Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Geschichte der Gefangenschaft und Flucht aus Japan (Teil 1)

von Paul Kempe

In der Geschichte der Fluchtversuche aus den japanischen Lagern spielt Hauptmann Paul Kempe eine besondere Rolle: Neben dem einfachen Soldaten Heinrich Unkel war er der einzige Gefangene, der tatsächlich die Heimat erreichte! Nach seiner Rückkehr verstand er es, die Flucht sehr lebendig zu schildern und erreichte damit ein großes Publikum. Freilich stand er insoweit ein wenig im Schatten von Günter Plüschow, dessen Bericht in Buchform erschien und zu einem der am besten und am längsten verkauften Weltkriegsbücher wurde.

Kempes Bericht beginnt mit der Kapitulation Tsingtaus und endet mit dem Eintreffen in Berlin. Es existieren offenbar mehrere Versionen, die kaum voneinander abweichen, über deren Entstehung jedoch weiter nichts bekannt ist. Die hier zugrunde gelegte Fassung ist ein maschinenschriftlicher Text aus der früheren Sammlung Walter Jäckisch, den der Besitzer dem Redakteur freundlicherweise vor einigen Jahren überließ. Dieser Text wurde mit einem zweiten abgeglichen, den ein Verwandter, Herr Klaas Kempe, zur Verfügung stellte.

Der Redakteur hat die Textabschnitte nummeriert, die Rechtschreibung angepasst, Schreibfehler (in Original oder Abschrift) korrigiert und Anmerkungen (als Fußnote oder in [ ]) hinzugesetzt.
 

Erster Teil: Vom Abtransport nach Japan bis zur Flucht nach Shanghai

  1. Abtransport der deutschen Besatzung Tsingtaus nach Japan
  2. Reise nach Japan
  3. Die Lebensgeister beginnen sich wieder zu regen
  4. Ankunft in Japan
  5. Leben und Treiben im Kriegsgefangenlager
  6. Unsere Mannschaften
  7. Ein Weihnachtsfest bei den Mannschaften
  8. Fluchtgedanken
  9. Ich habe es satt, es muß etwas geschehen!
  10. Die Flucht

Zweiter Teil: Von Shanghai in die Heimat
 

1. Abtransport der deutschen Besatzung Tsingtaus nach Japan

Am 7. November 1914 wurde Tsingtau nach hartnäckigem Kampfe von den Japanern gestürmt. Eine Woche später verließ die deutsche Besatzung die Stadt, um nach Japan abtransportiert zu werden.1 Wer von uns hätte gedacht, auf solche Weise die liebgewordene Stätte jahrelangen Wirkens verlassen zu müssen! Nun ging es in Trupps von einigen Hunderten – Offiziere und Mannschaften treulich vereint – zu Fuß nach Schatzykou, der schönen Bucht zu Fuße des Laushangebirges, um dort auf bereit gehaltene Dampfer verladen zu werden.

Vor dem Abmarsch versammelten sich die Truppen auf dem Hofe der Bismarck-Kaserne, und nach einer kernigen Ansprache des Kommandeurs der Landfront [Kessinger] ging es hinaus, einem ungewissen Schicksal entgegen. Jeder schleppte das Nötigste mit, was er noch an Eigentum besaß, und mancher Schweißtropfen wurde vergossen, war es doch für viele keine Kleinigkeit, schwer bepackt 25 km bergauf, bergab zurückzulegen. Mancher war so glücklich, noch schnell einen Chinesenkuli mit einem Karren oder einer Rikscha zu mieten, und so bot der Auszug ein seltsames Bild. Vorbei ging der Weg an den vom Feinde zerschossenen eigenen Befestigungsanlagen und bald darauf hinaus über das vorderste Drahthindernis in das Angriffsgelände der Japs. Mit Kennermiene wurden die feindlichen Schützengräben und Annäherungswege, Batteriestellungen und Eisenbahnanlagen gemustert, und man freute sich, konstatieren zu können, dass der Aufenthalt in diesen primitiven Anlagen sicher nicht besonders reizvoll gewesen sein mußte. Die Chinesendörfer waren vollkommen zerschossen und von ihren friedlichen Einwohnern verlassen. Alles Holz war von den Japanern im Schützengraben verbrannt oder zu Unterständen verwendet worden. Zahlreiche Grabstätten der japanischen Belagerungsarmee bewiesen, dass der Gegner die Einnahme Tsingtaus teuer hatte erkaufen müssen. Die schönen Straßen nach Litsun und dem Mecklenburghaus, dem Laushangebirge und Schatzykou waren nicht mehr wiederzukennen, und mancher dachte wehmütig an friedliche Zeiten zurück, als man noch zu Pferde, zu Fuß oder rar im Kraftwagen das schöne Hinterland in fröhlicher Gesellschaft durchstreifte.

Endlich war die Schatzykoubucht, welche den Japs zuletzt als Ausschiffungshafen diente, erreicht und nun ging's mit Leichtern an Bord der auf Reede liegenden Transportdampfer. Ein letzter Blick auf das von der untergehenden Sonne prachtvoll beleuchtete Laushangebirge, die Zähne zusammengebissen und rauf auf den Kahn.
 

2. Reise nach Japan

Es dunkelte bereits, als wir an Bord des Transportdampfers gingen. Hier fanden wir schon einige hundert Leidensgenossen vor. Viele hatte man während der ganzen Belagerung nicht gesehen und kannte sie in ihren struppigen Barten und schäbigen Uniformen kaum wieder. Schnell suchte sich jeder sein Plätzchen, und bald darauf fuhr der Dampfer ab. Ein schöner Kahn war das, auf dem wir uns befanden. Die Leute bezeichneten ihn mit Recht als einen fahrbaren Untersatz, der nur noch durch Farbe zusammengehalten wurde. – Die Unterbringung war natürlich dementsprechend recht eng, aber schnell hatte man sich eingerichtet, und die Leute schliefen bald nach den großen Strapazen und Entbehrungen.

Unsere Bewachung an Bord bestand aus einem Offizier und 15 Infanteristen. Letztere lagen in der Mitte des Dampfers im Zwischendeck und pflegten ebenfalls der Ruhe. Für sie war der Krieg vorbei, und sie freuten sich wohl, heil und gesund davongekommen zu sein und bald ihre Angehörigen wiederzusehen. Sie benahmen sich sonst ganz anständig, und es gab keine unliebsamen Zwischenfälle, wie sie bei unseren europäischen Feinden fast die Regel bildeten.2 Außer uns Kriegsgefangenen waren noch einige Privatleute – alles Japaner – an Bord. Es waren meist Kriegsberichterstatter, der Rest Mitglieder des Parlaments, alle in europäischer Kleidung. Es blieb nicht aus, dass einige von uns persönlich mit ihnen in Berührung kamen. Sie waren höflich, zum Teil direkt unterwürfig. – Vom Kriege hatten sie scheinbar wenig oder gar nichts gesehen. Es ist bei der japanischen Armee üblich, keinem Pressevertreter Einblick in die Vorgänge an der Front zu gestatten. Da wir wußten, dass sie alle ohne Ausnahme haarklein über die Belagerung an ihre Zeitungen berichten würden, ohne etwas persönlich gesehen zu haben, wurden sie aufgefordert, einen Vortrag über militärische Ereignisse anzuhören. Alles setzte sich an einen langen Tisch, versuchte möglichst einen günstigen Platz zu erwischen, und ein deutscher Kriegsfreiwilliger, Dr. Hack, welcher einige Jahre in Japan gelebt hatte und japanisch sprechen konnte, gab einen kurzen Aufschluss über die Belagerung von Tsingtau.
 

