Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Geschichte der Gefangenschaft und Flucht aus Japan (Teil 2)

von Paul Kempe

In der Geschichte der Fluchtversuche aus den japanischen Lagern spielt Hauptmann Paul Kempe eine besondere Rolle: Neben dem einfachen Soldaten Heinrich Unkel war er der einzige Gefangene, der tatsächlich die Heimat erreichte! Darüber hinaus verstand er es, seine Flucht sehr lebendig zu schildern und erreichte damit ein großes Publikum. Freilich stand er insoweit ein wenig im Schatten von Günter Plüschow, dessen Bericht in Buchform erschien und zu einem der am besten und am längsten verkauften Weltkriegsbücher wurde.

Kempes Bericht beginnt mit der Kapitulation Tsingtaus und endet mit dem viel bejubelten Eintreffen in Berlin. Es existieren offenbar mehrere Versionen, die jedoch kaum voneinander abweichen und über deren Entstehung weiter nichts bekannt ist. Die hier zugrunde gelegte Fassung ist ein maschinenschriftlicher Text aus der früheren Sammlung Walter Jäckisch, den der Besitzer dem Redakteur freundlicherweise vor einigen Jahren überließ. Dieser Text wurde mit einem zweiten abgeglichen, den Herr Klaas Kempe zur Verfügung stellte.

Der Redakteur hat den Text in durchnummerierte Abschnitte gegliedert, die Rechtschreibung angepasst, Schreibfehler (in Original oder Abschrift) korrigiert und Anmerkungen – als Fußnote oder in [ ] – hinzugesetzt.
 

Erster Teil: Vom Abtransport nach Japan bis zur Flucht nach Shanghai

Zweiter Teil: Von Shanghai nach Hause

  1. In Shanghai
  2. Neue Pläne für die Weiterreise
  3. Eine große Überraschung
  4. Das Leben unserer deutschen Landsleute in Shanghai
  5. Noch immer kein Fortkommen!
  6. Ein Hoffnungsstrahl
  7. Abschied und Fahrt zur russischen Grenze
  8. Manschuria–Harbin
  9. Mein neuer Kabinengenosse
  10. Beobachtungen im Speisewagen
  11. Leben und Treiben im Zuge
  12. Ein kapitales Geschäft
  13. Ein Tag in Petersburg
  14. Petersburg–Haparanda
  15. Haparanda–Stockholm
  16. Stockholm–Sassnitz–Berlin

 

11. In Shanghai

Zum deutschen Klub! Nach kurzer Fahrt erreichte ich den »Bund«, Shanghais Prachtstraße an den Ufern des Yangtse, an dem auch der deutsche Klub »Concordia« gelegen ist, und schon war ich am Ziel. Nun ging's erst schnell in die Stadt, die mir von früher bekannt war; denn es hieß jetzt, die Garderobe erheblich zu komplettieren. Hierzu war der vielen Deutschen bekannte Chinesenschneider »Müller« der richtige, der dann auch mit tausend Katalogen und Stoffproben anrückte. Wer kennt nicht sein geflügeltes Wort: »Hose, Weste, Doppel...gesäß«!

Das Leben und Treiben in der eigenartigen Millionenstadt Shanghai machte mich ganz verwirrt, so dass ich mir vorkam wie vom Mond gefallen. Aber wenige Tage, und ich war wie früher im Bilde. Ich hatte bald das Glück, einen guten Bekannten aus der Belagerungszeit Tsingtaus, den deutschen Kaufmann Friedrich, zu treffen.1 Ihm habe ich außerordentlich viel zu danken. Vor allem warnte er mich ernstlich vor dem Betreten der französischen Konzession, denn die französischen Behörden wüssten schon Bescheid über mich und würden mich sofort verhaften. Dann rüstete er mich noch für alle Fälle mit einem siebenschüssigen Revolver aus. Mit diesem bin ich unbekümmert in der Tasche in Shanghai herumgezogen und auch kein einziges Mal belästigt worden.
 

12. Neue Pläne für die Weiterreise

Ich hoffte in Shanghai bald Gelegenheit zu finden, auf irgendeine Weise Deutschland näher zu kommen. Es war mir dabei gleichgültig, in welcher Aufmachung dies geschehen musste. Ein Landsmann nach dem anderen wurde »heimgesucht« und stundenlang mehr oder weniger ausgequetscht. Dieser oder jener machte mir auch Hoffnung auf irgendeinen Dampfer, der besonders geeignet sein sollte, aber jedesmal wurde es nichts, und dabei verging ein Tag nach dem anderen. Die Enttäuschung meinerseits war groß! Ich merkte, dass ich mich schnellstens auf eigene Faust umsehen musste, und so ging es oft abends in die Matrosenkneipen, um Fühlung zu nehmen. Diese Fühlungnahme kostete viel Zeit, und mancher Tropfen konzentrierten Alkohols musste vertilgt werden, um das Opfer vorzubereiten. Aber auch hier gab es nur »Versager«. Entweder stellten sich die Leute als zu wenig vertrauenswürdig heraus, oder sie waren zu betrunken, um noch in Betracht zu kommen. Einmal glaubte ich, in einem mich anbettelnden Amerikaner den Richtigen gefunden zu haben. Er entpuppte sich aber bei näherem Zusehen als ein zu heruntergekommenes Subjekt, das nur noch in den übelsten Opium- und Spielhöllen vegetierte.

Inzwischen nahm ich schnell noch Unterricht im Englischen, und zwar suchte ich in der Zeitung nach einer Amerikanerin, um von ihr die amerikanische Mundart zu lernen. Im Stillen dachte ich mir, dass es kein Hindernis sein würde, wenn sie außerdem noch hübsch sei. Aber alles auf einmal kann man nicht haben, und so begann mein Unterricht bei einer Amerikanerin, die Schreibmaschinenfräulein war im Hause ihrer Eltern. Ich hatte mir fest vorgenommen, niemals über den Krieg zu sprechen und mein Inkognito streng zu wahren. Ersteres war ganz unmöglich einzuhalten, denn meine Lehrerin fing gleich vom Kriege an zu sprechen, und so hatten wir uns gleich an den Köpfen.

In Shanghai verkehrten häufig amerikanische Kriegs- und Transportschiffe, welche aus Honolulu oder Manila kamen oder nach dort gingen. Die Besatzung besteht aus angeworbenen Freiwilligen, unter denen sich frühere Angehörige aller Nationen befinden, da viele Abenteurer der hohe Lohn lockt. Ich hoffte, einen dieser Leute zu veranlassen, mich als blinden Passagier einzuschmuggeln, aber es war den Kerls letzten Endes doch nicht zu trauen. Ich versuchte es mit den amerikanischen Marineoffizieren, welche viel bei Neumann verkehrten. Für alle Ostasiaten genügt es, wenn ich nur den Namen dieses Biedermannes angebe, denn Neumann mit seiner seligen »Emmeken« war draußen so bekannt wie ein bunter Hund. Er betrieb eine deutsche Schlächterei mit Restaurant, in welchem es besonders gute deutsche Hausmannskost gab. Er selbst war ein Original im wahrsten Sinne des Wortes. Während des Krieges verkehrten dort nur deutsche, dann amerikanische Seeoffiziere wegen des guten Bieres und einzelne andere Neutrale.

Hier legte ich mich fast jeden Abend vor Anker, um mich mit den Amerikanern bekannt zu machen, was draußen einfacher ist als in Deutschland, wo man immer noch kein einziges Wort mit einem Fremden sprechen kann, ohne sich förmlich vorzustellen, wovon man doch garnichts hat. Im Laufe einiger gemütlich verlebter Stunden wussten sie so ziemlich Bescheid, wo mich der Schuh drückte. Aber sie bedauerten lebhaft, nichts für mich tun zu können, denn sie riskierten Kopf und Kragen, wenn sie mich an Bord durchschmuggelten. Im Übrigen waren sie mehr oder weniger deutschfreundlich, bewunderten Deutschlands Stärke und hofften, wir würden die Engländer tüchtig verhauen, denn diese schienen sie tüchtig zu hassen, weil der Engländer den Amerikaner ziemlich verachtet. Sie nannten die Engländer im Gespräch nur »leimies«, was wohl so viel wie «Sauertöpfe« bedeuten mag.
 

