Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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"Die Tsingtau-Leute spielen in Japan Theater"

von Hans Eggebrecht
 

Der Berliner Hans Eggebrecht, über dessen Verbleib der Redakteur bislang leider keine Informationen finden konnte, schrieb knapp zehn Jahre nach Rückkehr aus der Gefangenschaft einen psychologisch fundierten Essay für "Der Scheinwerfer: Blätter der Städtischen Bühnen Essen", Jahrgang 2 (1929), Heft 11/12, Seite 26–33, worin er die quasi "lebensrettende" Funktion der Kunst im Lager eindrucksvoll darstellt.

Der Redakteur hat Schreibfehler (in Original oder Abschrift) korrigiert, Abkürzungen aufgelöst, Ergänzungen in [] oder als Fußnote hinzugesetzt.
 

"Sie waren in Japan? Wie interessant. Da haben Sie es ja so gut gehabt, nicht wahr! Sie konnten sich doch sicher ganz frei bewegen." Bis zum Überdruß haben wir das in der Heimat hören müssen. Dabei spukte in den Köpfen irgend etwas von "ritterlicher Nation", Bushido und Geishas, das man so süß überzuckert in jedem zweiten Buch über Japan nachlesen kann.

Ja. Wir waren in Japan. Fast fünf und ein halbes Jahr lang. Gefangen. Außer einigen Spaziergängen dauernd hinter Stacheldraht. Auf engstem Raum zusammengepfercht. Ohne Frau. Ohne Anregung von außen. Wer allein sein wollte, konnte sich in der Baracke einen Raum von 90 Zentimeter Breite und 2,70 Meter Länge abteilen. Fünf und ein halbes Jahr lang. Menschen im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren. – Oh, wir durften sogar unser Essen auf eigene Kosten selber kochen: Erbsensuppe, Nudelsuppe, Reissuppe. Bei den vorgeschriebenen japanischen Rationen wären wir schon im ersten Jahr verhungert.1 – Reissuppe, Nudelsuppe, Erbsensuppe. Wer Glück hatte, fischte aus einem Teller ein Dutzend schwarze Erbsenkäfer heraus. Das war dann die Fleischbeilage.

Lauter junge Menschen in den besten Arbeitsjahren. Fünf und ein halbes Jahr lang. Mancher ist darüber verrückt geworden, weil er schon auswendig wußte, wie der Zwangsnachbar denkt, spricht, ißt, welche Melodie er bis zum Erbrechen pfeift, wie er aufsteht, zu Bett geht, sich wäscht und kratzt. Fünf und ein halbes Jahr lang.

Ist es ein Wunder, wenn vernünftige Menschen sich prügelten wie Kinder, wenn die Vernunft sich in Purzelbäumen überschlug, nur um das ewige Warten und immer wieder Warten zu brechen. Fünf und ein halbes Jahr lang. Warten.

Keine Aufgabe, die man sich nicht selber erst schaffen und erzwingen mußte. Mancher ist an dem Gedanken zerbrochen: "Ich lebe ja gar nicht. Ich werde gelebt. Ich werde gedacht. Aller Anlauf ist sinnlos. Morgens Appell. Mittags Appell. Abends Appell. So ist es. So bleibt es. Drei Jahre. Fünf Jahre. Zehn Jahre."2

Das war die Gefangenschaft, die nicht in den Photographien und Tagebuchblättern steht, in denen man nachdenklich blättert: Theater, Konzerte, Kunstausstellung, Vorträge, Sport. Eine ganze Bibliothek, im Lager geschrieben und gedruckt. Gedichte, eine wissenschaftliche Arbeit, ein halbfertiger Roman.

War es dasselbe Gefangenenleben? Ein Konzertprogramm: Beethovens Neunte Sinfonie mit Orchester und großem Chor. – Andere: Hans Sachs, Andreas Gryphius, Calderon, Lessing, Schiller, Goethe in Aufführungen, denen sich manche Provinzbühne kaum an die Seite stellen kann.

Einkehr, Besinnung, Menschenerkenntnis, ja, Menschwerdung für viele. Keine Büroarbeit. Eigene selbstgestellte Aufgaben voll restloser schrankenloser Hingabe. – Erkenntnis, die um so tiefer grub und wurzelte, weil das Erlebnis des Krieges den Boden gepflügt hatte. Saatzeit. Muße.