3. Die Lebensgeister beginnen sich wieder zu regen

Nach der ersten an Bord verbrachten Nacht war alles schon etwas frischer, ein tiefer Schlaf hatte allen gutgetan, und die Seekrankheit hatte uns keinen Streich gespielt, denn die See war glatt wie ein Ententeich. Bald wurde untereinander Fühlung genommen und erst mal die Lage gepeilt. Und siehe da, es regte sich bereits wieder; tiefe Niedergeschlagenheit hatte einer gewissen stoischen Ruhe Platz gemacht, dachten wir doch in unserer Harmlosigkeit, dass der Krieg 1915 zu Ende sein würde. Gottlob waren wir damals keine Hellseher!

Sogar Fluchtgedanken wurden im kleinsten Kreise erörtert, und zwar ging man ganz aufs Ganze: Wir hatten schon festgestellt, dass unsere Bewachung ja nur aus wenigen Mann bestand; diese standen nicht Posten, sondern hatten sich in einem Raum auf ihren geliebten Matten gelagert, Tee trinkend, rauchend und schwätzend, meist aber schlafend, was ja jeder Soldat, ob weiß, gelb oder schwarz, zu jeder Zeit gut versteht. Ihre Gewehre standen schön in einer Reihe am Mittelgang des Schiffes, den wir dauernd passierten. Der Transportführer spielte oben Brettspiele mit seinen Landsleuten und war daher ungefährlich. Drahtlose Telegrafie war nicht an Bord und keine Kriegsschiffe als Begleitung gesichtet. Wir wollten nun »einfach« die Bewachung überwältigen, dann den Kahn so ein klein wenig nach Süden umdrehen und dann in aller Ruhe nach Shanghai oder Manila gondeln. An den nötigen Fachleuten fehlte es nicht. Diese hatten wir genügend an Bord: Heizer, Wachoffiziere und Kapitäne, die schwere Menge mit mehr oder weniger Ärmelstreifen.

Die Sache hatte nur einen großen Haken: Wir hatten den Gouverneur an Bord mitsamt seinem Stabe, was uns zu bedenklich erschien, denn wir wußten natürlich nicht, ob es so ganz ohne Kleinholz abgehen würde. So wurde der Plan in die Praxis nicht umgesetzt, was mir heute noch leid tut. Man denke sich nur das Erstaunen, wenn wir so in aller Ruhe den Yangtse heraufgefahren und vor dem »Bund«3 in Shanghai vor Anker gegangen wären. Den Japanern hätte ich es herzlich gegönnt, aber die arme chinesische Regierung wäre in eine scheußliche Lage geraten, und die Chinesen waren damals noch die einzigen, die – wenn auch nicht öffentlich – zu uns hielten und trotz aller Lügennachrichten [der Nachrichtenagentur] Reuters ziemlich genau Bescheid wußten, wie es zu Hause stand. Später wurden sie doch unsere Feinde, wobei die »silbernen Kugeln« keine geringe Rolle gespielt haben mögen. In dieser Beziehung ist jeder Asiate sehr empfindlich, besonders aber, wenn man dauernd so in Geldnöten ist wie der Chinese. – Der Rest der Reise verlief ohne besondere Ereignisse. Jeder hing seinen Gedanken nach, und man dachte immer wieder an die Kameraden daheim, denen es noch weiter vergönnt war, die Heimat zu verteidigen.
 

4. Ankunft in Japan

Nach drei Tagen liefen wir gegen Mittag Moji an, vielen ein von früheren Reisen nach Japan bekannter Hafen von malerischer Schönheit. Welch ein Leben und Verkehr herrschte dort am Eingang in die japanische Inlandsee. Aber heute hatten wir für diese Schönheiten keinen Sinn, sollte doch ein Teil von uns schon hier ausgeschifft werden. Sobald unser Schiff hielt, kamen auch schon eine Menge Japaner an Bord, hauptsächlich wieder Lokalreporter mit den unvermeidlichen Kodaks. Sie umschwärmten uns wie die Fliegen, um möglichst günstige Aufnahmen machen zu können, was wir nach Möglichkeit zu verhindern suchten. Nach einem kurzen Abschied von unseren weiterfahrenden Kameraden verließen wir unsere schöne »Sanjo Maru«4 auf Nimmerwiedersehen. In Leichtern ging es nun an Land zum Bahnhof von Moji, wo dichte Menschenmassen unserer harrten. Es waren aber sorgfältige Absperrmaßnahmen getroffen, und die Menge verhielt sich wirklich mustergültig. Wir wurden wohl neugierig betrachtet, aber kein Schimpfwort fiel und niemand zeigte irgendwelche Gefühlsäußerungen. Der Japaner ist ja von Jugend auf darauf erzogen, sich äußerlich zu beherrschen.

Die Offiziere wurden von den Mannschaften getrennt und in einen Empfang des Bahnhofs geführt, der früher wohl festlichere Empfänge und Gäste aufgenommen haben mag. Ein wohlbeleibter Gendarmerieoberst mit Stab stellte sich als »Empfangskomitee« vor, setzte sich in die Mitte des Raumes und trug, auf seinem Säbel gestützt, eine möglichst martialische Miene zur Schau. Wir saßen alle da wie etwa im Warteraum eines vielbeschäftigten Zahnarztes und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Endlich stand ein Zug bereit, der uns landeinwärts bringen sollte. Wiederum war alles abgesperrt, und bald setzte sich der Zug in Richtung Nagasaki in Bewegung. Zu unserem Erstaunen stand in jedem Wagen ein großer sauberer Holzeimer mit Tee, und für jeden lag eine sauberes Paket mit belegten Weißbrotschnitten bereit. Nach einer Fahrt von einigen Stunden kamen wir gegen 6:00 Uhr nachmittags in Fukuoka, einer größeren Universitätsstadt auf der südlichsten Insel Japans, Kyushu, an. Vor dem Bahnhof harrte unser eine dichtgedrängte Menschenmenge, die selbst die umliegenden Dächer der Häuser besetzt hatte. Auch hier benahm sich das Publikum angemessen, uns lediglich mit Interesse musternd. Schnell war angetreten und die Offiziere und Mannschaften in verschiedenen Richtungen ihren Lagern zugeführt.
 

5. Leben und Treiben im Kriegsgefangenlager

Endlich waren wir am Ziel angelangt und den Blicken der Öffentlichkeit entzogen. Ein großes Haus, in schlechtem europäischen Stil erbaut, das bisher Museumszwecken diente, sollte die Überzahl von uns aufnehmen und für längere Zelt unsere unfreiwillige Zuflucht bilden. Ein wohlbeleibter japanischer Oberst mit Adjutant und Zahlmeister erwartete uns und sollte auch fernerhin mit unserer Bewachung betraut werden. Hals über Kopf war er aus den japanischen Manövern abgerufen [worden], um die Vorbereitungen für die Unterkunft und Verpflegung von Offizieren und Mannschaften zu treffen. Er gab sich zunächst Mühe, allen Anforderungen gerecht zu werden; leider war dies aber nicht von langer Dauer.