13. Eine große Überraschung

Als ich eines Tages friedlich lesend im Club saß, erzählte mir jemand, es seien noch weitere drei Offiziere aus Fukuoka entkommen, und sie wären jetzt auch in Shanghai bei guten Freunden versteckt. Ich war natürlich riesig erfreut, wenn ich es auch kaum glauben konnte. Aber allmählich sah ich meine früheren Leidensgenossen wieder. Das war eine freudige Überraschung. (Anmerkung: Es waren der heutige Vizeadmiral a. D. Straehler, wohnhaft in Timmendorferstrand bei Lübeck, damals Oberleutnant zur See, und der Kommandant des Kanonenbootes Iltis seiner Zeit, Korvettenkapitän Sachsse, und [unleserlich]).2 Ich erfuhr, daß meine glücklich durchgeführte Flucht sie angeregt hatte, sofort dasselbe zu wagen. Ein vierter [Modde] hatte das Unglück gehabt, in Mukden – fast schon in Sicherheit – von Japanern wieder eingefangen zu werden. Eine schwere Gefängnisstrafe war die Folge. Er soll in Mukden sein japanisches Geld in chinesisches gewechselt haben und hierbei deutsch nachgezählt haben.

Nun waren wir vier Offiziere, aus einem Lager stammend, glücklich zusammen, und jeder wollte als erster an der deutschen Grenze durchs Ziel gehen. Im Stillen musste ich mir gestehen, daß ich als Landratte und bei meiner Größe die geringsten Aussichten hatte, wenigstens auf dem Seewege durchzukommen. Meinen Kameraden musste es dagegen ein leichtes sein, an Bord irgendeines Dampfers anzumustern. Jeder betrieb nun seine Pläne ganz für sich im Geheimen, und jeder dachte im Stillen, den Vogel bereits abgeschossen zu haben. Aber es sollte noch viel Wasser den Yangtse herunterlaufen und unsere fieberhafte Ungeduld auf eine harte Probe stellen. Indessen lasen wir mit Behagen in englischen und japanischen Zeitungen die Beschreibung unserer Flucht, die manche sarkastische Bemerkungen über die Aufsichtsbehörde unseres Landes enthielten. In einem Gruppenbild waren wir vier Ausreißer vereint in den Zeitungen ausgestellt. Die Japaner hatten dieses geschickt aus einzelnen Bildern zusammengestellt und es sah so aus, als ob wir uns vor der Flucht noch hätten photographieren lassen.
 

14. Das Leben unserer deutschen Landsleute in Shanghai

Bald vier Wochen war ich schon in Shanghai und lernte in dieser Zeit die meisten Deutschen kennen. Manche trauliche Runde verdanke ich ihrer Gastfreundschaft und gedanke noch oft der schönen Stunden in den deutschen Familien Shanghais. Unsere Landsleute waren durch den Krieg hart getroffen, hatte er doch mit einem Male jeden deutschen Schiffsverkehr gesperrt. Die Engländer vor allem verhinderten jeden Handelsverkehr der Deutschen. Die deutschen Firmen konnten weder exportieren noch importieren. Der Handelskrieg, der sich in Shanghais Zollgebäude abspielte, war so streng, dass nicht einmal deutsche Pakete an deutsche Adressen gelangten. Alle jungen Kaufleute Shanghais hatten sich damals in Tsingtau freivillig gemeldet und waren in Kriegsgefangenschaft geraten. Deshalb waren nur noch die älteren Deutschen in Shanghai und die Kontore mehr oder weniger gänzlich verödet, was sehr traurig anmutete.

So hatten die Deutschen im Laufe der Zeit, nachdem rückständige Arbeiten aufgearbeitet waren, meist nichts zu tun, und alle trafen sich deshalb im Deutschen Klub, wo gegen 12 Uhr mittags und des Abends reges Leben herrschte. Die Hauptanziehungskraft bildete der deutsche Heeresbericht, der immer regelmäßig eintraf. Jeder Verkehr mit Engländern und Franzosen hatte aufgehört. Traf man frühere gute Bekannte, ging man mit hoher Nase aneinander vorüber, ohne sich eines Blickes zu würdigen. Dies war auch bei den Damen der Fall; auch bei früheren Freundinnen hatte der Krieg die letzte Verbindung zerrissen. Der englische Generalkonsul in Shanghai hatte seine Schäfchen gut an der Strippe und mischte sich in Privatangelegenheiten englischer Männer und Frauen mit einer Unverfrorenheit ein, wie es in unserer Heimat einfach unmöglich wäre. So verbot er z.B. englischen Frauen, sich von deutschen Spezialärzten behandeln zu lassen, auch wenn ihre Krankheit seit Jahren von diesen behandelt und ein Wechsel von Ärzten lebensgefährlich war. Die Frauen fügten sich alle, wenn auch zähneknirschend, sind doch die deutschen Arzte die besten in Shanghai.

Auch hier muss man, wenn auch widerwillig, bewundern, wie streng sich jeder Engländer im Ernstfalle seiner Regierung unterordnet und willig hierbei viele Härten in Kauf nimmt, ohne zu murren. Aber nicht nur in das Geschäfts- und Privatleben griff der Krieg mit rauher Hand ein. Auch das Sportleben Shanghais, im Frieden in ganz Ostasien berühmt, litt schwer. Aus allen internationalen Klubs waren die Deutschen ausgeschieden, so schlossen sie sich eng zusammen und trieben ihren geliebten Sport unter sich. Bald nach der Ankunft war ich Mitglied des Deutschen Reitervereins geworden, hatte mir ein gutes chinesisches Pony gekauft und Gelegenheit, viele herrliche Schnitzeljagden in die Umgebung zu reiten. Ein alter Wunsch hatte sich hiermit erfüllt, denn die Jagden und die Rennreiterei in Shanghai stehen in höchster Blüte, und die Anforderungen an Reiter und Pferd waren durchschnittlich größer als bei uns zu Hause. Das Chinesenpony ist ein prachtvolles Geländepferd, springt geradezu ideal alle natürlichen Hindernisse und geht ins Wasser wie Pech und Schwefel, ohne im mindesten zu stutzen. Mein Pony, das etwa 200 Mark kostete, war in dieser Hinsicht ein wahres Unterseeboot und sprang wie ein Vogel über jedes Mindernis.

Ein großer Genuß für alle musikalischen Deutschen boten die regelmäßig sonntagnachmittags stattfindenden philharmonischen Konzerte in der Stadthalle unter einem deutschen Dirigenten, Professor Mack.3 Viele genußreiche Stunden habe ich bei ausgezeichneter Musik verbracht. Das Publikum war international, vorwiegend deutsch. Viele Bekannte sah ich dort wieder und eine Menge deutscher Offiziere in Zivil, die aus Sibirien glücklich entflohen waren und wie ich allzulange in Shanghai festgehalten wurden. Nur ganz allmählich lernte man sich kennen, denn man war vorsichtig, neue Bekanntschaften zu machen. Viele interessante Schicksale hörte man, und schnell schloß man sich zusammen, um ebenso schnell ohne Abschied in alle Himmelsrichtungen auseinanderzugehen, wenn das Reiseprogramm fertig war.
 

15. Noch immer kein Fortkommen!

Inzwischen rückten die Weihnachtstage [1915] heran, ohne dass sich irgend etwas Passendes für mich fand, und ich war der Verzweiflung nahe. Nach Hause musste ich unter allen Umständen! Es wurde mir klar, dass eine Möglichkeit, zur See nach Amerika zu kommen, für mich kaum bestand. Die Bewachung der Dampfer war zu streng, und meist liefen sie Japan an, was mir erst recht nicht passte. Es blieben nur noch folgende Möglichkeiten:
1. Auf dem Landwege durch China nach Persien,
2. auf dem Seewege via Suez,
3. mit der Eisenbahn duch Russland nach Skandinavien.

