Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Gefangennahme und Zustände im Lager Fukuoka

Von Joseph Steiger
 

Vorbemerkungen des Redakteurs

Von den einfachen Soldaten, die in Japan gefangen waren, sind sowohl negative wie positive Urteile überliefert, wobei letztere nach Einschätzung des Redakteurs überwiegen.1 Was der aus dem Elsaß stammende Joseph Steiger im Jahre 1916 aus Fukuoka schreibt, ist also nicht typisch.

Fukuoka war ein anfangs völlig überfülltes Lager, dessen Kommandant auch keine glückliche Hand beim Umgang mit den Gefangenen hatte. Es gab eine Reihe weiterer Beschwerden, über die schon berichtet wurde, und auch Sumner Welles stellte dem Lager kein gutes Zeugnis aus. Auch der Hinweis auf die Briefzensur (siehe unten den zweiten Absatz) ist korrekt; schriftliche Kritik wurde anscheinend nicht geduldet, und die deutschen Zeitungen druckten anfangs tatsächlich vorwiegend positive Darstellungen ab.

Sehr bedenklich an dem Bericht von Steiger ist freilich die Neigung, vom tadelswerten Verhalten einzelner Personen äußerst pauschale Rückschlüsse auf ein ganzes Volk zu ziehen: Wer vom »Scheusal in gelber Mongolengestalt«, »teuflische(r) Grausamkeit« und »Niederträchtigkeit« eines »Barbarenvolk(es)«, schreibt, will eigentlich keine sachliche Kritik üben, sondern seinen Gefühlen und dem Bedürfnis nach »Rache« (siehe den letzten Absatz) freien Lauf lassen. – Schade, dass keine Möglichkeit besteht, den Verfasser nachträglich zu befragen, wie er zu späterer Zeit darüber gedacht hat.
 

Der folgende Text hier stammt aus der ehemaligen Sammlung Walter Jäckisch; vermutlich ist es eine Kopie des im Bundesarchiv/Militärarchiv, Bestand RM 3/6871, befindlichen Exemplars. Es handelt sich, wie im Aktenstück vermerkt ist, um die »Abschrift eines Briefes des in japanischer Gefangenschaft befindlichen Matrosenartilleristen Josef Steiger in Fukuoka, Japan, Haus 5, an Paul Ickert, Mülhausen, Galfinger Ringstraße No. 21, welcher unter einer Photographie des Steiger verborgen die feindliche Zensur unbehelligt passierte«.

Der Redakteur hat Schreibfehler im Original korrigiert, Abkürzungen aufgelöst und Anmerkungen in [...] oder als Fußnoten hinzugesetzt.
 

Aus dem Brief von Joseph Steiger

Lieber Paul!

Nun, mein lieber Paul, muß ich Dir auch paar andere Worte mitteilen, die Du jedenfalls von mir zu hören nicht erwartet hast. Da soviel von japanischer Großmut in den Zeitungen geschrieben wird, trotzdem das direkte Gegenteil der Fall ist. Auch bitte ich Dich, nachfolgende Zeilen der Redaktion des Mülhausener Tageblattes sowie der Oberelsässischen Landeszeitung zur Veröffentlichung zuzuschicken. Ebenfalls meiner Schwester Maria sowie Deinen Angehörigen kannst Du eine Abschrift schicken, aber zugleich auch den Bescheid, daß sie derselben in keinem Briefe Erwähnung tun sollen, da sie sonst bei der Zensur hier unweigerlich konfisziert würden. Schicke mir dann den gedruckten Ausschnitt aus der Zeitung wieder zu, natürlich auf dieselbe Art und Weise, wie Du in den Besitz dieser Zeilen gelangt bist.

Am Anfange unseres Hierseins schrieben mehrere Zeitungen, daß uns eine ausgezeichnete Behandlung von seiten der Japaner zuteil werden würde, ja daß wir sogar mit Blumensträußen hier empfangen worden seien2, aber von allem dem habe ich bis jetzt noch nicht das Geringste gemerkt, im Gegenteil, die Behandlung. deren wir teilhaftig werden, hat bald nichts mehr achtungswürdiges an sich. Ebenso von der so viel gerühmten japanischen Humanität habe ich bis jetzt noch keine Spur bemerkt. Alle die irrtümlichen Meldungen rühren von aufgezwungenen brieflichen Berichten her, die der Wahrheit nicht entsprechen dürften, da sie sonst unweigerlich bei der Zensur vernichtet worden wären, und um dem vorzubeugen, enthielten die Briefe notwendigerweise nur Gutes bezüglich der Behandlung.

Auch viele falsche Berichte kommen von den Herrn Reservisten aus Kobe und anderen asiatischen Städten, die von ihren Firmen unterstützt mit vollgespicktem Geldbeutel es sich in der Kantine bei Gesottenem und Gebratenem wohl ergehen lassen, was sich jedoch ein aktiver Soldat nicht leisten kann.

Von den vielen barbarischen Gewalttätigkeiten und Niederträchtigkeiten will ich nur einige wenige Fälle anführen.