Die Verpflegungsfrage hatte er ganz genial gelöst. Er hatte einfach ein Hotel in Nagasaki mit unserer Beköstigung beauftragt, das dann auch in den ersten Tagen ein angemessenes europäisches Essen lieferte. Später wurde dann zur Selbstverpflegung übergegangen, um die Kosten zu sparen. Die erste Nacht werde ich nicht vergessen. Die Japaner hatten uns nämlich japanische Soldatenbetten geliefert. Diese ähneln unseren eigenen eisernen Kasernenbetten, sind aber sehr kurz und schmal – der Durchschnittsgröße der Japaner entsprechend. Hart sind ja alle Soldatenbetten, aber wenn sie dann noch einen halben Meter zu kurz sind, hört der Spaß auf, wenn man die Unterschenkel unten heraushängen muß. Die übrige Einrichtung bestand aus Tisch und Stuhl sowie einigen Mannschaftsdecken. Elektrische Beleuchtung war vorhanden, für Waschgelegenheiten war zunächst nicht gesorgt; der Japaner kennt keinen Waschtisch mit Zubehör. Er seift sich jeden Abend außerhalb seiner Holzwanne ein, spült sich dann ab uwd setzt sich dann auf längere Zeit bis an den Hals in heißes Wasser, in welchem Krebse sofort schamrot würden. Bei einiger Übung gewöhnt man sich an solche hohen Temperaturen; besonders im Winter bleibt man noch Stunden nach dem Bade warm. Nach einigen Tagen hatte man sich Fehlendes schnell von Unternehmern beschafft. Diese umschwärmten uns Kriegsgefangene wie die Fliegen einen Honigtopf. Allmählich wurden nur noch einzelne Glückliche zugelassen, die uns im Laufe der Zeit ordentlich zur Ader ließen. Dafür war ihre Konzession an gewisse beträchtliche Abgaben gebunden, wenn diese von Dauer sein sollte. Sie waren in dieser Hinsicht ganz vom Lagerkommandanten abhängig. Ja, in einer Kantine war für Geld so ziemlich alles zu haben, was man brauchte.

In der ersten Woche wurde bis 6 Uhr abends freier Ausgang in die Stadt und nähere Umgebung bewilligt und jedem von uns ein Schein zur Unterschrift vorgelegt, der in deutscher Sprache aufgesetzt lautete: »Der Unterzeichnete verpflichtet sich, während des Ausganges einen [sic] Fluchtversuch zu machen.« – Die guten Leute hatten sich doch wohl gehörig mit ihrem Deutsch verhauen. Da aber keiner beabsichtigte, während des Ausgangs in Uniform entfliehen – da er doch nicht weit gekommen wäre –, wurden sie auf ihren Irrtum aufmerksam gedacht. Wir erklärten uns nun bereit, während der Ausgänge nicht zu entfliehen. Weitere Zugeständnisse wurden weder verlangt noch gegeben.

So erschien uns zunächst unser Los noch erträglich, und demgemäß wurde auch nach Hause berichtet. Bald sollte sich das Blättchen wenden; nicht plötzlich, aber ganz allmählich wurden die Bestimmungen schärfer und schärfer, die Behandlung immer übler, bis sie für uns eine stete Quelle von Demütigungen wurde. Ohne Angaben von Gründen wurde jeglicher Ausgang gesperrt. Von Ende November 1914 ab durfte niemand mehr das Lager verlassen, und so ist es wohl bis zum Schluß in den meisten Lagern geblieben.

Der schroffe Wechsel in unserer Behandlung war wohl auf englischen Einfluss zurückzuführen.5 Mancher Leser wird vielleicht denken, dass dies nicht so schlimm ist. Ich schlage ihm vor, einmal nur ein halbes Jahr zu Hause zu bleiben, er wird eines Besseren belehrt werden.

Innerhalb des Lagers genoss man ziemliche Freiheit; zuerst konnte man aufstehen und zu Bett gehen, wenn man wollte. Die Untätigkeit begann recht bald fühlbar zu werden, denn der Kontrast zwischen angestrengtester Tätigkeit während der Belagerung und dem nun fortgesetzten erzwungenen Müßiggang war zu groß. Da traf endlich im Dezember die erste Post von zu Hause ein und Zeitungen aus dem August! Da haben wir Tag und Nacht gelesen und wieder gelesen von all den herrlichen Taten aus der ersten Zeit des großen Krieges – und dann traurig dagesessen, weil wir so gar nicht mithelfen konnten. Das war unser größter Kummer und auf die Dauer allen eine schwere Last. – Die Post kam auch fernerhin unregelmäßig, manchmal schon nach 14 Tagen, aber allmählich wurde es immer schlechter. Das war ein Freudentag, wenn Post und Pakete kamen und wenn es auch nur eine Postkarte war! Mit der Zeit bestellte man sich auch Bücher, denn Lesen war die Hauptbeschäftigung. Ich habe noch nie so viele und so gute Bücher gelesen wie in der japanischen Kriegsgefangenschaft, und so wird es allen ergangen sein.

Ein kleines Grundstück am Hause, direkt am Meere gelegen, stand uns zur Verfügung. Hier lief alles tagsüber stundenlang auf und ab wie der Löwe im Käfig. Der freie Ausblick auf Meer und Berge tat uns ungemein wohl, konnte doch wenigstens das Auge in die Ferne schweifen. Der begrenzte Platz gestattete uns auch noch Turnen und Freiübungen sowie das Faustballspiel, denn intensive körperliche Bewegung entbehrten wir schwer, waren doch die meisten an viel Sport gewöhnt.

Während meiner Anwesenheit in Japan erhielten wir täglich den deutschen Heeresbericht aus Shanghai brieflich zugesandt; er traf dort etwa 24 Stunden nach Veröffentlichung in der Heimat ein und wurde natürlich immer mit Spannung erwartet. Dann ging es an die Karten, die uns alle zu Gebote standen, und immer wieder bildeten die Ergebnisse auf den Kriegsschauplätzen das Hauptgesprächsthema, vor allem in der gemeinsamen Messe, wo man bei einem Glase japanischen Bieres zusammensaß. Aber auch ernste Studien wurden betrieben. Dieser lernte Französisch, jener Englisch, einzelne sogar Japanisch, selbst nach türkischen Lehrbüchern herrschte Nachfrage. Bei schlechtem Wetter wurde von vielen mit Leidenschaft Tischtennis gespielt, andere wählten Schach oder Kartenspiele.
 

6. Unsere Mannschaften

Nach der Ankunft in Fukuoka wurden die Offiziere von den Mannschaften getrennt untergebracht. Dies ist allgemein üblich, um jeden Einfluss der Offiziere auf ihre Mannschaften zu verhindern. Mit der Zeit gelang es aber Einzelnen, dann und wann unter einem Vorwand in das Mannschaftslager zu kommen, um Fühlung mit unseren braven Leuten aufzunehmen. Besonders die selten stattfindenden Gottesdienste gaben willkommene Gelegenheit dazu. Einige hundert unserer Leute waren in einem früheren Geishaviertel untergebracht. Dieses bestand aus unzähligen kleinen japanischen Häuschen, die schon recht verfallen waren und demgemäß im Winter ganz ungenügenden Schutz boten.

Daher klagten die Mannschaften sehr über die Kälte, da der Winter in Japan nicht so milde ist, wie viele annehmen. Eiserne Öfen kennt man im Allgemeinen nicht in Japan, man erwärmt den gemeinsamen Wohnraum mit einem Kohlenbecken, in welchem glühende Holzkohle verbrannt wird. Der Raum wird bei diesem Verfahren nicht durchgehend warm, deshalb sitzt alles dicht um das Kohlenbecken herum und hält die Hände über das Feuer. In japanischen Häusern kann man diese Kohlenbecken unbedenklich verwenden, da durch die dünnen Wände und Papierfenster genügend frische Luft einströmt.