Zwischen Morgen- und Mittagsappell: Ein Kapitel "Cäsar" im Urtext. Als geistige Gymnastik ein paar astronomische Aufgaben aus der Differential- und Integralrechnung. Ein Blick in die Karten und neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz. Orchesterprobe für den Kammermusikabend. Eine Stunde Tennis. Mittags Nudelsuppe und anschließend Arbeitsdienst. Dann Rollenstudium für Goethes "Egmont". Ein Vortrag über altchinesische Philosophie. Abendappell und als geistige Verdauung ein Artikel für die Lagerzeitung.

Wenn man die Atmosphäre aus fünfundeinhalb Jahren fortläßt, war auch das manchmal ein Tag der Gefangenschaft, wie er jetzt im Berufsleben aus dem Tagebuch der Erinnerung lebendig wird.3

Wie kam die Kunst in dieses Gefangenenleben, oder besser: wie kamen wir in irgendein Verhältnis zur Kunst? Eigentlich ganz unbemerkt. Von selbst. Es mußte so kommen.

Hunderte energiegeladener junger Menschen, in deren Seelenleben das kurze Erlebnis des Krieges alle eingewurzelten Begriffe zerwühlt hatte, waren plötzlich, zusammengepfercht, zu abwartender Muße verurteilt. Was tun? Der Trost: "Lange kann es nicht dauern" hielt nur für die ersten Tage vor. Einer nach dem anderen fing an, "sich zu beschäftigen". Die Psychologie dieses Übergangsstadiums zur stacheldrahtkranken Beschäftigung muß erst noch geschrieben werden. Sie könnte zu einer Fundgrube für alle Seelendiagnostiker werden, und sie würde helfen, einen Weg durch das psychische Gestrüpp zu bahnen bis zu jenem merkwürdigen Zwitterwesen der Gefangenschaft, das sich durch kleinste Anlässe zu Tränen und Prügeleien übersteigerte und kurz darauf in fein geschliffenem Vortrag oder Dialog mit lächelnder Selbstironie alle höchsten Höhen und Schönheiten der Menschenseele offenbaren konnte. Der menschenscheue Asket in härener Kutte – zierliche Sonette dichtend.

Zu Einsiedlern wurden wir allmählich alle in dieser aufgezwungenen krausen Gemeinschaft. Je lärmender sich der "Lagerbetrieb" entwickelte, um so stiller wurde es im Innern. Bis zuletzt alles in dem einen höchsten Wunsch gipfelte: nur noch ein einziges Mal allein sein!

Mißtrauisch beobachte[te] man den Nachbarn, der sich allmählich bis zur Nacktheit entblätterte. Mißtrauisch und gereizt verfolgte man, wie auch der schleiernde Dunstkreis um die eigene Persönlichkeit verflog und die seelische Scham kam, nichts mehr vorstellen zu können. Kein Wunder, dass aus dieser entwurzelten kranken Gemütslage die für die Gefangenschaft so typischen Exzesse geboren wurden. Alle Kasteiung in fanatischer wissenschaftlicher Kleinarbeit, Sprachenlernen und -lehren, Vertiefung in exakte mathematische Problemstellungen, konnten gerade die sensiblen Naturen nicht kurieren. Es blieb ja immer der Niveaumensch [= Durchschnittsmensch?] übrig, dessen geistige Fähigkeiten und Fortschritte jeder vor Augen hatte und abschätzen konnte.

Hier half die Kunst, denn sie erschloß gegenüber den anderen wie auch für das eigene Selbstgefühl Untergründe und Ventile, deren Zur-Schau-Stellen nicht einmal Scham hinterließ, denn die Kunst verlangte ja das Ausleben der Gefühle in immer neuen Tönungen. Man durfte wieder auf Höhen vor sich selbst und den Anderen, den so lästig nahen Anderen stehen.

Wie fing es an? Die Arbeit gab keine volle Befriedigung. So begann ein Suchen nach verborgenen Talenten, die teils wunschhaft vorbereitet ruhten, teils neu entdeckt werden mußten.

Am Lust-Unlust-Gesetz gemessen, war die ganze Gefangenschaft schärfste Unlustbetontheit mit einem Wust von Minderwertigkeitsgefühlen und mimosenhaften Fehlverstellungen. Alle Kunst dagegen bedeutete Lust und Ungebundenheit.

Schüchtern waren die Anfänge. Hier hatte einer in der Gartenecke das Skizzenbuch auf den Knien. Dort saßen ein paar Seeleute zusammen und bastelten an einem Schiffsmodell. Ein Dritter versuchte sich auf der seit Jahren vernachlässigten Geige. Wieder andere suchten in der klassischen Literatur nach Auslösung und Entspannung.