Ich studierte nun alle Reisehücher und Karten, vor allem die Werke von Richthofen und Sven Hedin, und fand, dass der Fußmarsch durch China nach Persien an sich wohl möglich sei, aber viele Monate beanspruchte. Indessen waren die Russen in Persien eingedrungen, und vor allem soll die chinesisch-persische Grenze durch Kosaken bewacht sein. Führer und Begleiter waren vorhanden, aber die ungünstige Jahreszeit – der Winter ist in Nordchina sehr streng – und die Ungewißheit, lebendig die persische Grenze zu überschreiten, waren mir zu bedenklich. Der Seeweg nach Suez kam als ultima ratio in Frage, und so blieb nur übrig, den Stier bei den Hörnern zu packen und durch Russland zu fahren.

Ein solches Unternehmen war immerhin recht waghalsig und musste etwaiger schwerer Folgen wegen sehr gründlich überlegt sein und gut vorbereitet werden. Musste man doch eventuell gewärtig sein, als Spion angesehen und behandelt zu werden. Die Rechtspflege in Rußland ist dazu im Kriege noch recht dürftig, denn »Rußland ist groß und der Zar weit«, wie man damals noch sagen konnte. Die Auskünfte, welche ich hei Deutschen erhielt, die viele Jahre in Russland gelebt hatten, waren auch nicht gerade ermutigend und bestanden darin, dass sich der Befragte bedenklich hinterm Ohr kratzte.

Neue Kleidung und Gepäck für den zweiten Teil meiner Heimreise war indessen fertig geworden. Ein amerikanischer Schneider hatte mir einen recht amerikanisch aussehenden Reiseanzug mit unwahrscheinlich breiten Schultern, weiten Hosen und einen mächtigen Ulster abgeliefert, und alle sonstigen Kleidungs- und Wäschestücke waren mehrfach auf deutsche und Firmenbezeichnungen nachgesehen worden. Sogar eine große, runde goldene Brille fehlte nicht, um mich unkenntlich zu machen. Besondere Schwierigkeiten machte der Einkauf englischer oder amerikanischer Toilettartikel. Überall waren nur deutsche Waren erhältlich, und es dauerte viele Tage, bis ich endlich ein fremdländisches Rasiermesser und entsprechende Seife erstehen konnte.
 

16. Ein Hoffnungsstrahl

Eines Tages saß ich noch traurig auf meinen gepackten Koffern, als mein Freund eintrat und mir erklärte, dass er endlich einen Menschen ausfindig gemacht habe, mit dem wir gleich in Unterhandlungen treten könnten. Schnell gingen wir in seine Wohnung, wo sich bald der »große Unbekannte« einfand. Nach längerem hin und her bei Whisky und Soda, dem unvermeidlichen Getränk Ostasiens, erklärte er sich bereit, einen neuen Pass nach Skandinavien für mich zu besorgen und mir diesen dann abzutreten. In wenigen Tagen sollte ich ihn schon erhalten und noch regelmäßigen Sprachunterricht bekommen. Vor allem sollte ich erstmal die Nationalhymne auswendig lernen, was mich sehr viel Mühe kostete.

Am nächsten Morgen erschien der Unbekannte wieder und äußerte Bedenken, seinen Pass hier an Ort und Stelle beschaffen zu können, da er hier zu bekannt sei. Wenn er hier einen Heimatpass besorge, müsse er auch tatsächlich nach Hause fahren, denn sonst würde man es gleich merken. Nach langem Überlegen kamen wir überein, dass er nach einem fremden Land reisen müsse, dort seinen Pass über Shanghai–Russland–Skandinavien besorgen und ich dann in Shanghai an seine Stelle treten sollte. Mit allem Nötigen versehen reiste er ab und hoffte, in etwa 10 Tagen zurück zu sein. In diesen Tagen saß ich wie auf feurigen Kohlen, und keine Braut mag ihren Hochzeitstag so heiss ersehnt haben wie ich den Tag der Rückkehr meines Gewährsmannes mit dem sagenhaften Pass. Endlich kam er, entfaltete ihn, und zu meiner großen Freude trug er alle nötigen Stempel der fremden Konsulate. Erleichtert atmete ich auf. Der Rest war ein Kinderspiel. Nach 24 Stunden prangte mein Bild mit allen erforderlichen Stempeln auf dem Pass, und es konnte nun endlich losgehen.
 

17. Abschied und Fahrt zur russischen Grenze

Sieben lange Wochen hatte ich unfreiwillig in Shanghai zubringen müssen, und doch – wie schnell waren sie verflogen! Jetzt galt es völlig unbemerkt abzureisen, ohne dass die zahlreichen Agenten des englischen Konsulates es merkten. Von deutschen Freunden und Familien durfte ich mich nicht offiziell verabschieden, und auch die chinesischen Dienstboten sollten nicht merken, daß ich nicht wiederkäme. Ich ließ daher alles stehen und liegen und erklärte meiner Sprachlehrerin, nur eine kleine Jagdpartie für 14 Tage auf dem Yangtse zu machen. Ich versprach ihr noch ein paar fette Hasen und empfahl mich.

Am 11. Januar abends fiel mein Schnurrbart, und ich stand bald in amerikanischer Aufmachung mit Goldbrille mit zwei schönen Lederkoffern vor dem Expresszug, der mich zunächst mal über Nanking nach Tientsin bringen sollte. Wohlweislich hatte ich keine Schlafwagenkarte vorausbestellt, um das Erscheinen meines neuen Namens als »Nach Skandinavien abgereist« in den Shanghai-Zeitungen zu vermeiden. Ein gutes Trinkgeld an den Chinesenschaffner verschaffte mir ein Abteil für mich allein, und pünktlich um 11 Uhr abends rollte der Zug ohne Zwischenfall aus der Halle.

Mit einiger Beklommenheit sah ich jedoch der dunklen Zukunft entgegen, aber schließlich freute ich mich nicht wenig auf die sicher noch zu bestehenden Abenteuer und schönen Reiseeindrücke. Am frühen Morgen erreichte der Zug bereits Nanking, eine große und berühmte Chinesenstadt am Yangtse, die in jeder Revolution eine große Rolle spielt. Hier waren auch deutsche Seeleute interniert, nämlich die Besatzung des Torpedobootes S 90, welches aus dem Hafen von Tsingtau ausbrach und den japanischen Kreuzer Takachio torpedierte. Mit einem Fährdampfer überquerte man den Fluss und erreichte den zukunftsreichen Hafen Pukow, die Ausgangsstation der bekannten Tientsin-Pukow-Bahn, deren eine Hälfte von deutschen Ingenieuren erbaut und verwaltet wird. Nach zwei Tagen lief der Zug in den großen Chinesenbahnhof Tientsin ein, wo ich den Zug verließ, um den Peking-Mukden-Zug zu erwarten. Mit Absicht vermied ich den Europäerbahnhof Tientsins, um die dort postierten englischen Agenten zu umgehen.

In der Chinesenstadt verbrachte ich einige frohe Stunden bei guten Leuten und hatte noch das Glück, die persönliche Bekanntschaft eines österreichischen Rittmeisters zu machen, der seinerzeit in Galizien von den Russen gefangen worden war, später aus Sibirien entflohen war und nun versuchte, über Amerika heimzukehren. Er hatte als polnischer Jude viele Wochen Russland mit der Eisenbahn durchfahren und konnte mir einige wertvolle Winke geben. Ich versah ihn zum Dank mit einigen Adressen für Shanghai, und wir trennten uns, um in entgegengesetzter Richtung, jedoch mit demselben Endzweck weiterzureisen.