Die Mannschaften bildeten in den einzelnen Häusern kleine Gruppen, mehrere Häuser standen unter einem »Hausmeister«. Das Rauchen in den Häusern war wegen Feuersgefahr streng verboten, was zu vielen Bestrafungen führte. Auch hier gab es europäische Verpflegung, von deutschen Soldaten zubereitet.

Irgendwelche Löhnung gab es für deutsche Unteroffiziere und Mannschaften überhaupt nicht.6 Sie waren daher lediglich auf Liebesgaben oder eigene Mittel angewiesen, was für alle recht hart war. Aber die deutschen Landsleute in Ostasien, Japan und den Philippinen, die sich der goldenen Freiheit erfreuten, gaben mit vollen Händen und stifteten dadurch sehr viel Gutes. Geld, Tabak, Zigaretten, Zigarren, Wäsche, Wintersachen, Spiele aller Art, Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Lehrbücher, Grammophone, Lebensmittel gingen damals reichlich ein und halfen fühlbarem Mangel ab.

Auch die Mannschaften fühlten bald das Bedürfnis, sich geistig zu beschäftigen. Bald wurden Lehrkurse aller Art gebildet, und es gab wohl kaum einen Lehrzweig, der nicht behandelt wurde. Sprachstudien wurden besonders eifrig betrieben. Die Bewegungsfreiheit war auch hier viel zu beschränkt, da für die vielen Leute der verfügbare Raum zu klein war. So waren Sportspiele in größerem Rahmen unmöglich. Selten und ganz unregelmäßig wurden die Leute einmal spazieren geführt. So wurde ihr Leben mit der Zeit immer ungemütlicher und die Stimmung immer gereizter. Die Unzufriedenheit nahm manchmal einen bedenklichen Grad an, und schon im Jahre 1915 machten die japanischen Wachmannschaften unliebsame Bekanntschaft mit deutschen Fäusten. Strenge Strafen waren die Folge, aber nur selten gelang es den Japanern, die Haupträdelsführer zu entdecken, denn treue Kameradschaft wurde gehalten, und man hielt wie Pech und Schwefel zusammen. – Immerhin hat mancher ausgiebige Bekanntschaft mit japanischen Gefängniseinrichtungen machen müssen. Die Strafen, welche die Japaner verhängten, waren noch recht mittelalterlich, wie ihre ganze Rechtspflege. Man ließ zum Beispiel die Bestraften 24 Stunden auf der Wachtstube stehen oder sperrte sie in enge dunkle Zellen bei Wasser und wenig Brot. Besonders die Entziehung jeder Waschgelegenheit bei längeren Strafen wurde schwer empfunden.
 

7. Ein Weihnachtsfest bei den Mannschaften

Bald nahte das erste Weihnachten in Kriegsgefangenschaft heran. Schon lange war alles emsig bei der Arbeit, um dieses so stimmungsvoll wie möglich zu begehen. Jeder Wohnraum war auf das Prächtigste mit buntem Papier geschmückt, und alle möglichen Modelle aus Holz und Papier bewiesen die große Geschicklichkeit vieler. Da sah man Zeppeline, Flugzeuge aller Art, die Emden, die Schiffe des Kreuzergeschwaders und vieles mehr getreulich nachgeahmt. Uns Offizieren war es vergönnt, am Weihnachtsabend die Mannschaften zu besuchen. Die Feier fand im Freien statt. Der christliche japanische Jünglingsverein hatte schöne Weihnachtsbäume gestiftet, die im Lichterglanze strahlten, ein Harmonium war zur Stelle, und unsere schönen Weihnachtslieder wurden gemeinsam in stiller Andacht gesungen. Der Gouverneur hielt eine zu Herzen gehende Ansprache, und wohl aller Augen wurden nass im Gedanken an die traurige Lage, abgeschnitten von Frau und Kind, von Eltern, Geschwistern, lieben Freunden und Bekannten. Nach Schluss der Feier besuchte man noch kurz jedes Häuschen und bewunderte die Geschenke, welche die Lieben daheim oder treue Freunde und Landsleute des fernen Ostens gespendet hatten. Das Weihnachtsfest in japanischer Kriegsgefangenscbaft wird sicher niemand im Leben vergessen, der daran teilgenommen hat.
 

8. Fluchtgedanken

Im Laufe des Jahres 1915 wurde die Lage der Kriegsgefangenen immer unerträglicher. Die Behandlung wurde strenger, und fortgesetzte kleinliche Schikanen wirkten aufreizend. Die Bewegungsfreiheit außerhalb des Lagers hatte schon längst aufgehört. So blieb es nicht aus, dass Fluchtgedanken hier und da ganz im Stillen auftauchten. Ab und zu hörten wir von einzelnen Mannschaften, welche entflohen waren. Aber bald wurden sie wieder eingebracht. Sie hatten sich einige Tage herumgetrieben, sich verirrt und waren schließlich, entkräftet wie sie waren, eine leichte Beute der Polizei. Auch darf man nicht vergessen, dass an und für sich schon jeder Europäer in Japan auffällt, besonders aber die, welche nicht gut gekleidet sind und sich in Gegenden herumtreiben, welche abseits des Fremdenverkehrs liegen.

Es gelang meines Wissens nur einem einzigen aus dem Mannschaftsstande, aus Japan herauszukommen und sogar die Heimat zu erreichen.7 Diejenigen, welche wieder eingefangen wurden, mussten schwer büßen. Nach der Haager Konvention darf zwar ein Kriegsgefangener wegen einer Flucht an sich nicht bestraft werden. Diese Bestimmung wurde aber geschickt umgangen. Man versuchte meist mit Erfolg, den Leuten nachzuweisen, dass sie japanisches Eigentum beschädigt oder entwendet hatten, und verhängte dann wegen Diebstahls Gefängnisstrafen von mehreren Monaten oder Jahren.8

Plötzlich hieß es, der Stabszahlmeister A. [Artelt] wäre entflohen und wieder eingefangen. Wir erfuhren allmählich, dass dieser sich gleich von Anfang an systematisch auf die Flucht vorbereitet hatte. Er nahm täglich Sonnenbäder, um die braune Farbe der Japaner anzunehmen, und lernte die Kulisprache des gewöhnlichen Volkes, denn er wollte sich, da er auch schwarze Haare hatte, als Japaner ausgeben. Er verschaffte sich einen japanischen Kulianzug und reiste nach Shimonoseki, um nach Korea auszuwandern. Aber das Verhängnis ereilte ihn im letzten Moment. Seine in einer Herberge zurückgelassenen Stiefel wurden ihm zum Verhängnis und Verräter. Die Polizei entdeckte diese und in ihnen auf den Stiefelstrippen eine deutsche Firmenbezeichnung. Wir hätten ihm von ganzem Herzen glückliches Gelingen dieses mustergültig vorbereiteten Unternehmens gegönnt. So musste er auch für viele Monate ins japanische Gefängnis.
 

