptsache Durchschnittsleistungen]:
1) (a) (b)
 Englisch63 105
Französisch39 63
Chinesisch22 28
Japanisch10 27
Spanisch 23 
Portugiesisch 3 
Italienisch 12 
Holländisch 22 
Schwedisch 6 
Russisch 17 
Türkisch 6 
Malaisch 3 
Lateinisch 3 
Griechisch 1 
2)Deutsche Sprache, Sprachlehre 71 
Deutsche Literatur 17 
3)Geschichte, Reichsverfassung, Staatsbürgerkunde 56 
4)Erdkunde 94 
5)Sternkunde 3 
6)Algebra 56 
7)Technisches Zeichen, Bau- und Maschinenzeichnen 20 
8)Kaufmännische Wissenschaften:   
a) allgemeine kaufmännische Kenntnisse wie Buchführung, Rechnen, Stengraphie 76 
b) Geld-, Bank- und Börsenwesen 39 
9)Nationalökonomie 17 
10)Bienenzucht 60 
11)Ost- und Weinbau 6 
12)Physik, Chemie, Farbenchemie 3 
 

I. c) Zeugnisse

Zeugnisse sind nicht erteilt worden.
 

I. d) Allgemeine Vorträge und Beteiligung daran

In der ersten Hälfte des Jahres 1919 fand eine Vortragsreihe statt. Bis dahin waren Vorträge völlig verboten. Die Vorträge wurden nur in der Gegenwart eines japanischen Dolmetschers und Offizieren erlaubt. Dieser Umstand gestattete nur eine geringe Anzahl von Vorträgen, zwei die Woche. Der Ort war eine Wohngruppe. Der Besuch war ohne Zwang. Mit den Vorträgen war nur eine anregende Wirkung beabsichtigt. Ein streng unterrichtender Betrieb war unter den schon geschilderten Umständen nicht möglich.

Die Themen der geleisteten Vorträge waren folgende:
 1.Knochen, Muskeln und Nerven im menschlichen Körper
 2.Blut, Herz und Blutkreislauf
 3.Herkunft und Ankauf von Häuten und Fällen in China
 4.Herstellung der verschiedenen Ledersorten
 5.Anbau und Verwertung des Tabaks
 6.Herstellung der Zigaretten
 7.Erste Hilfe bei Ohnmacht, Hitzschlag, Fallsucht; an Erstickten; künstliche Atmung
 8.Erste Hilfe an Ertrunkenen und Erfrorenen; bei Wunden und Verbrennungen; Verstauchung; Verrenkung; Knochenbruch; Transport Verunglückter
 9.Über Eier und Eipräparate
 10.Über die verschiedenen Holzarten
 11.Die Stahlwarenindustrie im Bergischen Lande
 a) Entstehung und Entwicklung
 b) Die Industrie der Gegenwart in Solingen und Umgebung
 c) Die Tätigkeit der Handwerker in der Fabrik und zu Hause
 d) Staatliche Fürsorge
 e) Der Export besserer Waren und billiger Massenartikel

©  Hans-Joachim Schmidt
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