Um Mitternacht bestieg ich den Peking-Mukden-Express und lag schon in der Koje, als die übrigen Europäer den Zug auf dem Europäerbahnhof Tientsin betraten. Am anderen Morgen trafen sich die Reisenden im Speisewagen zum Frühstück und beäugten sich verstohlen, sollten sie doch über Wochen zusammen im Zug wohnen. Die Musterung verlief zufriedenstellend, und das gute Frühstück ließ zunächst keine Angstzustände aufkommen, wenn sich auch der Zug mit Windeseile der japanischen Kolonie Korea näherte. Meine Tischnachharn entpuppten sich als englische Freiwillige auf dem Weg nach Flandern. Besondere Kriegsbegeisterung war an ihnen nicht zu merken, eher erweckten sie den Eindruck gewisser betrübter Lohgerber. Damals war es nämlich in Ostasien üblich, englischen Angestellten einfach zu kündigen, wenn sich die jungen Leute nicht freiwillig meldeten. Wir unterhielten uns ein wenig und tauschten unsere Reiselektüre aus. Ich hatte mir eine Menge englischer und amerikanischer Zeitschriften und Romane gekauft und ließ diese für Neugierige offen herumliegen.

Endlich erreichten wir Mukden, eine Stadt, die in mir gemischte Gefühle auslöste, war doch hier einer meiner früheren Leidensgefährten wieder festgenommen worden. Ich fürchtete hier besonders strenge Überwachung, aber auch hier machten es mir die Japaner schwer, an ihre sagenhafte Schlauheit zu glauben. Einige Stunden Wartezeit verliefen ohne Zwischenfall, und ich riskierte sogar einen kleinen Bummel durch die tief verschneite, recht öde Stadt bei großer Kälte, welche die Schleimhaut der Nase zum Erstarren brachte.

Nun ging es mit dem japanischen Expresszug nach Mandschuria an der russischen Grenze. Der Aufenthalt in diesem japanischem Zuge war ein besonderer Genuss. Die Wagen waren sehr geräumig, bequem und vor allen Dingen außerordentlich sauber. Jeden Abend erhielt der Reisende sein Bett mit schneeweißer Wäsche aufgeschlagen. Hier im Speisewagen spürte ich zuerst den Krieg: Der Rubel war bei den Japanern nur die Hälfte wert. – Allmählich sank meine Stimmung beträchtlich, je mehr wir uns der russischen Grenze näherten. Hier musste sich mein Schicksal entscheiden. – Eine Kleinigkeit hatte ich allerdings nachgeholfen und meine Ankunft in Manschuria auf das russische Neujahrsfest verlegt. Eines Morgens waren wir angelangt und mussten nun den schönen japanischen Expreßzug mit seiner guten Bedienung verlassen.
 

18. Manschuria–Harbin

Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mit besonderer Begeisterung den kommenden Ereignissen entgegensah, als ich mit meinen Koffern auf dem Bahnsteig stand und auf die große Kontrolle durch die russische Polizei wartete. Aber da keiner kam, so hatte ich Muße, mich ein wenig umzuschauen. Der Wechsel zwischen Japan und Rußland war doch recht auffallend. Diese blassen, verängstigten, schmierigen und verkommenen Gestalten sollten also Russen sein? Sie machten nicht den Eindruck von »Kulturpionieren«, wie sie da dichtgedrängt auf ihren Kleiderbündeln den Warteraum füllten und mit stoischer Ruhe vor sich hinträumten.

Um uns Europäer kümmerte sich merkwürdigerweise niemand, und als der Zug nach Harbin einlief, stieg auch ich gemächlich ein. Bald fuhr der Zug ab, ohne dass auch nur eine Fahrkarte nachgesehen wurde! Russisches Neujahr? Auf einmal hörte ich im Wagen deutsch sprechen – das ist doch bei Gefängnisstrafe verboten? Also wird es wohl eine Falle sein! In keinem Lande blüht so das Spitzelwesen wie in Russland. Die Leute hatten aber kein Glück mit mir, und ich verzog mich in mein neues Abteil.

Die Fahrt bis Harbin bot wenig Interessantes. Das Land war tief verschneit und die Fenster voller Eisblumen, die die Aussicht verhinderten. So fuhr man ganz gemächlich durch die Gegend und las, aß und schlief möglichst. Bis Harbin war ich noch allein im Abteil und hatte Ruhe vor unliebsamen Gesprächsanknüpfungen. Mit großer Verspätung kamen wir in Harbin an und hatten hier sechs Stunden Aufenthalt, was für mich sehr unangenehm war, denn die große Stadt sollte besonders gefährlich sein. Aber was half's? Die Zeit musste irgendwie totgeschlagen werden, und so mietete ich einen der russischen Juden als Führer, und wir zogen los, um erstmal Fahrkarte und Platz bis Petersburg zu besorgen, was mit seiner Hilfe glatt erledigt wurde. Man beachtete mich überhaupt nicht, auch folgte niemand ungebeten meinen Spuren. Viel zu sehen gab es nicht außer den eigenartigen katholischen Kirchen und den gefährlich aussehenden Kosakenpatrouillen auf kleinen struppigen Pferden. In einem Hotel begegneten mir einige recht vergnügte japanische Offiziere, welche scheinbar mit ihren russischen Kameraden ein kleines Pogrom veranstaltet hatten.

Mein kleiner dicker Bärenführer fuhr immer getreulich mit mir im Schlitten zusammen und klagte über die schlechten Zeiten. Besonders bejammerte er das gänzliche Fehlen von Zucker. Schließlich endeten wir halb erfroren in einer eleganten Weinstube mit Damenbedienung. Mein Führer sank bald am warmen Ofen in Schlaf. Bei einer guten Flasche Sekt gedachte ich einige Informationen zu sammeln. Die sehr eleganten Damen schienen hierzu besonders geeignet. Vorsichtig kam ich über das kalte Wetter auf die schlechten Kriegszeiten zu sprechen. Sie waren zunächst sehr liebenswürdig, da sie mich anscheinend für einen Engländer hielten. Als ich aber auf ihre Fragen antwortete, dass ich ein Neutraler sei, sank das Zutrauen um verschiedene Grade. Um dies zu heben, stellte ich ihnen huldvollst die Beteiligung meines Landes im Kriege gegen die Boches für das nächste Frühjahr in Aussicht, was die Stimmung wieder sichtlich belebte. Von irgendwelcher Kriegsmüdigkeit war nichts zu bemerken. Endlich war es auch Zeit, auf den Bahnhof zu gehen, und mein Führer lieferte mich dann auch prompt am richtigen Zuge ab.
 

19. Mein neuer Kabinengenosse

Mein Zug sollte mich in etwa 10 Tagen nach Petersburg bringen. Er enthielt auch einen Schlafwagen der Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft, in dem ich es mir gemütlich machte. Zu meinem Schrecken erschien plötzlich noch ein Japaner bei mir mit unzähligen Gepäckstücken und machte sich mit seinen Sachen im wahrsten Sinne des Wortes breit. Als er noch Kabinenkoffer hereinschleppen ließ, wollte ich mich gerade beim Schlafwagenschaffner beschweren, als ein Russe diesem schon ein beruhigendes Zeichen machte. Also handelte es sich wohl um einen Mann mit guten Verbindungen. Ich zog mich daher lieber bescheiden zurück und peilte die Lage. Warum mußte ausgerechnet ich den einzigen Japaner ins Abteil bekommen und noch dazu für volle 10 Tage nach Petersburg? Das konnte ja nett werden, wenn dieser erst wie üblich seiner Wissbegierde die Zügel schießen ließ. Ich beschloss, mich höflich, aber streng zurückhaltend zu benehmen und mich intensiv mit Lesen zu beschäftigen. Immerhin war mir der Japaner doch noch lieber als ein Engländer!