9. Ich habe es satt, es muss etwas geschehen!

Die Flucht des Stabszahlneisters A. wurde natürlich unter uns lebhaft erörtert und meist geäußert, dass es Unsinn wäre, so etwas zu versuchen, denn von der Insel Japan käme man doch nicht herunter, und die Folge wäre eine noch schlechtere Behandlung seitens unserer Kriegsgefangenenverwaltung. Auch ich äußerte bei Tisch diese Ansicht und wurde mit Recht von meinem Nachbar dahin belehrt, dass jedermann die moralische Verpflichtung habe, jedes Mittel zu versuchen, nach Hause zu kommen. Ich bekam einen roten Kopf und schrieb es mir im Stillen hinter die Ohren, denn er hatte vollkommen recht. Inzwischen war fast ein ganzes volles Jahr Kriegsgefangenschaft vergangen, und es wurde in jeder Hinsicht unerträglich. Von jetzt ab sammelte ich ganz im Stillen Material für die Flucht, denn alles sollte peinlichst überlegt und jedes auftretende Hindernis im Voraus bedacht werden, damit unterwegs nichts improvisiert zu werden brauchte. Zeit zum Überlegen war genügend vorhanden, und viele Stunden bei Tag und Macht grübelte ich, ohne jemand einzuweihen – was zunächst wichtig war, um absolut freie Entschlusskraft zu bewahren.

Eine heimlich gehaltene, in englischer Sprache erscheinende Zeitschrift, das »Kobe Chronicle«, war meine wichtigste Quelle. Es war natürlich ein übles Hetzblatt, trotzdem bin ich dem Herausgeber zu großem Dank verpflichtet. Möge er sich blau ärgern, denn er hat mir dazu verholfen, die Heimat zu erreichen. Der Anzeigenteil bot für mich ungemeines Interesse, standen dort doch alle Fahrpläne der verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften, in denen die Schiffe mit Namen, Abfahrtszeit und Reiseweg enthalten waren. Auch ein Eisenbahnfahrplan stand täglich darin. Wochenlang brütete ich über diesen Sachen und suchte mir jeden Tag einen anderen Dampfer aus, aber alle waren dazu nicht geeignet. Mein Dampfer durfte keine Funkentelegrafie an Bord haben, damit während der Fahrt nach mir keine Anfragen gestellt werden konnten. Dann sollte er keinen anderen japanischen Hafen mehr anlaufen und schließlich auch keinen englischen, weil in diesen die Kontrolle zu groß war.

Endlich fand ich einen geeigneten Untersatz, nicht zu groß und nicht zu klein, in der Jawata Maru9 seligen Angedenkens, möge sie noch lange die Meere befahren! Sie sollte in etwa 8 Tagen, am 13. November 1915, von Moji direkt nach Shanghai gehen. Das war gerade mein Fall. Am 13. November früh mußte ich in Moji zur Stelle sein. Ich rechnete nun zurück: Also in der Nacht vom 12. zum 13. musst du verschwinden, und wie machst du das? Da war ja der Fahrplan zunächst zur Rate zu ziehen. Und siehe da, um 5 Uhr früh hielt der Expresszug Nagasaki–Moji in Fukuoka und erreichte dann um 7:48 Uhr vormittags Moji. Also der musste genommen werden. Aber wie kommst du zum Bahnhof, wann, wie und in welcher Aufmachung? war die nächste Frage, die es zu lösen galt! Es war mir klar, dass ich nur in anständiger Kleidung Aussicht hatte durchzukommen!

Ich selbst besaß einen tadellosen Ulster. In dem sah ich sicher aus wie ein amerikanischer Fleischkonservenfabrikant. Das andere fehlte und musste noch beschafft werden. Neben mir wohnte der einzige kriegsgefangene Zivilist, Dr. Hack aus Freiburg, der sich seinerzeit freiwillig in Tsingtau gestellt hatte, aber wegen Dienstuntauglichheit nicht als Soldat eingereiht worden war. Seine Sprachkenntnisse waren uns von großem Wert, und er half uns allen unermüdlich im Verkehr mit den Japanern. Er besaß eine reichhaltige und vor allem gute Zivilgarderobe, und ich nahm mir die Freiheit, sie hinter seinem Rücken eingehend zu mustern. Und siehe da, sie passte. Die Ärmel waren ein wenig zu kurz, aber man kann ja seine Knochen etwas anziehen. Die Stiefel waren zu klein, ich wäre sicher darin gestorben, so mußten die Militärstiefel herhalten. Als Kopfbedeckung waren ein Zylinder, ein schwarzer Seidenhut und ein Plüschhut vorhanden. Ich wählte den letzteren, wenn er auch klein war und eigentlich noch eine Hutnadel erfordert hätte. Die Anzugsfrage war gelöst.

Aber noch vieles war zu bedenken, vor allem: Wie komme ich heraus aus dem Lager? Das war die nächste Sorge. Appelle fanden bei uns nicht statt. Die Kontrolle, ob sich jeder morgens früh noch in seinem Zimmer befand, war eingeschlafen, weil bisher nichts passiert war; die einzige Klippe waren die in der Regel Anfang jeden Monats erfolgenden Gehaltsauszahlungen und die Paketausgaben. Letztere fanden unregelmäßig statt. Bei beiden Gelegenheiten mußte man persönlich erscheinen und quittieren.

Unser Lager lag an sich recht günstig an der Mündung eines kleinen Flusses in die Inlandsee, also direkt am Meere. Die Ufer des Flusses waren mit einer hohen Steinmauer eingefasst. Die übrigen Seiten waren mäßig eingezäunt und von zwei Tag- und Nachtposten bewacht. Außerdem gingen unregelmäßig Patrouillen, die aber so freundlich waren, eine erleuchtete Papierlaterne voran zu tragen. Und dann noch die braven Nachtwächter! Ich lache heute noch, wenn ich daran denke! Diese vorsintflutlichen Möbel10 bedienten sich nämlich auf ihren Gängen einer Holzklapper, die sie ganz regelmäßig in Bewegung setzten. Das hervorgerufene Geräusch war nachts weithin zu hören und sollte der friedlich schlafenden Menschheit anzeigen, dass der Nachtwächter treulich ihren Schlummer bewache. Etwa bei der Arbeit befindliche Einbrecher und Diebe sollten wohl rechtzeitig gewarnt werden und so Gelegenheit haben, sich so lange zu verstecken, bis die Hüter der Sicherheit vorbei waren.

Eine längere Beobachtung der stehenden Posten ergab, dass diese wie die meisten Schildwachen sich ziemlich langweilten; außerdem hatten sie ihre Munition in den Patronentaschen und die Gewehre nicht geladen. Ich merkte mir dann noch genau, wie weit sie nachts ihre Umgebung übersehen konnten, um ihren Gesichtskreis bestimmt zu vermeiden. Verschiedene meiner kleinen Patrouillen »im Vorgelände« ergaben als sichersten Weg den am Fluss entlang im Schutze der Kaimauer, welche sichere Deckung gegen den 30 Meter entfernt stehenden Posten bot. In groben Zügen war die Expedition nun vorbereitet. Aber eine Menge Kleinarbeit musste noch erledigt werden. Die Hauptsache war nun doch wohl noch die Wahl des Namens, der Nationalität und des Weges zum Bahnhof durch die Stadt. Inzwischen nahte der 13., es wurde bald Zeit, mit allem zu Ende zu kommen.

Lange grübelte ich über meinen neuen Namen. Eine Durchsicht von Visitenkarten früherer Bekannter neutraler Nationalität ergab nichts Passendes. Nach langem Nachdenken kam mir schließlich der Name der bekannten Film-Schauspielerin Asta Nielsen in den Sinn und ich fand, dass »Nielsen« wohl ganz passend sei. Als Vornamen wählte ich den Namen »Olaf«, und so wurde ich schließlich »Olaf Nielsen aus Stockholm«. Einige Visitenkarten wurden schnell angefertigt, denn diese braucht man unbedingt in Japan. Ich konnte weder schwedisch noch japanisch, wohl aber leidlich englisch. Diese Sprache wollte ich lediglich gebrauchen.

