Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Tsingtau, wie ich es heute [1934] sah

Zwanzig Jahre nach dem Fall - Spuren einstiger Blüte unter deutscher Flagge«

Von Bruno Eckert


Vorbemerkungen

Abgesehen von den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als Kriegsteilnehmer ihre Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft zu Papier brachten, gibt es in der Zwischenkriegszeit nur relativ wenige Publikationen zum Schicksal des ehemaligen Pachtgebiets Kiautschou. Von den knapp 2000 Deutschen, die 1914 dort lebten, kehrten nur 10–15 % zurück, und das blieb auch so bis ans Ende des Zweiten Weltkriegs, als fast alle nochmals vertrieben wurden.

Vor allem gibt es nur wenige Berichte über den Zustand der Stadt unter japanischer, ab 1922 wieder chinesischer Flagge. Zu diesen gehört ein Aufsatz von Bruno Eckert, der am 15. November 1934 auf Seite 3 der Abendausgabe des »Stuttgarter Neuen Tageblatts« erschien – Tenor: die großen Leistungen der Deutschen.

Das Zeitungsblatt stammt aus dem Nachlass von Alfons Wälder und wurde von seiner Enkelin Cornelia Bitsch zur Verfügung gestellt. Dafür herzlichen Dank!

Über den Verfasser Bruno Eckert ist nichts weiter bekannt. Der Redakteur hat die Rechtschreibung behutsam angepasst, Zwischenüberschriften eingefügt sowie einige Fußnoten angehängt.
 


[Ankunft in Tsingtau]

Eben sind die Blinkfeuer von Kap Schantung an der ostchinesischen Küste verblasst. Leise plätschern Wellen am Bug. Nur noch fahl leuchtet droben am Himmel das Wunder tropischer Nächte: das Kreuz des Südens, denn ganz vorne am Horizont spinnen die ersten Morgenschleier erwachende Lichter um den neuen Tag. Mit leichtflüssigen Tinten überzogen, steigt rechts das bizarre, wildromantische Lauschangebirge empor, und links voraus erwachen die hohen Kämme des Perlgebirges aus dem letzten Schlaf.

In der Morgendämmerung liegen wir in der Bucht von Kiautschou. Unweit ankern zwei große japanische Kreuzer und ein englisches Linienschiff.1 In stolzem Selbstbewusstsein ziehen sie eben unter den Klängen ihrer Nationalhymne die Flaggen hoch. Welchem Deutschen blutet bei diesem Anblick nicht das Herz! Hier hat einstens auch Deutschlands Flagge geweht. In diesen Gewässern hisste die tapfere Besatzung einer Iltis2 mit einem Hoch aufs Vaterland zum letztenmal die schwarz-weiss-roten Farben, und dieses Wasser ist das stille Grab geworden für manch tapferen deutschen Kolonisten.

Goldene Sonnenfinger verscheuchen zitternde Zirruswölkchen. Voraus, an einem grünen Gestade, schimmern weiß getünchte Villen mit roten Schindel-Dächern. Es sind nicht die phantasielosen, sechsstöckigen Geschäftshäuser mit vielen Steinen und dicken Säulen, die den Kai von Hongkong säumen, es sind auch keine Bankpaläste eines von Riesenspekulation lebenden Shanghai, nein, es ist ein Städtchen im deutschen Stil, es sind behagliche, einstöckige Wohn- und Geschäftshäuser. Da lugt die Turmspitze der Christuskirche zwischen Akazienbäumen hervor. Dort flattert eine weiße Flagge mit zwei roten Streifen ­- das ist Flössels Seepavillon.3

Bei dem Leuchtturm Yunuisan biegt unser schmucker Ostasiendampfer ab und kommt an großen Lagerschuppen und Speichern vorbei in den gut geschützten Hafen. Bald darauf wandere ich durch die Straßen Tsingtaus und staune, was hier deutsche Energie und deutscher Unternehmungsgeist aus einem armen chinesischen Fischerdörfchen geschaffen haben. Wo dürftige, mit Stroh bedeckte Lehmhütten am Fuße kahler Berge standen, da erheben sich heute sonnige, wohnliche Häuser und Villen, und von dem eigens ins Leben gerufenen Forstamt in Tsingtau wurden diese kahlen Berge aufgeforstet und mit frischem Grün überzogen.
 