Mein neuer Genosse schien in der Tat wohl etwas Besseres zu sein, denn er reiste mit einem Sekretär und Dienerschaft. Seine kleine Frau verabschiedete sich von ihm mit unzähligen Bücklingen, die er in königlicher Haltung entgegennahm, und der Zug fuhr ab. – Nach einigen ruhigen Stunden fing der gute Mann schon an, mich anzuzapfen, und das sollte nun während der ganzen Reise so fortgehen. Es hieß nun auf der Hut zu sein und vor allem nachts nicht laut zu träumen, jedenfalls nicht in deutscher Sprache. Nachdem in üblicher Weise die Wetterlage besprochen war, wollte er wissen, was ich wäre. »Kaufmann«, antwortete ich und las schnell weiter. Höflich lächelnd quittierte er diese inhaltsreiche Antwort. »Was für ein Kaufmann?« – Ich erwiderte kurz: »In Öl!« – Schnell erfand ich eine Geschichte, um ihn einzuseifen, und überlegte, was für verschiedene Sorten Öl es gäbe und wie sie auf Englisch hießen. Da platzte er schon los und wollte die Sorten wissen, mit denen ich handele. Ich antwortete also: »Rohöl, Petroleum und Benzin«, was ihn zunächst scheinbar befriedigte. Doch bald erkundigte er sich nach meinem Office in Ostasien. Ich erzählte ihm nun, daß ich Angestellter der Norwegian Oil Company und lange Jahre in China gereist sei, um von der chinesischen Regierung Konzessionen auf Ölfelder zu erlangen. Die amerikanische Standard Oil Company habe uns aber zu sehr Konkurrenz gemacht, und ich hätte es daher vorgezogen, zu kündigen und mich zu Hause mit »shipping« zu beschäftigen.

Von dieser Sache hatte ich nur wenig Ahnung, aber ich glaubte, mich schon leidlich durchlügen zu können. Die Geschichte mit der schweren Konkurrenz schien ihm als Kaufmann besonders einzuleuchten, und er ließ mich einige Zeit in Ruhe. Nun hatte ich Muße, mir zu überleben, was denn wohl Leute tun, wenn sie sich mit »shipping« beschäftigen, und ich dachte, daß diese Erdbewohner wahrscheinlich wohl so etwas wie Schiffsmakler und Verfrachter seien. Bald kamen wir in ein Gespräch über die traurige Lage des Schiffsmarktes, und in beweglichen Tönen schilderte ich ihm die Lage, die durch den U-Boots-Krieg entstandene Knappheit der Tonnage und die damit verbundenen hohen Schiffsfrachten und Dampferpreise. Das war ja ein allgemein bekanntes Thema und erforderte keine besonderen Fachkenntnisse. Es ging auch alles klar, und die Zeit des Essens war gekommen.
 

20. Beobachtungen im Speisewagen

Wir turnten nun durch den ganzen Zug nach vorn zum Speisewagen, und mit gemischten Gefühlen sah ich den kommenden Ereignissen entgegen. Der russische Kellner wies mir einen Platz an einem Tische an, an dem nur russische Offiziere und eine Dame saßen. Ich nahm höflich grüßend meinen Fensterplatz ein. Gegenüber saß ein korpulenter alter General mit Frau und rechts von mir ein Pionierhauptmann. Also mal wieder große Panne. Aber es sollte besser gehen, als ich dachte. Sie beachteten mich gar nicht und waren vollauf mit ihrer russischen Leidenschaft, gut zu essen, beschäftigt. Das Publikum bestand vorwiegend aus russischen Offizieren und Beamten und einigen Engländern mit Familie, anscheinend Ärzte oder Beamte. Das Essen war wirklich recht gut und mehr als reichlich. Es begann fast immer mit der russischen Kohlsuppe, in die der Kellner dann noch einen großen Löffel Rahm schüttete. Dann gab es ein Fisch- und Fleischgericht, Nachtisch, Käse und Kaffee. Alkohol war im ganzen Zuge kein Tropfen zu haben. Hierauf war auch wohl die sehr ruhige, beinahe gedrückte Stimmung der Offiziere zurückzuführen. Da diese doch an die Front reisten, hatte ich eine gehobenere Stimmung bei ihnen erwartet.

Während der ganzen Fahrt wurde ich nie von Fremden angesprochen. Ich gab ihnen allerdings auch keinen Anlaß dazu, da ich nach englischer Sitte zwischen den Gerichten englische Bücher zu lesen pflegte und diese wiederum absichtlich offen liegen ließ. Die Sprachkenntrisse der Russen beschränken sich ja hauptsächlich auf Deutsch und Französisch; die englische Sprache scheint weniger bekannt zu sein, denn ich hatte Mühe, mich mit dem Kellner zu verständigen, der noch nicht einmal »ham and eggs« verstand. Nun sah ich häufig, wie die Russen köstliche Salzgurken und gebratene Schneehühner bestellten, konnte aber mit dem Kellner nicht klar kommen. Schließlich frug ich meinen japanischen Freund, der mir sagte, dass Salzgurken »ogurats" und Schneehühner »djereni diabtschik« hießen. Mit den beiden Bezeichnungen für Schneehuhn und Salzgurken war mein russischer Sprachschatz erschöpft. Er langte aber trotzdem für die ganze Reise.
 

21. Leben und Treiben im Zuge

Indessen durchfuhr der Zug in mäßigem Tempo die Gegend in Richtung Irkutsk. Das ganze Land lag unter tiefem Schnee begraben, nur selten ragten einige Dörfer heraus, die mit ihren kleinen nüchternen Blockhäusern einen traurigen Eindruck machten. Nur die Rauchsäulen, die kerzengrade in die Luft stiegen, zeigten an, dass dort noch Menschen lebten. Und doch soll Sibirien sehr fruchtbar und reich an Lebensmitteln sein. Hiervon konnte man sich auf jeder Station überzeugen. Die Bauern aus der Umgebung haben dort ihre festen Verkaufsstände, in denen man köstliche Butter, Milch, Sahne, Brot und Fleisch, Fische und Geflügel zu billigen Preisen erstehen konnte. So hatten die Reisenden stets Gelegenheit, sich selbst zu verpflegen, was viele Russen auch vorzuziehen schienen. Heißes Wasser für Tee ist auf allen Stationen zu haben. Sobald der Zug hielt, stieg alles aus, kaufte ein oder machte sich in der köstlichen Winterluft Bewegung, die man auf solch langer Reise sehr entbehrte. Man pendelte eifrig auf und ab, bis die Glocke das Zeichen zum Einsteigen ruft. Man merkt dabei, daß die Zeit hier keine große Rolle spielt, denn dreimal wird geläutet, bis der Zug endlich weiterfährt.

Die mitfahrenden Russen waren bald miteinander bekannt, dagegen hielten [sich] Reisende des internationalen Schlafwagens sehr zurück, und jede Nation verkehrte unter sich. Einige Engländerinnen versuchten einmal ein Gespräch mit mir anzuknüpfen, indem sie zunächst einmal mit »fine weather today« anfingen, aber ich war keineswegs in Laune, mit ihnen bekannt zu werden und antwortete so brummig, dass sie es für immer aufgaben. Als dritter Gastfreund fand sich nun tagsüber der japanische Sekretär ein, der ebenfalls recht neugierig war und mir manches Kopfzerbrechen machte. Eines Tages wollte er absolut wissen, wie das Einmaleins meiner Sprache auf Norwegisch hieße. Ich erschrak sehr, da ich keine Ahnung hatte, und half mir wieder mit der Nationalhymne und zählte die Wörter der ersten Strophe nacheinander auf. Er versuchte sie dann auch brav auswendig zu lernen.
 