Nun musste der Weg vom Lager zum Bahnhof ausgekundschaftet werden. Ich entsann mich wohl, dass wir seinerzeit vom Bahnhof bis zum Lager die Straßenbahn benutzt hatten, wusste aber nicht mehr, wo dieser Weg verlief. Endlich fand ich eine alte weggeworfene Straßenbahnfahrkarte, auf der hinten alle Linien eingezeichnet waren. Dieses Kroki11 genügte mir als Führer durch die Stadt, die von beträchtlicher Ausdehnung war.

Nun kamen noch einige notwendige Kleinigkeiten zu meiner Ausstattung hinzu. Vor allem die unvermeidliche Tabakspfeife englischen Ursprungs, eine englische Zeitung, um sich unterwegs darin zu vertiefen, und ein Trauerflor um den Arm. Dieser sollte mich vor unliebsamen Gesprächsanknüpfungen mit Japanern schützen bzw. die Unterhaltung auf meine Trauer hinlenken. Ich überlegte mir noch einen Grund für dieselbe und beschloss, meine Frau, die ich nicht besaß, in Shanghai das Zeitliche segnen zu lassen und die Beerdigung als Reisegrund anzugeben.

So war der letzte Abend angebrochen, den ich im Kameradenkreise verbringen sollte. Ich verabschiedete mich wie gewöhnlich von ihnen und wir trennten uns, um in unseren verschiedenen Verschlägen schlafen zu gehen. Wir hatten im Laufe der Zeit, um die Illusion eines eigenen Zimmers zu haben, unsere Behausung mittels Holzwände in kleine Kabinen eingeteilt. – Da stand ich nun in meiner stillen Klause, die ich ein volles Jahr bewohnt hatte. Manche trauliche Stunde hatte ich bei guten Büchern und Schachspiel in ihr verbracht, aber auch viele traurige erlebt, in denen ich mit meinem Schicksal haderte. Es war doch ein eigenes Gefühl, welches mich in Gedanken daran, was die nächsten Stunden und Tage bringen würden, beschlich.
 

10. Die Flucht

Nun hieß es aber ernst zu machen, und schnell wurde das Zivil angelegt, Zahnbürste, einige neue Paar Strümpfe, Taschentücher, Schokolade, Messer und Zigaretten in den Tascben verteilt, die Stiefel in den Mantel gelegt, dieser gerollt und verschnürt. Drei Paar Strümpfe wurden angezogen, um möglichst geräuschlos auf[zu]treten und um die Füße an den scharfen Steinen im Wasser nicht zu verletzen. Dann legte ich mich kurze Zeit nieder, denn um 2 Uhr nachts sollte es losgehen.

An Schlaf war natürlich nicht zu denken, denn die Spannung war viel zu groß, stand doch viel für mich auf dem Spiele. Zunächst konnte ich mich gar nicht in meine Rolle finden, und ich gestehe offen, dass mich häufig richtige Angstgefühle beschlichen. Endlich war es soweit, ich zog mich an, nahm meinen gerollten Mantel unter den Arm und öffnete leise mein Fenster, das zur ebenen Erde lag. Da stand ich, bereit zur Flucht, und wieder meldete sich in mir der kleine Schweinehund, der in jedem Menschenherzen wohnt, und flüsterte mir zu: Bleibe da, noch ist es Zeit, die Sache geht doch schief und dann sitzt du im Gefängnis! Ich gab mir noch einen moralischen Ruck, und behutsam stieg ich aus dem Fenster, die Brücken hinter mir abbrechend. Von nun an wickelte sich alles so glatt ab wie in einem Filmschauspiel. Die Rolle saß und es ging los. Die Luft war rein, und in wenigen Sekunden war ich über die Kaimauer und im Fluss verschwunden. Hier wurden schnell die Beinkleider hochgekrempelt und nun, im Wasser vorsichtig von Stein zu Stein tastend, der Marsch flussaufwärts der Stadt zu aufgenommen. Die Kaimauer bot mir rechter Hand sichere Stütze und Schutz gegen die Schildwache.

Sehr langsam ging es voran, denn kein Geräusch durfte hörbar werden. Zu meinem Entsetzen war das Wasser höher, als ich dachte, und bald stieg es mir über die Kniee, wobei die Kleider sich voll Wasser saugten. Mein Kleiderbündel musste ich mit den Zähnen festhalten, um es vor der Nässe zu bewahren. Gerade war ich in Höhe des Postens, als ich neben mir auf dem Ufer ein Geräusch hörte, als ob ein Mensch sich im Schlafe wälzte. Mich rührte beinahe der Schlag! Sollte meine Flucht ein so schnelles Ende finden? Ganz langsam lugte ich über die Kaimauer und gewahrte nichts, meine aufgeregten Nerven hatten mir einen üblen Streich gespielt. Vorsichtig ging es weiter von Stein zu Stein. Bums! rutsche ich zwischen zwei Steinen in die Tiefe und sitze bis an die Hüften im Wasser! Nun war ich nahe daran, die Fassung zu verlieren, denn wie sollte ich mich in dem nassen Zeug auf den hell erleuchteten Bahnhof wagen? Da hätte ich ja wahre Bäche hinter mir zurückgelassen! Ich war schon nahe daran, wieder umzukehren, aber wieder gab ich mir einen ordentlichen Ruck und weiter ging es! Gottlob stieg das Wasser nicht mehr, und endlich nach fast eineinhalb Stunden hatte ich die Strecke von etwa 150 m zurückgelegt und einen Punkt erreicht, den der Posten nicht mehr übersehen konnte.

Im Schutze eines Haufens Schottersteine zog ich mich vorsichtig auf die Kaimauer herauf und blieb erst einmal einige Minuten still liegen. Ich konnte nicht mehr, die Spannung war zu groß gewesen, und die Reaktion machte sich fühlbar. Schließlich richtete ich mich auf, und im Schatten des Steinhaufens machte ich nun Toilette, die nötig war. Die drei Paar Strümpfe wurden Neptun geopfert, die Beinkleider notdürftig durch Abstreifen vom Wasser befreit, trockene Strümpfe, Stiefel und Mantel angezogen und fertig war ich. Die Stadt lag in tiefem Schlummer. Kein Geräusch war zu hören, nur weit entfernt klapperte ein Nachtwächter. Schnell etwas Schokolade gegessen, aufgestanden und losmarschiert, schnell in den Schatten der Gefängnismauern und dann behutsam an die Straßenecke. Nun musste ich von jetzt ab frei und und ungezwungen weitergehen und sogleich erst mal den Pförtner des Gefängnisses passieren. – Eine bittere Pille! – Alles ging gut. Ich hielt mich in der Mitte der Straße und ahmte den watschelnden Gang der Japaner nach. Bald kam ich in die hell erleuchteten Straßen Fukuokas, aber kaum ein Mensch ließ sich sehen, wurde doch gerade an diesem Tage ein großes Geisha-Fest zur Feier der Krönung des Kaisers gefeiert.