[Tsingtau vor und nach 1914]

Aber wo sind denn unsere Landsleute? In den Loggien der stolzen Villen sitzen reiche Chinesen, in den großzügigen Parkanlagen promenieren Damen mit feschem Herrnschnitt, in europäischer Kleidung, aber – mit chinesischem Gesichte. Auf dem weiten Golfplatz drüben amüsieren sich erholungssuchende, millionenschwere Kaufherren aus Nangking, die der lärmenden Großstadt entschlüpft sind, um hier und drunten am mondänen, grünumbuschten Badestrand Alltagssorgen zu vergessen. Dieses chinesische Norderney, diese »Riviera of the Far East« bietet seinen Kurgästen orientalische Sonne, eine azurblaue Wasserfläche mit weißen Schaumkrönchen; daneben mischen Caféhäuser Cocktails nach asiatischen und europäischen Wünschen, und dieses feudale, aus der Vorkriegszeit stammende Hotel dort drüben wird von einem holländischen Manager mit japanischem Gelde für einheimische Kurgäste mit Hamburger Holstenbier versorgt.

Im November 1914 stieg der rote Sonnenball – Japans Banner – an Rahen hoch. Die Rechnung für diesen ersten Flaggenwechsel bezahlten deutsche Kolonisten mit zweihundert Toten und vielen hundert Verwundeten, Japan mit der zehnfachen Zahl an Verlusten. Das Reich Nippon versuchte in den acht Jahren seiner Regierung mit allen Mitteln, festen Fuß zu fassen. Tausende von Japanern haben sich angesiedelt und haben zunächst die durch die Belagerung hervorgerufenen Schäden wieder ausgebessert. Neidlos müssen wir anerkennen, dass auch diese Epoche manch Gutes geschaffen hat. Industrielle Anlagen, Ölpressen, Baumwollspinnereien, Knochenmühlen, Zündholzfabriken wurden errichtet. Da das deutsche Wasserwerk bei der Belagerung vernichtet wurde, haben die Japaner ein neues Werk mit einer Leistungsfähigkeit von 750.000.000 Kubikmetern im Monat am Peischaho an der Grenze des einst deutschen Schutzgebietes erbaut. Dieses Tor, von dessen Querbalken Strohzöpfe und weiße Papierzettel, die Sinnbilder des Shintoismus, herabhängen, lädt zum Besuche eines in japanischem Stil, in pomphaft großzügiger Aufmachung errichteten Tempels ein.

Gezwungen durch den großen Zustrom aus dem Mutterland hat Japan die Stadtteile Taihsitschen undTaitungtschen erbaut und erweitert. Die Bebauungspläne dieser Vororte waren allerdings von der deutschen Regierung im Entwurf fertiggestellt worden.4 Viel Geld hat Japan in Tsingtau investiert – allein für eine Mittelschule wurden sechshunderttausend Mark verausgabt. Der architektonische Aufbau dieser Erweiterungen und Neusiedlungen trägt allerdings nicht zur Verschönerung der Stadt vorteilhaft bei, da all diese Bauten eine eigene Schöpfungskraft vermissen lassen und nur abgeschautes, kopiertes, westöstliches in stillosem Durcheinander darstellen.

Der schlimmste Import aus Japan aber ist die Dirnenwirtschaft, die heute in Tsingtau herrscht. Wenn unter japanischer Regierung über 70 Bordelle und Bars in Betrieb gekommen sind, dann bedeutet diese Zahl einen Schandfleck auch für ostasiatische Verhältnisse und Begriffe. Wenn die Hundstage auf den Philippinen den Aufenthalt für die amerikanische Manilaflotte allzu unerträglich machen oder wenn sich japanische und amerikanische Kriegsschiffe ein »wohlwollendes« Rendez-vous geben, dann ist für diese russischen, chinesischen, japanischen, koreanischen »Damen« Hausse. Wenn aber nach Seemannsbrauch mit dem Lichten der Anker alle Liebesschwüre sich lösen, dann nimmt der Existenzkampf dieser Circen direkt belästigende Formen an.