22. Ein kapitales Geschäft

Eines Morgens sollte ich aber arg in Verlegenheit gesetzt werden. Der Japs wollte plötzlich allen Ernstes einen Dampfer von mir kaufen. Das war die Quittung auf meine shipping-Legende. Zunächst war ich ziemlich erschrocken, denn ich hatte wirklich keinen Dampfer auf Lager. Aber eine Antwort musste gegeben werden, und so fragte ich zunächst, ob ein Passagier- oder Frachtdampfer gewünscht und wie groß er sein sollte. Herr und Sekretär tuschelten zusammen und bestellten einen Frachtdampfer von 6000 tons. Ich sah mich in meinem Laden um und meinte, das Geschäft würde sich schon machen lassen, die Dampfer seien aber augenblicklich sehr teuer. Das schien ihn aber nicht zu stören, und so erwiderte ich, daß unter 1000 Mark pro Tonne wohl kaum etwas Passendes zu finden sei. Ich glaubte ihn durch den hohen Preis abschrecken zu können, aber der gute Mann verbeugte sich nur höflich und sagte: »Zahlbar in London!« Dann überreichte er mir seine Visitenkarte, worauf ich ihm die meinige ebenso ernst übergab. Er entpuppte sich als Direktor einer japanisch-russischen Minengesellschaft. Meine näheren Offerten sollte ich ihm über die japanische Botschaft in Petersburg zugehen lassen. Der gute Mann war sichtlich mit diesem Geschäft zufrieden und ließ mich nun in Ruhe.

Die Fahrt bot auch weiterhin nicht viel Interessantes. Von deutschen Kriegsgefangenen und Verschleppten, welche längs der Strecke untergebracht sein sollten, war nichts zu bemerken, obgleich behauptet wurde, daß viele der Ärmsten an den Bahnhöfen um Lebensmittel betteln sollten. Nur ein einziger Militärtransport begegnete uns. Die Leute schienen echte Sibiriaken und machten einen recht guten Eindruck in ihren zweckmäßigen Winteruniformen und hohen Filzstiefeln. Allerdings konnte man nicht unterscheiden, ob sie eine Pelzmütze oder nur einen natürlichen Haarschopf trugen; beim Haarschneider war jedenfalls noch keiner gewesen.

In Irkutsk war längerer Aufenthalt, und ein buntes Treiben auf dem Bahnsteig und in den Bahnhofsräumen bot sich dem Ankömmling. Auf dem Nebengleis stand ein Zug voll junger Offiziere, die, nagelneu ausgerüstet, der Front zugeführt wurden. Auch hier war die Stimmung sehr ruhig, und merkwürdigerweise waren keinerlei Angehörige oder Landsleute bei der Abfahrt des Transports zugegen. – Ein Versuch, an der Quelle guten Kaviar zu essen, schlug fehl; man brachte mir statt dessen eine Tasse Bohnenkaffee. Ich musste wohl ein anderes Zauberwort anwenden, das mir aber nicht geläufig war. – Auf der Weiterfahrt wurden öfters Materialtransporte eingeholt. Die Ladung stammte aus Amerika und enthielt besonders viel Eisenbahnmaterial und Maschinen, an welchen Rußland außerordentlich Mangel litt. Inzwischen war mein Japs wieder neugierig geworden, und es entspann sich eine längere Unterhaltung, wie wir nun den bewussten Dampfer nach Russland bekämen. Ich schlug vor, ihn unter alter Flagge nach Archangelsk zu bringen, wo dann der Besitzwechsel erfolgen könne. Diese wenigstens theoretisch einfache Lösung leuchtete ihm ein, obgleich ich ihm ausmalte, dass er unterwegs leicht torpediert werden könnte und darauf dringen müsse, vorher bezahlt zu werden. – Endlich kamen wir mach 10-tägiger Fahrt gegen Mittag in Petersburg an, und ich nahm herzlich Abschied von meinem Japaner, nicht ohne ein Wiedersehen in Stockholm zu verabreden.
 

23. Ein Tag in Petersburg

Bald sollte ich merken, dass meine Reise nun nicht mehr ganz so harmlos verlaufen würde. Als ich bei dem Reisebüro von Cook meine Originalfahrkarte gegen meinen Schein umtauschen wollte, war dieses des Sonntags wegen geschlossen. Kurz entschlossen fuhr ich im Schlitten zum Finnländischen Bahnhof, um hier eine neue Karte nach Skandinavien zu lösen. Leider wieder vergeblich, da die Schalterbeamten den Namen »Tornea«, die russische Grenzstation, absolut nicht verstanden. Fremde Hilfe wollte ich nicht in Anspruch nehmen, aber schließlich musste ich mich doch entschließen, bis zur Weiterfahrt am anderen Morgen ein Hotel aufzusuchen. Wiederum durchfuhr ich die Stadt, um im Grand Hotel gegenüber der deutschen Botschaft abzusteigen. Freunde hatten mich zwar dringend gewarnt, in Russland Hotels aufzusuchen, da man ohne Passrevision bei der Ortspolizei kein Zimmer erhalte; aber ich vertraute auf meinen guten Stern und betrat die große Halle dieser modernen Karawanserei, um gleich ein gutes Zimmer zu verlangen. Sogleich verlangte man den Pass zu sehen, und es wurde mir bedeutet, dass dieser sofort zur Polizei geschickt würde; noch in der Nacht würde ich ihn zurück erhalten und könne also damit rechnen, am nächsten Morgen weiterzureisen. – Nun stand ich für die nächsten Stunden ohne Pass in der russischen Hauptstadt; was das bedeutet, wird jeder ermessen können, welcher russische Verhältnisse kennt. Wenn man nun in Shanghai meine Flucht entdeckt und nach Petersburg telegraphiert hatte? Dann war ich eben verloren und wanderte zunächst in die Peter-und-Pauls-Festung.

Darum frisch auf und die wenigen Stunden der Freiheit in vollen Zügen genossen! Welch ein malerisches Bild bot sich mir, als ich die Räume des Hotels betrat! Es war gerade Teestunde und eine dichte Menschenmenge wogte hin und her. Eine fesche Zigeunerkapelle spielte meisterhaft und erfüllte mich mit neuer Zuversicht und Lebensfreude. Vom großen Krieg war hier nichts zu spüren, und die außerordentliche Eleganz der Toiletten wies auf rege Beziehungen mit Frankreich hin. Auffallend viele russische Offiziere sah man hier in ihren fremdartig anmutenden Uniformen. Vor allem die Kosaken- und Tscherkessenoffiziere in ihren langen, gefalteten Röcken, mit Patronengurt, krummem Säbel und hoher Pelzmütze boten ein schönes Bild. – Aber bald trieb mich die Unruhe hinaus auf die Straße, um doch wenigstens einen flüchtigen Eindruck von Petersburg mitzunehmen. Die Stadt machte einen recht freundlichen, aber fremdartigen Eindruck, wozu der schmutzige Schnee nicht wenig beigetragen haben mag. Auffallend waren die großen Plätze mit ihren düsteren Monumentalbauten. Obgleich es schon dunkel wurde, sah man auf den freien Plätzen eifrig Rekruten drillen. Die Straßen waren merkwürdig menschenleer. Zahlreiche Rote-Kreuz-Fahnen deuteten allein auf den Krieg hin. Verwundete waren nirgends zu erblicken.

Doch nun zurück ins Hotel, um vielleicht zum letzten Male bei froher Musik und schöner Umgebung die Henkersmahlzeit einzunehmen! Nach erfrischendem Bade stand ich bald im Frack in der Halle, um meinen Gedanken nachzuhängen. Jeden Augenblick konnte sich doch mein Schicksal entscheiden! Mit Liebe gedachte ich meiner armen Schwester, die in derselben Stadt, plötzlich vom Kriege überrascht, nicht mehr heimzureisen vermochte und nun schon zwei Jahre bei ihren deutsch-russischen Schwiegereltern wohnte. Es war natürlich ausgeschlossen, sie aufzusuchen, und ich hätte sie verleugnet, wenn sie mir begegnet wäre.

Doch schnell hinein in den Speisesaal, bevor man mich vielleicht abholte. Hier bot sich mir ein farbenprächtiges Bild wie vorher im Teeraum. Wiederum konzertierte eine gute Zigeunerkapelle, bei deren Weisen ich noch einmal gut zu speisen hoffte. Aber, obgleich ich das Beste bestellte, schmeckte mir alles fade, die innere Aufregung war doch zu groß! Jedesmal, wenn einer der Hotelleiter im eleganten Gehrock den Saal betrat, glaubte ich schon, dass er mich bitten würde, einmal »unauffällig« hinaus zu kommen. – Ein Versuch, beim Kellner eine Flasche Sekt zu bestellen, schlug fehl; er sah mich ganz entgeistert an und bedeutete mir, dass Alkohol seit Kriegsbeginn nicht mehr verkauft werden dürfte.