Bald erreichte ich die Gleise der Straßenhahn, folgte ihnen nach links und ging nun unbekümmert meines Weges die Hauptgeschäftsstraße entlang. Dann folgte ich an der ersten Abzweigung nach rechts, nur selten einigen verschlafenen Polizisten begegnend, welche sich nicht um mich kümmerten. Um 4:45 Uhr vormittags erreichte ich den Bahnhof, um 5:00 Uhr sollte der Zug einlaufen. In meinem Programm hieß es: Aufenthalt im Wartesaal, Pfeife rauchend und Zeitung lesend. Aber ich war doch jetzt ganz nass, das aber war im Programm nicht vorgesehen. Ich blieb daher lieber draussen und hoffte allmählich trocken zu werden. Ich wollte erst im letzten Augenblick eine Fahrkarte erster Klasse nach Yokohama lösen. Kurz vor 5:00 Uhr ging ich an den Schalter, stammelte höflich das Zauberwort »Yokohama Ito«, und schon hatte ich meine Fahrkarte. Eine liebe kleine Japanerin schob sie mir lächelnd zu. Nun ging es, Pfeife rauchend, die Zeitung entfaltend auf den Bahnsteig, der hellerleuchtet war. Eine Menge Japaner waren schon da, und ich stellte mich mitten unter sie, meine Zeitung lesend.

Nun muss sich mein Schicksal entscheiden! Wenn ich hier nicht auffiel, auf dem Bahnhof einer Stadt, die kaum je von Fremden besucht wurde, dann musste es auch weiter gut gehen. Voll Spannung schielte ich heimlich über meine Zeitung, aber keiner schien Verdacht zu schöpfen. Ich kam mir vor wie ein Mörder, der nach vollbrachter Tat nun annimmt, ein Jeder müsse ihm seinen Mord an der Nasenspitze ansahen.

Ich wurde wohl neugierig wegen meiner Größe betrachtet, aber schon lief der Zug ein und vor mir hielt ein Wagen erster Klasse, in den ich langsam ohne Hast einstieg. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, und ich fühlte, dass das Schwerste hinter mir lag! Eine unsagbare Freude erfüllte mich! Nach einjähriger Gefangenschaft frei in Zivil im Zuge, wenn auch mit nassen Hosen!

Der Zug setzte sich in Bewegung, und hinter mir versank Fukuoka im Dunkel der Nacht. In meinem Abteil lag ein Japaner schlafend und ich fand, daß dies auch für mich eine passende Beschäftigung sei. So wickelte ich mich in meinen Ulster und versuchte zu schlafen. Um 7:48 Uhr waren wir in Moji. Die Bahnsteigsperre wurde passiert und die Fähre bestiegen, welche mich nach Shimonoseki übersetzen sollte. Hier waren eine Menge Japaner versammelt, auch einige Europäer waren nach gut verbrachter Nacht im warmen Bett auf dem Wege ins Geschäft. Ich betrachtete sie wie fremde Tiere im Zirkus. Lange hatte ich den Anblick von Weißen, welche sich der goldenen Freiheit erfreuen durften, entbehrt!

Nach kurzer Fahrt bei schönstem Wetter über die Meerenge kamen wir in Shimonoseki an, dem Ziel meiner Reise, wo heute die Jawata Maru einlaufen sollte. Ich begab mich in das Sanjo-Hotel, um dort erst einmal ordentlich zu frühstücken, und zwar zur selben Zeit, wo meine zurückgebliebenen Kameraden sich zum Morgenkaffee zu versammeln pflegten. Welch ein Gegensatz nach nur wenigen Stunden!

Beim Eintritt in das Hotel stürzte mir ein Boy entgegen, der unbedingt mein Gepäck besorgen wollte. Ich wehrte ihn hoheitsvoll ab, aber ohne Erfolg, denn er witterte ein gutes Trinkgeld. Ich bedeutete ihm, dass ich gleich weiterfahren würde, und endlich ließ er mich zufrieden. Nach dem Frühstück, das infolge der Strapazen nicht recht schmecken wollte, erkundigte ich mich so beiläufig nach der Jawata Maru und erfuhr, dass sie schon angekommen und nachmittags 3 Uhr weiterfahren würde. Sodann wurde ein Japaner beauftragt, mir eine Fahrkarte erster Klasse nach Shanghai zu lösen. Als Ausweis erhielt er meine Visitenkarte »Olaf Nielsen aus Stockholm«.

Gerade stehe ich rauchend in der Halle, da tritt ein europäisch gekleideter Japaner auf mich zu und stellt sich mir höflichst als Geheimpolizist vor! Das hatte gerade noch gefehlt! Ich ließ mich aber so schnell nicht verblüffen und wünschte ihm, die Hände in den Taschen, erstmal auf Englisch guten Morgen. Dagegen konnte er sohlieBlich nichts einwenden. Nun entspann sich eine köstliche Unterhaltung, bei der ich immer englisch sprach und mich recht unbekümmert, wie ein Amerikaner, benahm. »Welcher Nationalität gehören Sie an?« »Schwede!« Er: »Es sind sehr wenig Schweden in Japan!« Ich: »Das glaube ich auch!« Er nach längerer Pause: »Schweden liegt doch neben Norwegen?« Ich: »Jawohl.« Er sagte »Guten Morgen«, ich dasselbe, wonach er verschwand.

Ich mußte nun annehmen, dass er mich bei der Polizeibehörde anmelden würde. Aber das konnte man nicht ändern, und so beschloss ich, erstmal in die Stadt zu bummeln, um mir alles Nötige für die Reise zu beschaffen. Die Straßen waren voller festlich gekleideter Menschen, die alle die Krönung des Kaisers feierten. Es war kaum durchzukommen, denn alle Augenblicke kam ein langer Festzug vorüber.

Bald fand ich ein großes Warenhaus, dass für meine Zwecke passte. Die Bedienung bestand aus unzähligen jungen Mädchen, die mich umschwärmten. Mit stoischer Ruhe durchwanderte ich die Räume, einen spleenigen, reichen Amerikaner markierend. Schon fand ich einen schönen Lederkoffer, klappte ihn auf und warf in ihn nacheinander Bürsten, Kämme, Seife, Morgenschuhe, Bademantel, Wäsche usw., ohne nach dem Preis zu fragen.

Das war ein rechter Spaß für die kleinen Verkäuferinnen, so einen dummen Kerl hatten sie wohl lange nicht gesehen. Alle strömten herbei, um dem Schauspiel beizuwohnen. Schnell huschte eine über die Straße, um einen Japaner herbeizuholen, der auf Englisch die Rechnung machen sollte. Kurz und schmerzlos wurde bezahlt, der Koffer abgeschlossen und eine Rikscha bestiegen. Unterwegs wurde bei einem Bartschneider Halt gemacht, der mich rasieren sollte. Na, der hatte mich schön bearbeitet mit seinem Rasiermesser, das eher einer Säge glich! Dann ging's vom Bahnhof her wieder von neuem ins Hotel, der Boy lief hinzu, war sehr erstaunt, meinen Koffer zu sehen, wog ihn heimlich in der Hand, um nach dem Gewicht sein mutmaßliches Trinkgeld zu schätzen, und ich bestellte schnell ein Bad, denn meine Sachen mussten unbedingt getrocknet werden.

Nun wurde gut zu Mittag gemessen. Der Besitzer des Hotels erkundigte sich, wann ich an Bord zu fahren wünschte, ich bestellte das Motorboot auf 2 Uhr nachmittags. Beim Abschied verteilte ich gute Trinkgelder, die tiefen Bücklinge auf japanische Art zur Folge hatten, und los ging die Fahrt in den Hafen, wo es von Schiffen wimmelte. Nun sollte ich die Jawata Maru in Wirklichkeit sehen, die mir schon lange im Kopfe herumspukte! Bald sah ich sie vor Anker liegen und war mit ihrem Aussehen zufrieden, nicht zu groß und nicht zu klein, wie ich sie mir gedacht hatte. Flugs an Bord und an Deck! Ein Steward zeigte mir meine Kammer an Oberdeck, schnell herein, die Türe zu und gelacht aus vollem Herzen! Das war eine Freude. Alles glatt verlaufen! Bald hielt es mich nicht länger in meiner Kammer, ich musste mir den Kahn und seine Passagiere ansehen!

