Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Nagoya

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Turnen im Lager Nagoya

von Paul Hartung

Gegen Ende der Kriegsgefangenschaft zogen die Gefangenen in Nagoya eine Art Bilanz über das, was dort in den vergangenen fünf Jahren geschehen war. Paul Hartungs "Bericht über das deutsche Turnen der Kriegsgefangenen in Nagoya (Japan)" stammt aus dem Nachlaß von Hermann Voigtländer, der seinerzeit die Berichterstattung koordinierte.
 
 

"Zur Erhaltung unserer Volkskraft, zur Erhöhung unserer Wehrkraft, wie auch zur Rüokgewinnung unserer wirtschaftlichen Geltung auf dem Weltmarkte und zur Behauptung hoher Kulturgüter Wandel zu schaffen, ist eine der grossen Zukunftsaufgaben des deutschen Volkes."

Um an dieser grossen Aufgabe mitzuarbeiten in der Stille und Abgeschiedenheit unserer Kriegsgefangenschaft in Japan, haben wir das deutsche Turnen in diesen 5 harten Jahren gepflegt und gefördert.

In den bei unserer Ankunft in Japan provisorisch hergerichtetcn Gefangenlagern war fast keine Möglichkeit für die unbedingt nötigen Leibesübungen geboten. Wir begrüssten es deshalb freudig, bei unserer Übersiedlung in das neue "Kriegsgefangenheim" in Atsuka bei Nagoya genügend Platz vorzufinden, den wir für Turn- und Sportzwecke geeignet machen konnten. So verwandelte sich denn auch das Gelände um die Baracken herum, das bislang noch die Spuren eines Truppenübungsplatzes zeigte, bald durch fleißige deutsche Arbeit. Es wurde gerodet, planiert, Gärtchen wurden angelegt, und bald hatten wir einen schönen Fussball- und einen Turnplatz sowie einige herrliche Tennisplätze.

Durch freundliche Stiftung des Hülfsausschusses für Kriegsgefangene in Tokyo konnten auf dem Turnplatz bald die nötigsten Geräte, ein Reck, ein Barren und ein Gerüst für Schaukel- und Klettergeräte errichtet werden.

Obwohl die meisten sich dem Sport widmeten, so schlossen sich doch ungefähr 20 Mann zu einer Turnvereinigung zusammen.

Welch schwere Wunden der Weltkrieg der Turnsache schlagen würde, ahnten wir damals, und wir beschlossen, auch in unserem kleinen Kreise für die allseitige Erziehung durch Turnen und Sport Propaganda zu machen. Und siehe da, durch das Beispiel und die guten Erfolge angelockt, schlossen sich in Laufe der Jahre immer mehr Kameraden unserer Vereinigung an, so dass sie heute ungefähr 100 Turner zählt.

Durch den geringen Monatsbeitrag von 10 Sen und einige Sammlungen im Lager verfügten wir bald über die nötigen Mittel, uns noch andere Geräte su beschaffen. So standen uns während der letzten Jahre zur Verfügung: 2 Recks, 2 Barren, ein selbst gefertigtes Pferd, 1 Paar Schaukelringe, 1 8chwebereck, 1 Klettertau, 1 Kasten und 18 Paar Keulen.

Wenn die Lagerverwaltung auch die Notwendigkeit der Leibesübungen einsah, so wurden besonders der Turnsache überall Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Alles, was in deren Augen einen militärischen Anstrich hatte, musste unterbleiben; so war es z.B. streng untersagt, Freiübungen in Abteilungen zu turnen und Kommandos abzugeben! Mit knapper Not erhielten wir endlich die Erlaubnis, Keulen zu schwingen. Erst nach dem Wechsel des Lagerkommandeurs und infolge einiger öffentlicher Vorführungen, über die ich noch sprechen werde, wurde uns mehr Freiheit gegeben.

Der Turnbetrieb war auf dem Wege des Riegenturnens geregelt. Die Turner waren in ihren Leistungen schon nach kurzer Zeit soweit fortgeschritten, dass sie sich in Wettkämpfen gegenseitig messen konnten. Es fanden statt:
 1916 ein Fünfkampf: 1. Preis mit 71 Punkten
 1917 ein Zwölfkampf in 2 Stufen:
      Oberstufe: 1. Preis mit 133,5 Punkten
      Unterstufe: 1. Preis mit 133 Punkten
 1918 ein Fünfkampf: 1. Preis mit 103,5 Punkten
 1918 ein Zwölfkampf in 2 Stufen:
      Oberstufe: 1. Preis mit 132,5 Punkten
      Unterstufe: 1. Preis mit 140 Punkten
 1919 ein Gerätewetturnen ohne vorherige Bekanntgabe der Übungen:
      1. Preis mit 67,5 Punkten bei 9 Übungen

Gewertet wurde bei allen Veranstaltungen nach den Regeln der Deutschen Turnerschaft. Sinnige Ehrenurkunden oder kleine Geschenke belohnten die Sieger für ihre guten Leistungen.