Bald hielt es mich nicht länger im Saale, und unruhig pilgerte ich in der Halle auf und ab, bis ich endlich 11 Uhr abends so im Vorbeigehen im Büro nach meinem Pass fragte, da ich gern zu Bett gehen wollte. Zu meiner großen Freude wurde mir mein Pass zugleich zurückgereicht mit dem Bemerken, dass alles in Ordnung sei. Ich konnte meine Freude nur schwer verbergen und schlenderte gemächlich fort, um mein Zimmer aufzusuchen. Wiederum war das Glück hold geblieben. Die große Spannung ließ mich kaum schlafen und am anderen Morgen stand ich ganz zerschlagen um 4 Uhr auf, um mich rechtzeitig zum Finnländischen Bahnhof zu begeben.

Der Portier hatte mir die Fahrkarte besorgt, und ich fuhr im Auto durch die noch schlafende Stadt über das holperige Pflaster zum Bahnhof. Im Hotel hatte ich die Fahrt schon bezahlt, da der Portier behauptete, das Auto gehöre dem Hotel. Er hatte aber gelogen, denn der Führer lachte mich aus und verlangte seine volle Taxe. So wurde ich zum Schluss wenigstens noch einmal betrogen. Aber im teuren Rußland darf man sich über solche Kleinigkeiten nicht wundern. Der Rubel rollt hier mit besonderer Schnelligkeit, und man versteht, den Fremdling ordentlich zu Ader zu lassen.
 

24. Petersburg–Haparanda

Am 23. Januar 1916 um 5 Uhr vormittags verließ ich die russische Hauptstadt, und zu meinem Erstaunen sah ich, dass keiner meiner bisherigen Reisegenossen mit mir weiterfuhr. Dies war mir sehr recht, und so begann die Fahrt ohne Zwischenfall. Wenn alles gut ging, konnte ich nach zwei Tagen die russisch-schwedische Grenze überschritten haben.

In den ersten Stunden verlief die Reise ereignislos. Mehrfach jedoch betraten russische Gendarmen das Abteil, um immer wieder die Pässe nachzusehen. Die gutgewachsenen und -gekleideten Leute sind aber nicht so gefährlich, wie sie aussehen. Ist der Pass vorschriftsmäßig visiert, so ist alles in Ordnung. Doch plötzlich hielt der Zug, und alle Reisenden und sämtliches Gepäck wurde ausgeladen. Und nun begann für mich eine außerordentlich gefährliche Stunde, die ich nie vergessen werde. Alle Reisenden wurden in ein Vorzimmer mit vielen Tischen geführt und hatten hier einen großen Fragebogen auszufüllen. Unter anderem war anzugeben, welche Sprachen man beherrschte. Da ich außer der Nationalhymne nicht Norwegisch konnte, gab ich kurz Englisch an. In fieberhafter Eile durchdachte ich noch einmal die Fragen, die ich wahrscheinlich beantworten musste, und schon öffnete sich die Tür und ein riesiger Gendarm rief meinen Namen auf.

In lässiger Haltung, die Hände in den Manteltaschen vergraben, folgte ich ihm und riss mich innerlich zusammen. Der große Saal, den ich nun betrat, war wiederum mit einzelnen Tischen ausgerüstet, an denen je ein Gendarmerieoffizier saß. Einem derselben hatte ich gegenüber Platz zu nehmen. Mein Gegenüber machte einen recht guten Eindruck. Er war tadellos gepflegt und gekleidet und sah klug und energisch aus. Er spielte lässig mit dem Bleistift, las in meinem Pass und Fragebogen und musterte mich, dabei Notizen machend. Ich sah mich inzwischen gelangweilt im Saal um und bemerkte an den Wänden zahlreiche martialische Kosaken herumstehen. Sollten diese Kerle mich etwa bald herausschleppen? Doch jetzt fing das Verhör an. Mein Gegenüber erkundigte sich – ganz beiläufig – auf Englisch nach meinem Namen, Beruf, Reiseziel usw. Ich antwortete ebenso Englisch, dass ich in Shanghai ansässig sei und nur auf Erholungsurlaub führe. Er machte sich Notizen und erkundigte sich nach meinen nächsten Vorgesetzten. Die Namen dieser Leute hatte ich in Shanghai erfahren und auswendig gelernt, und so gab ich sie ganz ruhig an. Doch wenn er weiteres wissen wollte? Ich fühlte, wie mir unterm Tisch langsam die Beine abstarben, und es wurde mir unheimlich heiß. Nur schnell die Hände vom Tisch herunter, denn sie fingen an zu zittern.

Nun wollte er gern wissen, weshalb ich meinen Pass in Japan besorgt und nicht gleich von Shanghai heimgereist sei. Auf diese Frage war ich besonders vorbereitet und ich antwortete, dass ich zunächst die Absicht gehabt hätte, einige Tage in Japan zu verbringen und dann mit dem Dampfer heimzureisen. Diesen Plan hätte ich aber wegen der großen U-Boots-Gefahr aufgegeben und es vorgezogen, den sicheren Landweg durch Russland zu benützen. Er nahm diese Erklärung stillschweigend zur Kenntnis und äußerte lächelnd, er kenne Schanghai auch sehr gut, worüber ich mich noch freuen musste, obgleich ich am Ende meiner Kräfte war. Ich glaubte immer, dass der Mann genau über mich Bescheid wusste, mich aber nur noch etwas zappeln lassen wollte, bis es ihm beliebte, mich ins Gefängnis zu werfen. Schließlich musste ich ihm meine ganzen Barmittel vorzählen, und 300 Rubel mußte ich gegen Empfangsbescheinigung zurücklassen, da es damals nur erlaubt war, 400 Rubel in Papier auszuführen. Endlich war ich mit einem höflichen Kopfnicken entlassen und wurde ins Nebenzimmer zur Gepäckuntersuchung befohlen. Mit wankenden Knien ging ich langsam davon und passte haarscharf auf, ob man mir nicht etwas auf Deutsch nachrief, um mich im letzten Moment zu entlarven, aber nichts erfolgte, und hinter mir schloss sich die Tür. Meine Kräfte hatten noch gereicht.

Die folgende Gepäckuntersuchung war außerordentlich harmlos, und nur der Form wegen wurde etwas in den Koffern herumgewühlt. Ich war direkt enttäuscht, hatte ich mich doch hierauf besonders gut vorbereitet. Ich besaß sogar ein richtiges Bankbuch, auf meinen falschen Namen lautend, dazu richtig bezahlte Rechnungen und echte Briefumschläge, die ich unauffällig in den Koffern verteilt hatte. Es hätte mir doch einen diebischen Spaß gemacht, wenn sie darauf hereingefallen wären. – Eine körperliche Untersuchung fand überhaupt nicht statt, und schon bereute ich das schöne Geld, das ich ehrlicherweise abgegeben hatte. Schließlich saß ich wieder im Zuge, aber ich war durch die aufregende Untersuchung zu mitgenommen, um mich auf mein Glück zu freuen. Mein Magen begann zu streiken; die andauernde Spannung, in der ich nun schon über zwei Wochen lebte, war zu viel für ihn.

Am 25. Januar 1916 gelangten wir endlich nach Tornea, der russischen Grenzstation, und wiederum wurden die Pässe abgenommen. Sollte der Tanz etwa von neuem beginnen? Hatte man sich gar noch über mich in Shanghai erkundigt? Aber nach stundenlangem Warten mussten wir in langer Reihe antreten, und heim Verlassen des Bahnhofs erhielt jeder seinen Pass zurück. Draußen standen Schlitten bereit, um uns über den zugefrorenen Tornea-Fluss nach dem schwedischen Haparanda zu befördern. Bald saß ich – ausgerechnet mit einem Engländer – im Schlitten und in sausender Fahrt ging es der Grenze zu. Aber noch einmal wurde uns Halt geboten! Wiederum wurden uns die Pässe an einem großen Tor abverlangt und nach Durchsicht zurückgegeben. Als wir das Tor passiert hatten, waren wir endlich auf schwedischem und damit wirklich neutralen Boden. Die Flucht war gelungen!
 