Vielleicht sind nette Leute an Bord und ein passendes Vis-a -vis für einen Flirt? Der Kamm war mir schon gehörig geschwollen, wo alles so glatt ging. Meinetwegen konnte der Dampfer ruhig abfahren, aber meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Immer wieder kamen Boote mit neuer Fracht oder Motorboote mit Passagieren. Plötzlich legte ein Boot mit schwarz-weiß-roter Flagge an, also Hafenpolizei! Herauf geklettert kommt ein Polizist mit einem roten Papier, das einem Haftbefehl verteufelt ähnlich sieht! Der Vogel kommt schnell die Treppe herauf, geht an mir vorbei und auf die Kommandobrücke. Anscheinend »Große Panne«!

Was hilft's, wenn's für mich ist, werde ich es bald wissen, also nur Ruhe, die Sache wird schon schief gehen! Wirst du jetzt geklappt [geschnappt], ist es Pech, jedenfalls hast du viel Spaß gehabt! Aber der bittere Kelch ging noch einmal an mir vorüber. Es war anscheinend eine harmlose Sache gewesen, und endlich setzte sich der Dampfer in Fahrt bei schönstem Sonnenschein. Wenn der Dampfer jetzt nicht noch von den letzten kleinen Inseln, auf denen sich Signalstationen befinden, gestoppt würde, war ich geborgen, wenigstens bis zur Yangtsemündung. Die Signalstationen waren bald passiert und ich hatte freie Fahrt in der Tasche! Welch ein Glücksgefühl.

Jetzt erst mal auskundschaften, ob der Dampfer Funkentelegraphie an Bord hatte. Er hatte da oben nämlich verdächtige Strippen herumhängen. Ich pirschte mich an den Schiffsarzt heran und erkundigte mich, ob ich ein F.T.-Telegramm aufgeben könnte. Es war ihm sehr peinlich, mir versichern zu müssen, dass leider keine F.T.-Station an Bord sei. Ich tat hierüber sehr bekniffen, dankte und verschwand innerlich frohlockend. Schon wieder eine Klippe weniger! Jetzt herunter zum Obersteward, um zu sehen, was an Bord sei. Leider war es eine Enttäuschung, da außer einem amerikanischen Ehepaar nur Japaner an Bord waren.

Nun aber endlich mal schlafen, aber es ging nicht, es hielt mich nicht in meiner Kabine, und so wanderte ich an Deck spazieren, bis die Glocke zum Abendessen rief. Vor diesem hatte ich etwas Angst wegen der Unterhaltung, die leicht kitzlich werden konnte. Schon bot man mir den Platz links vom Kapitän an, da gehörte ich nun ausgerechnet als ausgepickter Kriegsgefangener hin! Nur die Ruhe kann es machen, dachte ich, und setzte mich erstmal hin. Der Kapitän war sehr würdig und sprach kein Wort. Mir gegenüber saß ein altes amerikanisches Ehepaar aus Shanghai, das sich die Krönungsfeierlichkeiten in Kyoto angesehen haben mochte. Auch sie verzehrten schweigend ihre Mahlzeit. Ich hatte natürlich keinerlei Grund, viel zu reden und bestellte mir statt dessen eine Flasche Sekt, um auf meine gelungene Flucht zu trinken. Der Rest der Tischgesellschaft bestand aus Japanern, die ungefährlich waren.

Inzwischen fing die brave Jawata Maru bedenklich an zu schaukeln, und ich kam zu keinem rechten Genuss meiner neugewonnenen Freiheit. Die zwei Tage Seefahrt wurden in beschaulicher Ruhe, meist lesend und träumend, verbracht. Bei Sonnenaufgang wurde die Yangtsemündung erreicht; hier bot sich den Japanern noch einmal Gelegenheit, mich durch ein Patrouillenboot herunter zu holen, wenn meine Flucht entdeckt sein sollte! Ich liege schlafend in der Koje, da plötzlich fällt ein Schuss. Ich raus mit einem Satz an die Reeling! Weit und breit nichts zu sehen! Schon wieder hatten meine Nerven mich angeführt!

Das Schiff setzte ruhig seine Fahrt fort, bald kam der Lotse an Bord, und wir fuhren den Yangtse hinauf. In wenigen Stunden mussten wir in Shanghai sein. Es galt nun für mich, alle Vorbereitungen zu treffen, um unter allen Umständen von dem japanischen auf chinesischen Boden zu kommen. Es war ja möglich, dass man mich im letzten Moment vor Verlassen des Dampfers festhalten konnte, wenn inzwischen die japanischen Behörden in Shanghai von meiner Flucht in Kenntnis gesetzt waren. Ich musste also auf der Hut sein, um jederzeit »ausscheiden« zu können. Wenn verdächtige Gestalten an Bord kamen und sich dort mausig machten, wollte ich ganz stille verschwinden und mich auf der anderen Seite in den Yangtse gleiten lassen. Dieser hatte zwar eine starke Strömung, aber ich traute mir zu, mich irgendwohin zu verholen, da es auf dem Strom auch noch von Dschunken wimmelte.

Um 9 Uhr vormittags hatten wir den Hafen erreicht, aber der Dampfer brauchte fast eine halbe Stunde, um festzumachen. So hatte ich genügend Zeit und Muße, um mir die Leute anzusehen, die am Pier den Dampfer erwarteten. Es zeigte sich weiter nichts Verdächtiges, und nach kurzer Zeit war fest gemacht, der Landungssteg heraufgeschoben und herauf stürzten die chinesischen Hotelkulis, Gepäckträger und Droschkenkutscher! »Master, Master, plenty laufen mache, mache, Master, feiner Pferdewagen« – im Nu saß ich im Wagen, und los gings in schlankem Trab ohne Zollrevision. Endlich nach 55 Stunden in Sicherheit!
 

Anmerkungen

1. Einige Transporte waren schon vorher abgegangen. Kempe fuhr auf demselben Schiff wie der Gouverneur, als dessen Adjudant er zu diesem Zeitpunkt möglicherweise noch amtierte.

2. Der Satz ist ein späterer Einschub, denn die Verhältnisse in Europa konnten ihm nicht bekannt sein.

3. Der »Bund« (englisch) ist die heute noch bestehende lange Uferpromenade in Shanghai.

4. Der Name Sanjo Maru ist nicht bekannt; vermutlich war es die Satsuma Maru.

5. Dass die Verschlechterung auf den englischen Einfluss zurück gingen, war allgemeine Ansicht unter den Gefangenen.

6. Gemäß Artikel 7 der Landkriegsordnung war Japan verpflichtet, für den »Unterhalt« der Unteroffiziere und Mannschaften zu sorgen; dies geschah auch. Anspruch auf »Löhnung« hatten nur die Offiziere (Artikel 17).

7. Das war der schon erwähnte Heinrich Unkel.

8. Die Japaner verstießen insoweit systematisch gegen Artikel 8 der Landkriegsordnung.

9.  Auch: Yawata Maru; Baujahr 1898 mit 3.465 Bruttoregistertonnen.

10. Woher der Ausdruck »Möbel« in diesem Zusammenhang kommt, ist unklar.

11. »Kroquis« (französisch »croquis«) ist eine aufgrund von Erkundungen angefertigte Skizze bzw. ein militärisches Geländebild, hier im Sinne einer Streckenkarte verwendet.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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