Die Höchstleistungen im volkstümlichen Turnen mögen ein Bild geben, wie fleißig geübt worden ist:
 

Kugelstoßen
Schleuderball
Ballwerfen
Fussballweitstoss
Hochsprung ohne Brett
Stabhochsprung
Weitsprung

10,15 m
45,00 m
77,90 m
43,56 m
1,60 m
3,20 m
6,36 m

 

Stabweitsprung
Dreisprung
100 m Lauf
1000 m Lauf
5000 m Lauf
30 km Gehen
 

8,96 m
12,50 m
11,3 Sek
2:55:00 Min
19:02,6 Min
3:26 Std.
 

Um einen Anhalt zu geben, was an den Geräten geleistet wurde, seien hier einige Pflichtübungen an den Geräten aufgeführt:
 

Reck:

Schwungstemmen mit sofortigem Überspreizen links, Kniewellaufschwung, 1/2 Drehung zum Sitz auf dem rechten Schenkel, Nachspreizen links, Grätschsitzwellumschwung, Zurückhocken zum Langhang, Kippen, Aufhocken und Sohlenstandabgang.

 

Barren:

Sprung zum Oberhang, Kippen und Vorschwingen durch den Knickstütz, Stützkehre links, Handhangkippen zum Handstehen, Senken zum Oberarmstand, Rollen vorwärts, Schwungstemmen zum Aussenquersitz auf dem rechten Schenkel, Drehung rechts zum Liegestütz, Grätschen über beide Holmen zum Stand.

 

Pferd:

Aus dem Aussenseitstand vorl. mit Stütz auf beiden Pauschen: Überspreizen links nach aussen, Nachspreizen rechts zum Stütz rückl., Rückflanken links zum Stütz vorl., Überspreizen rechts nach aussen, Scheeren linkshin, Scheeren rechtshin, Rückspreizen rechts nach innen, Kreisen rechts nach aussen zum Stütz vorl., Vor- und Rückschwingen rechts, Kreiskehren zum Stand.

Wenn derartige Übungen durchschnittlich von den Turnern der Oberstufe geleistet wurden, so möchte ich hier noch bemerken, dass eine Anzahl von ihnen sich auch recht gute Gipfelübungen zu eigen gemacht hat.

Sehr zu begrüssen war es, dass Herr Turnlehrer Engler, Dresden, aus Kurume in unser Lager verlegt wurde, der auch sofort das Amt eines Turnwartes übernahm. Ihm verdanken wir vor allen Dingen die Heranbildung einer guten Vorturnerschaft, deren Mitglieder hoffentlich nach unserer Rückkehr unseren deutschen Turnvereinen gute Dienste leisten werden. Aber auch darin hat sich Herr Engler verdient gemacht, dass er weniger oder gar nicht geübten Turnern durch entsprechende Übungen Gelegenheit geboten hat, ihren Körper frisch und kräftig zu erhalten. Bei den Wettkämpfen war er den Schiedsrichtern eine wertvolle Hülfe.

Ioh möchte nicht verfehlen, hier hervorzuheben, dass auch einige Herren unseres Offizierskorps sich unserer Vereinigung anschlossen und durch eifriges Üben es zum Teil zu recht guten Leistungen gebracht haben.

Im Laufe der letzten Jahre war es uns möglich, den Japanern, auch in weiteren Volkskreisen, deutsches Turnen vorzuführen. So veranstalteten wir einige Schauturnen vor ungefähr 100 Turnlehrern, vor Schülern und Schülerinnen, Kadetten, Offizieren und Frauen. Mit Begeisterung schrieben die Zeitungen von dem Wagemut, der Körperkraft und Exactheit, die bei diesen Gelegenheiten zur Schau getragen wurden. Während sich die Leibesübungen und besonders das Turnen der Japaner fast nur auf den Laufsport erstrecken, konnten wir bei Gelegenheit eines Schauturnens in einer Mittelschule in Gifu zu unserer Freude feststellen, dass dort schon deutsches Geräteturnen gepflegt wurde. Wir können bestimmt annehmen, dass dieses Beispiel weiter Kreise ziehen wird, und sind stolz darauf, somit den Grundstein für deutsches Turnen im fernen Osten gelegt zu haben.

Auf uns aber hat die Pflege des deutschen Turnens den segensreichen Einfluss gehabt, dass wir gesund an Körper und Geist in unsere Heimat zurückkehren und mit frischem Mut unsere Berufsarbeit wieder aufnehmen können. Viele von uns aber werden mitarbeiten an der Ausdehnung der Turntätigkeit auf die gesamte deutsche Jugend und so die Deutsche Turnerschaft in der Erreichung ihrer Ziele unterstützen.

Mit treudeutschem Gruss und "Gut Heil"
(gez. Paul Hartung)
Nagoya, den 18. Dezember 1919.
 

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