Nach unserer Gefangennahme am 7.11.1914 wurden wir nachmittags von Tsingtau weggeführt und nach der chinesischen Ortschaft Tapatung gebracht, wo wir spät abends ankamen. Ohne Decken mußten wir die Nacht über auf einem chinesischen Friedhof schlafen bei einer äußerst kalten Temperatur. Jedoch infolge der übermäßigen Anstrengungen der letzten Tage schliefen die meisten dennoch ziemlich gut, denn dieser erste ruhige Schlaf seit mehreren Tagen wurde durch kein Krachen der Granaten und kein Pfeifen der Gewehrkugeln mehr gestört. Tags darauf wurden wir in Hütten verteilt, wo wir bis zum 12. bleiben mußten, und als Nahrung fast ausschließlich Hartbrot erhielten. Alsdann kamen wir an Bord des Frachtdampfers Indo Maru, der uns nach Japan brachte. Wir waren in einem Raum mit mehreren Hundert Mann derartig zusammengepfercht. daß jeder auf der Seite liegen mußte, damit der andere auch ein Plätzchen zum Liegen fand. Bei einem Sturme regnete es durch das Deck, sodaß viele vollständig durchnässt wurden. Als Nahrung erhielten wir Hartbrot und warmes Wasser. Die Luft in dem Raume war derartig schlecht, daß, falls wir nur noch kurze Zeit länger darin hätten bleiben müssen, eine Epidemie unausbleiblich gewesen wäre.3

Als wir am 15. abends an unserm Bestimmungsort (Fukuoka) anlangten, wurden wir in den Häusern untergebracht, wo wir furchtbar unter der Kälte zu leiden hatten, da wir keine Öfen zur Verfügung hatten und die japanischen Häuser aus dünnem Lehm und größtenteils aus Papierwänden bestehen. Die Decken, die wir erhielten, entsprachen ihrem Zweck nur sehr ungenügend, da sie alle sehr abgenutzt waren, aber für diese dummen Deutschen waren sie noch viel zu gut. Anstatt eines Bettes mußten wir uns mit dem Fußboden begnügen, wie wir es bis heute immer noch tun müssen. Auch das Essen war, wenngleich auch etwas besser, doch sehr knapp, sodaß die meisten den ganzen Tag nur einmal hungrig waren. Nach kurzer Zeit erkrankte ein Gefangener und kam in das Garnisonlazazett, wo er kurz darauf starb. Einigen Kameraden gegenüber, die ihn kurz vorher besuchten, sprach er sich aus, dass er vor Hunger sterben müsse. Nachher wurde natürlich japanischerseits geäußert, er sei an Typhus gestorben.4

Einer der Aufsichtsoffiziere, ein gewisser Oberleutnant Muriyama, verdient ganz besonders erwähnt zu werden, da er in Bezug auf Brutalität und Grausamkeit seinesgleichen sucht.5 Als nämlich ein Gefangener beim Antreten etwas zu spät kam, stürzte er auf ihn zu und stieß ihn vor die Brust, daß er zurücktaumelte. Der Hausälteste machte darauf die Bemerkung: Ein deutscher Soldat wird nicht geschlagen. Der Oberleutnant ließ darauf den Unteroffizier zu sich ins Büro kommen, wo er ihn in der gemeinsten Weise beschimpfte und ihm den Degen vor den Leib hielt, und nur einem besonderen Umstand ist es zuzuschreiben, daß er ihn nicht niederstach. Und sonst noch eine ganze Masse entehrender Völkerrechtsvergehen, die mir sie alle aufzuführen der Platz mangelt, hat sich dieses Scheusal in einer gelben Mongolengestalt zu Schulden kommen lassen. Selbst die kleinsten Vergehen wurden mit den schwersten Arreststrafen geahndet. Das Arrestlokal ist vom allgemeinen und sanitären Standpunkt aus betrachtet dazu angetan, die teuflische Grausamkeit eines Japaners ins grellste Licht zu stellen. Die weitere Beschreibung magst Du mir erlassen, denn sie würde Dich doch nur umso mehr mit Abscheu gegen ein solches Barbarenvolk erfüllen. In vielen Fällen sind grobe körperliche Mißhandlungen durch die Wache vorgekommen, gegen die wir natürlich nicht das geringste tun können.6

Vorigen Sommer unternahmen mehrere Unteroffiziere einen Fluchtversuch, der ihnen aber leider mißlang. Sie wurden dafür mit 10 Monaten Gefängnis bestraft. Am 3. Januar des Jahres [1916?] mußten wir wegen einer geringfügigen Ursache von 9 h morgens ab stillstehen, um den Täter herauszufinden. Trotzdem viele Leute umfielen und weggetragen werden mußten, durften wir nicht wegtreten bis 3 Uhr nachmittags. Als sich dann der Täter noch nicht meldete, sagte der Lagerchef, dies würde so weiter gehen, und wenn darüber alles kaputt gehe. Den nächsten Tag ging die Sache von Neuem los sowie auch den nächstfolgenden halben Tag, alsdann besannen sich die Herren Japaner eines besseren und ließen uns wegtreten.