Sicherlich wäre Tsingtau unter japanischer Oberhoheit nicht so verarmt wie jetzt unter chinesischer. Japan hat aus einem russischen verwahrlosten Hafen mit leeren Piers ein japanisches Dairen, einen Welthandelsplatz geschaffen mit einem stetig wachsenden Umsatz – die schärfste Konkurrenz Shanghais. Japan hätte es auch hier in China geschafft. China hat nicht einmal für die dringend nötigsten Hafeninstandhaltungen, geschweige denn für die ebenfalls nötigen Erweiterungen die nötigen Mittel und wird sie auch in den nächsten Jahren nicht beschaffen können. Seitdem Japan 1922 bei der Washingtoner Konferenz Tsingtau dem chinesischen Reiche wiedergegeben hat, fegte mancher politischer Orkan durch die Straßen der Stadt. Zu Generälen erhobene Räuberhauptleute kamen mit ihren Banden vom Süden und von der Mongolei her bis zur Küste des Gelben Meeres und verschwanden wieder. Die meisten Regenten hinterließen in Tsingtau Verbitterung, Armut, Unordnung. Was in all diesen Unruhen an Straßen und Gebäuden, an Ordnung und Sicherheit erhalten blieb, verdankt dies der soliden deutschen Qualitätsarbeit, die auch hier nicht so schnell herabgewirtschaftet werden kann. Was aber zerstört wurde, ist nicht wieder aufgebaut worden. Die Straße, auf der früher am Wochenende deutsche Kolonisten zum Lauschan hinauffuhren, ist heute noch gut, aber das »Mecklenburghaus«, das deutsche Sanatorium, wurde zerschossen,5 und wer sollte es auch heute aufbauen?

Wohl kaum eine andere chinesische Stadt von der Größenordnung Tsingtaus hat ein solch schönes Gerichtsgebäude – es war ja auch einfach, die Deutschen haben es gebaut, und China hat es für den gleichen Bestimmungszweck bis auf das letzte Tintenfass übernommen. Das im Pavillonstil erbaute Garnisonslazarett heißt heute Doijokai-Tsingtao-Hospital und ist Eigentum einer caritativen Vereinigung in Tokyo. Viele japanische Ärzte sind dort beschäftigt, und besonders bei Japanern erfreut sich das Haus eines guten Rufes. Überhaupt fühlen sich die Söhne des Reiches Nippon als unsere eigentlichen Erben. Aus unserem früheren Seemannshaus, das als Erholungsheim für die Mannschaften der Garnison in Tsingtau und der deutschen Schiffe bestimmt war, ist die »Japanese Hall« geworden – das Klubhaus für die japanische Gemeinde. Leben doch heute etwa 15.000 Japaner neben 60.000 Chinesen in Tsingtau, dazu 3.000 Russen und – nicht einmal 200 Deutsche!

Dass dieses Bevölkerungsverhältnis einmal anders war, davon zeugt jedes Haus, jeder Park, ja vielleicht jeder Alleebaum, der dort grünt, denn Tsingtau war deutsch, war es gern und ist in seinem äußeren Wesen nach auch deutsch geblieben. Heute fahren noch die Autos rechts wie sonst nirgends in ganz Ostasien. Die kleine deutsche Gemeinde erfreut sich heute noch größter Beliebtheit, denn die Ansiedler haben einstens nicht bloß Arbeit und Wohlstand mitgebracht, sondern auch den ehrlichen Willen zur Verständigung.6 Und dieses Verhältnis zu den Eingeborenen hat sich bis zum heutigen Tag bewährt. Wo bleiben da die Behauptungen von der mangelnden deutschen Kolonisationsfähigkeit!7
 