Auf allerlei Wegen ging man auf Entdeckungsreisen in sich selbst. Und man entdeckte. – An allen Ecken und Enden knisterten neu entdeckte Schätze, die anfangs schamhaft verborgen gehalten wurden. Dann kamen Haltepunkte, an denen man sich aussprechen mußte. Daraus entstanden wieder neue Anregungen. Man fing an, gemeinsam zu musizieren, gemeinsam zu zeichnen. Berufene Talente warfen sich zu Führern auf. Es entstanden literarische Zirkel mit regelmäßigen Vortragsabenden. Man vertiefte sich gemeinsam in "Dichtung und Wahrheit" und streifte von dort aus in zwanglosen Abstechern bis in die Urgründe deutscher Dichtung. Die Minnesänger, Hans Sachs, Gryphius und andere wurden begeistert mit verteilten Rollen gelesen. Und von hier aus war es dann nur noch ein Schritt bis zur bühnenmäßigen Darstellung, wenn auch im Anfang die Widerstände fast unüberwindlich schienen. Die Kulissen waren noch nicht einmal das Schwerste. Leinewand, Holz und Farbe sind auch in Japan unschwer zu haben. Aber wie sollte man es dem "Inaka hito" (dem Inlandsjapaner), selbst wenn er beim Einkauf helfen wollte, klarmachen, was zu einer Allongeperücke oder zu einem mittelalterlichen Königshabit gebraucht wurde. – Aber der Wille zur Kunst setzte sich gegen alle Widerstände durch. Alles, auch die unmöglichsten Materialien wurden zu Werkzeugen der Kunst verarbeitet: Aus der weißen Wolle der aufgeräufelten Liebesgabensocken entstanden pompöse Straußenfedern. Aus baumwollenem Kimonostoff schneiderten geschickte Hände die Krönungsrobe einer Königin. Und die Hauptsache war: es wirkte. – In Tsingtau hatten wir jedenfalls das eine gelernt: Es gibt kein „es geht nicht". Zu Hans Sachsens Zeit war es ja auch nicht viel anders gewesen. Man errichtete irgendwo das Podium und dann wurde tragiert [= eine Rolle tragisch gespielt] mit den Hilfsmitteln, die gerade zur Hand waren. – Echt war es jedenfalls bei uns, und ich glaube, der alte Hans Sachs hätte seine Freude daran gehabt.

Eine ganze Handwerkergilde war allmählich für unser Theater, unsere Schaubühne und Puppenbühne tätig; denn auch ein Puppentheater war inzwischen zusammengebastelt worden, auf welcher der "Urfaust" und anderes ihre japanische Auferstehung feierten.

Auch leichtere moderne Lustspiele und Bunte Abende mit Musik wurden dazwischen veranstaltet. Aber das Wertvolle und Bleibende waren doch die klassischen Aufführungen, welche die literarischen und kunstgeschichtlichen Abende plastisch untermalten und ergänzten.

Immer weiter spannte sich der Rahmen dieser Vorträge. Ganze Epochen wurden lebendig. Besondere Musikabende der Zeit wurden angegliedert. Die Malerei der gleichen Zeit wurde behandelt. Kurz: das, was an Geschichtszahlen und trockener Schulerinnerung in den Köpfen schlummerte, gewann Leben und Farbe. Hier wurde wirklich eine Missionsaufgabe erfüllt. Noch jetzt klingt immer wieder aus Gesprächen mit den alten Kameraden die Dankbarkeit gegen den Vortragenden heraus, der es so feinfühlig und so ganz ohne dozierendes Pathos verstand, Anregungen zu geben, die verzettelten Energien zu sammeln und damit für viele: dem Gefangenenleben überhaupt erst einen Sinn zu geben.