Letzten Winter unternahmen 5 Offiziere wieder einen Fluchtversuch. Vieren gelang die Flucht, während indessen der fünfte auf koreanischem Boden noch festgenommmen und wie der gemeinste Verbrecher nach Japan gebracht wurde. Nun begannen die Verhandlungen und das Urteil lautete auf 3 Jahre Gefängnis. Ein deutscher Zivilist wurde ebenfalls zu 1 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er beschuldigt wurde, den Offizieren Vorschub geleistet zu haben. Selbst die Burschen der Geflohenen wurden mit 2 Monaten Zuchthaus bestraft, weil sie die Flucht ihrer Herren nicht gemeldet hatten. Welch eine niederträchtige Zumutung! Hierauf wurden uns sämtliche Vergünstigungen entzogen sowie auch den Offizieren jegliches Spiel, welcher Art es auch war, verboten. Ausgeführt wurden wir überhaupt nicht mehr, und so müssen wir nun wie gefährliche Raubtiere die ganze Zeit hinter dem hohen Zaun zubringen, der noch obendrein von mehreren Posten aufs Strengste bewacht wird, damit ja keiner dieser gefährlichen Bestien einen Blick ins Freie werfen und dann womöglich einen Freiheitsgedanken fassen kann. Das Lager selbst hat das Aussehen eines Zuchthauses, denn nichts wie Stacheldraht und unübersteigliche Staketenzäune umgeben dasselbe.

Von dem in der Haager Friedenskonferenz festgesetztem Verpflegungsgelde, daß jeder Staat für seine Kriegsgefangenen zu verwenden verpflichtet sein soll, wurde uns nun in letzter Zeit ein guter Teil weggenommen.7 Da vorher das Essen schon ziemlich knapp war, wie mag es nun jetzt damit aussehen. Und manchem bangt es jetzt schon vor dem schrecklichen Hungergespenst im Winter, da dann der Appetit viel reger ist als im Sommer bei der hier herrschenden großen Hitze. Selbst während der Nacht wird uns nicht einmal die Ruhe gegönnt, da wir nämlich bald jede Nacht aufstehen und antreten müssen, natürlich alles nur, um uns zu schikanieren. Daß dann natürlich eine Erbitterung ohnegleichen herrscht, brauche ich wohl nicht weiter zu erwähnen.

Noch eine ganze Reihe solcher Fälle könnte ich anführen, allein die Feder sträubt sich, sie niederzuschreiben, da sie doch nur Beweise von der Niederträchtigkeit eines Volkes wären, das sich so gern eine so hohe Stelle bei den Kulturvölkern anmaßt. Und so müssen wir uns eben gedulden, bis die Friedensglocken ertönen und wir die Stätte verlassen können, wo uns soviel Schmach und Schande widerfahren ist. Jeder wird denn auch von dem einen Gedanken beseelt sein: Rache für die erduldeten Leiden sowie auch für das niederträchtigerweise geraubte Tsingtau,

Ein frohes Wiedersehen erhoffend grüßt Dich vielmale Dein treuer Freund
J[oseph].S[teiger].
 

Anmerkungen

1.  Diese Einschätzung kann nicht rechnerisch gestützt werden, zumal viele Gefangene sich später – aus welchen Gründen auch immer – gar nicht geäußert haben.

2.  Der freundliche Empfang Mitte November, als die Gefangenen in Japan ankamen, war die Regel. Auch aus Fukuoka ist nichts Gegenteiliges bekannt (siehe z.B. das Tagebuch des Jakob Neumaier).

3.  Die Situation auf dem Transportschiff war sicherlich nicht gut; die Gefahr einer Epidemie wird jedoch von niemandem sonst erwähnt.

4.  Es gibt keine belastbaren Indizien für die Annahme, dass die Ursache des frühen Todes von Heinrich Welter (*16.01.1915) nicht auf Typhus zurückzuführen ist; auch Welles hat bei seinem Besuch nichts Entsprechendes mitgeteilt bekommen.

5.  Der Offizier stand in dem Ruf, ein »Deutschenfresser« (Neumaier) zu sein. Für seine vorgebliche »Brutalität« gibt es jedoch keine weiteren Beweise.

6.  Unbestritten sind in einigen Lagern körperliche Mißhandlungen vorgekommen. Fälle, in denen von einer ernstlichen Gefahr für Leben und Gesundheit von Gefangenen gesprochen werden könnte, sind jedoch nicht nachzuweisen. Ausnahme: die menschenunwürdige und völkerrechtswidrige Praxis in den Zuchthäusern aufgrund mißlungener Fluchtversuche.

7.  Anhand der Quellen lässt sich die hier behauptete Kürzung des Verpflegungsgeldes nicht nachweisen. Jedoch können die in Japan 1916 beginnenden deutlichen Preissteigerungen zu einer faktischen Verkürzung des Lebensmittels-Einsatzes bei der Verpflegung geführt haben; hierzu gibt es bisher keine Forschung.
 

©  für diese Fassung: Hans-Joachim Schmidt.
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