[Tsingtau heute (1934)]

In gemächlichem Trab führt mich mein Rikschagespann durch die herrliche Pacific-Road, das »Unter den Linden« Tsingtaus. Das frühere Gebäude der Deutsch-Asiatischen Bank hier an dieser schönen Uferstraße haben sich die Japaner als Generalkonsulat auserwählt. Mitten in den dortigen Anlagen steht der altehrwürdige chinesisch-taoistische Tempel – das Wahrzeichen des alten Fischerdorfes Tsing-taukou. Hier weht der Odem der tiefsinnigen Weisheit des alten Laotse. Die verschiedensten bösen und guten Geister jeder Branche und aller Elemente werden um Hilfe und Beistand gebeten. Dieser Altar ist der Tien-chu, der Göttin der See, gewidmet; dort lächelt mit wohlwollender Miene ein Götze – er ist der Spezialist für den Reichtum. Der Gott der Barmherzigkeit musste sich teilen – zum einen beten Soldaten, die übrigen Barmherzigkeit Suchenden zur anderen Fratze. Knorrige Reste uralter Gingkobäume ächzen im Monsunwind, singen das Lied einer fremden Religion und umrahmen das Äußere dieser uns fremdbleibenden Verehrung eines überirdischen Wesens mit einem ewigbleibendem Rhythmus.

Die Küstenforts, die einst gut geschützten Festungsanlagen, die Infanteriewerke, die Tsingtau umgürteten, liegen zerstört. Der Rost frisst an den freiwillig gesprengten Kasematten und Geschützen. Im deutschen Friedhof, in dem so mancher deutsche Kolonist schlummert, rankt wilder Efeu um die zerfallenden Kirchhofkreuze und versucht die Namen unserer Landsleute an der fernen Küste des Gelben Meeres vergessen und unkenntlich zu machen. Im Laufe der Zeiten werden diese bleichen Embleme des Todes mehr und mehr verwittern, die weinenden Zypressenbäume, die im Tropenwind mit klagenden Ästen über die Gräber unserer Volksbrüder streichen, werden einmal nicht mehr sein; die Marmortafel, die den alten markanten Spartaner-Satz eingemeißelt trägt: »Wanderer kommst Du nach Hause, so melde, daß Du uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl« – sie kann verwittern, aber unauslöschlich wird dem deutschen Volke die Erinnerung bleiben an die Männer und Frauen, die in zähem Fleiße und vorbildlicher Vaterlandsliebe deutsche Kulturwerte geschaffen haben und deren Liebe zur Heimat so groß war, daß sie ihr Leben dafür gaben.
 

Anmerkungen

1. »Linienschiff« ist nicht wörtlich zu nehmen; diesen Schiffstyp gab es 1934 in der britischen Marine nicht mehr.

2. Vermutlich ist das Kanonenboot Iltis gemeint, welches im »Boxerkrieg« (1900) die Taku-Forts bekämpfte. An der Verteidigung Tsingtau 1914 nahm das Schiff nicht mehr teil; das »stille Wasser« als »Grab« ist rein metaphorisch zu verstehen.

3. Arthur Flössel betrieb bis 1914 eine Brotfabrik und ein Café in Tsingtau; letzteres bestand noch um 1940.

4. Nicht nur die Planung, auch die Besiedlung begann bereits vor dem Krieg.

5. Das »Mecklenburghaus« wurde nicht zerschossen, sondern von den Deutschen in Brand gesetzt (Taktik der »verbrannten Erde«).

6. Der »ehrliche Wille zur Verständigung« war bei Leuten wie Richard Wilhelm zweifellos vorhanden, aber auf die Mehrheit der »Kolonisten« lässt sich das nicht ohne Weiteres übertragen.

7. Der Satz bezieht sich auf eine – zu Recht – als Diskriminierung empfundene Behauptung der alliierten Siegermächte; Tsingtau wurde als augenfälliger Beweis für das Gegenteil angesehen.
 

© Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
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