25. Haparanda–Stockholm

Im Schlitten fuhren wir zur schwedischen Grenzstation, wo wiederum eine flüchtige Kontrolle vorgenommen wurde. Ich hielt mich etwas zurück, um hierbei meine Reisegefährten zu beobachten. Zu meinem Erstaunen sprachen auf einmal viele von ihnen Deutsch oder versuchten es wenigstens. Sie schienen schon zu wissen, dass in Schweden ein anderer Wind wehte! Es war ein Genuss, diese gut gewachsenen blonden Schweden in ihren schönen Schafspelzen und weißen Mützen zu beobachten. Am liebsten wäre ich ihnen vor Freude um den Hals gefallen, aber ich wollte mich nicht zu erkennen geben, um auch weiterhin mit den feindlichen Ententegenossen reisen zu können, um von ihnen Informationen aus Russland zu erlangen. Auch wollte ich nach Verabredung Kameraden in Shanghai Nachricht geben, wenn meine Reise durch Russland gelungen war.

Nach längerem Aufenthalt ging es weiter in den schönen schwedischen Eisenbahnen durch die tief verschneite Landschaft nach Stockholm. Während der Fahrt hatte ich Muße, mit allen möglichen Leuten zu sprechen. Es handelte sich durchweg um Kaufleute, welche auf der Jagd nach Maschinen, Arzneistoffen und deutschen Farbstoffen waren. Die Knappheit in diesen Artikeln musste in Russland groß sein, denn sie versicherten, dass sie nach ihrer Rückkehr jeden Preis für die mitgebrachten Sachen verlangen könnten.

Am 26. Januar 1916 langten wir in Stockholm an. Vorher erkundigte ich mich bei einem Engländer nach dem besten Hotel. Er meinte, daß das Grand Hotel das beste sei, aber da wohnten »Those dirty Boches«, und deshalb könne man da nicht wohnen. Ich pflichtete ihm ruhig bei und zog mit ihm und einem Franzosen, der anscheinend jede Sprache sprach, in ein alkoholfreies Hotel und war mit ihnen längere Zeit zusammen. Sie studierten eifrig Kataloge über Maschinen dortiger Geschäfte und schimpften über die märchenhaften Preise. Der Franzose wollte sogar versuchen, nach Deutschland zu gehen, um Maschinen zu kaufen, war besonders neugierig und erkundigte sich nach den Aussichten, die deutsche Grenze zu passieren. Ich deutete ihm, dass man hierzu nur gute Empfehlung nötig habe und wies ihn an das deutsche Konsulat, wohin ich mich nun gleich begab. Nach einigem Warten wurde ich empfangen. Ich stellte mich als entflohenen Offizier aus Japan vor, was ich allerdings nicht beweisen könne, da sogar jeder Hosenknopf englisch sei. Aher nach längerer Unterhaltung erhielt ich wenigstens einen Pass bis zur deutschen Grenzstation in Sassnitz, wo mich dann die deutschen Militärbehörden verarzten würden. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, als mein Freund, der Franzose, sichtlich verschüchtert vor mir stand und mich fragte, »wie es gewesen wäre«? Ich beruhigte ihn und wies auf seine sicher guten Papiere hin. Der Gute ahnte natürlich nicht, dass das Konsulat bereits vor ihm gewarnt war.
 

26. Stockholm–Sassnitz–Berlin

Gemütlich meine kurze Pfeife rauchend, schlenderte ich nun in der schönen Stadt umher und betrat ein großes Warenhaus., um verschiedene Einkäufe zu machen. Als ich gerade einige Kragen anprobierte, sprach mich ein gut aussehender Herr an, ob ich vielleicht Herr X. aus Chicago sei. Auf meine erstaunte Frage, wie er darauf komme, meinte er, er hätte mich auf der Straße gesehen, wie ich meine Pfeife am Stiefelabsatz ausgeklopft habe. Da der Mann mir verdächtig erschien, drückte ich den Guten in eine Ecke des Ankleidekabinetts und sagte, dass ich gerade in Stockholm keine Lust verspüre, mich von fremden Herren ausfragen zu lassen. Er wisse wohl selbst gut genug, welches Gelichter sich hier herumtreibe und für seine treuen blauen Augen gäbe ich keinen Pfennig. Er beteuerte zwar hoch und heilig, dass er so einer nicht sei, aber ich bin fest überzeugt, dass er einer dieser tausenden üblen Vertreter des Kontinents war, von denen ganz Skandinavien wimmelte.

Am 28. Januar 1916 verließ ich wohlausgerüstet Stockholm und fuhr nach Malmö und von da ohne Zwischenfall nach Sassnitz. Das Meer war spiegelglatt und der Aufenthalt auf dem schönen, sauberen Fährdampfer recht angenehm. Am 29. Januar nachmittags erreichten wir Sassnitz und die deutsche Grenze. Als Letzter verließ ich den Dampfer, um mir in aller Ruhe die deutsche Grenzkontrolle anzusehen. Einer hinter dem anderen passierte eine Tür, an der ein deutscher Landsturmmann die Pässe kontrollierte. Als ich den meinigen vorzeigte, äußerte er, »det is ja 'nen deutscher Offizier!«, und bald stand ich vor deutschen Kameraden. – Man wollte mich zu meinem großen Kummer zuerst so lange festhalten, bis meine Personalien einwandfrei festgestellt waren, aber auf meine Bitten erklärte man sich schließlich bereit, mich in Begleitung eines Kriminalbeamten nach Berlin zu transportieren, wo ich sofort erlöst werden konnte.

So zog ich seelenvergnügt zum bereitstehenden Zuge, und bald fuhren wir nach Berlin ab. Meine seriöse Begleitung wirkte Wunder. Noch nie bin ich so aufmerksam vom Zugpersonal behandelt worden wie unter dem Schutze eines deutschen Kriminalbeamten. Im Fluge vergingen die wenigen Stunden bis Berlin, und gegen Abend trafen wir in der deutschen Hauptstadt ein! – Hier wurde ich wieder von einem Kriminalbeamten empfangen, aber bald durch einen Vertreter des Reichsmarineamtes befreit!

Die Fahrt von Shanghai nach Berlin hatte nur 18 Tage gedauert! – Wenn es mir also gelang, im Januar 1916 die Hauptstadt zu erreichen und den Weltkrieg bis zum Schluss an der Westfront mitzumachen, so verdanke ich dies einzig und allein meinem Freunde Dr. Hack aus Freiburg im Breisgau, in dessen Zivilkleidung ich entfloh und der mir in selbstloser Weise nach gelungener Flucht den Rücken deckte. Leider wurde er für diese Unterstützung mit eineinhalb Jahren Zuchthaus von den Japanern abgeurteilt, wovon er ein Jahr absitzen musste. Als wir uns später in Deutschland wiedersahen und ich mein großes Bedauern über dieses schwere Opfer – das er mir seinerseits brachte – aussprach, antwortete er freudigen Herzens, dass es ihm eine besondere Genugtuung bereitet hätte, mir zur Freiheit und Rückkehr nach Deutschland verholfen zu haben. Die gelungene Flucht habe ihn außerordentlich gefreut.
 

Anmerkungen

1. Nicht identifiziert.

2. Gemeint ist Wenckstern.

3. »Mack« ist ein Schreibfehler. Gemeint ist der Westfale Rudolf Buck, der das Shanghai Symphonie Orchester von 1907 bis 1918 leitete und berühmt machte; bis 1914 gehörten Hans Millies als Konzertmeister und Paul Engel als Erster Geiger dem Orchester an.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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