Wie fanatisch und unter welchen Schwierigkeiten diese ersten Kunstgenüsse oft durchgesetzt werden mußten, mag eine kleine wahre Geschichte zeigen: Der japanische Lagerkommandant ließ sich nur zu gelegentlichen Revisionen sehen. Seinen schönen japanischen Namen Maekawa (Vorfluß) hatten wir der Einfachheit halber in "Maikäfer" verdeutscht, zumal er so gut spinnen und schnüffeln konnte. – Streichhölzer fortzuwerfen war strengstens verboten. Fand er nun auf seinen Rundgängen ein solches Indizium, so lächelte er zwar japanisch-freundlich. Eine Stunde später hagelte es dann aber Strafen: Rauchverbot, Theaterverbot, Unterrichtsverbot, Sportverbot, oft monatelang.4 Wie wir ihn dafür liebten, läßt sich leicht denken. Platzte nun gerade ein solches Theaterverbot in die Vorbereitungen zu einer Aufführung hinein, so mußten oft die tollsten Schliche ersonnen werden, um ihn hinters Licht zu führen und das Gewollte doch durchzusetzen. Vor allem mußten die Requisiten versteckt werden, was bei schweren gemalten Kulissen nicht immer ganz einfach war. Plötzlich eines Tages wird wieder Maekawa gemeldet. Wohin mit den Kulissen? Ein sicheres Versteck gab es nicht. Schnell entschlossen nahmen immer zwei und zwei eine Kulisse auf den Buckel und schleppten sie schweißtriefend so um das Haus herum, dass, wenn der Oberst auf seinem Rundgang an der einen Ecke ankam, wir mit den Kulissen an der entgegengesetzten Ecke des Gartens waren. Und so ging es wie ein Zirkus im Kreis herum, bis die Luft wieder rein war. Abends hatte die Aufführung dann noch einen ganz besonderen pikanten Reiz.

Alle diese Anfänge datieren aus einem kleinen Sonderlager in Matsuyama. – Nach etwa zwei Jahren änderte sich das Bild: wir wurden in ein großes Barackensammellager [Bando] verlegt, und es muß dankbar anerkannt werden, dass der neue japanische Kommandant [Matsue] etwas mehr Verständnis für unsere Lage und unsere wenigen Freuden zeigte. Wir kamen uns wie Provinzler vor, die plötzlich in die Landeshauptstadt versetzt werden. Jede der hier vereinigten [drei] kleinen Lagergemeinschaften hatte besondere Talente ausgebildet. Waren in dem einen die besseren Schauspieler, so hatte das andere Lager wiederum besser geschulte Handwerker mitgebracht. So wurde jedenfalls auch in der Kunst die neue Barackenstadt zu einem Sammelbecken der verschiedenen Regietalente und Stars, die nun ehrgeizig voneinander lernten und sich gegenseitig befruchteten. Eine Baracke wurde für Theater- und Vortragszwecke eingerichtet.

Eine Universität im kleinen mit festem Kollegplan entstand. Die verschiedenen Musikkapellen schlossen sich bei besonderen Gelegenheiten zusammen, so dass sogar Beethovens Neunte Sinfonie mit einem Orchester von 86 Streichern und großem Chor aufgeführt werden konnte. Sonst sorgten Streichorchester, Blasorchester und Kammermusikvereinigungen für musikalische Abwechslung.

Auch finanziell hatte man jetzt mehr Spielraum. Aus kleinen Beiträgen der einzelnen wurden recht ansehnliche Fonds angesammelt, aus denen Instrumente und Requisiten angeschafft wurden. – Ein ganz anderer Kunsthorizont entstand. Die Ansprüche stiegen, und keiner wollte zurückstehen, zumal die Kritik in der wöchentlich erscheinenden illustrierten Lagerzeitung ["Baracke"] am Himmel dräute. Die Lagerdruckerei, in welcher diese Zeitung gedruckt wurde, bildet ein Kapitel für sich. Überblickt man jetzt die stattliche Anzahl wertvoller Bände mit ihren Illustrationen im Farbendruck und ihrem vielseitigen Inhalt, so glaubt man ein recht reiches Verlagsunternehmen vor sich zu haben.

Es fehlt der Raum, um auf die Entwicklung des Theaters näher einzugehen. Die Spielleiste umfaßt u.a.:

Hans Sachs: "Das heiße Eisen", "Der böse Rauch", "Narrenschneiden", "Der Eulenspiegel mit den Blinden" usw.
Gryphius: "Peter Squenz".
Shakespeare: "Der Widerspenstigen Zähmung".
Calderon: "Das Leben ein Traum".
Lessing: "Minna von Barnhelm".
Schiller: "Wallensteins Lager", "Die Räuber".
Goethe: "Götz von Berlichingen", "Egmont".
Kleist: "Der zerbrochene Krug".
Körner: "Die Braut".
Freytag: "Die Journalisten".
Wildenbruch: "Die Rabensteinerin".
Sudermann: "Die Ehre".
Anzengruber: "Der G'wissenswurm".
Ibsen: "Die Stützen der Gesellschaft".

Ferner: "Pension Schöller", "Alt-Heidelberg", "Im weißen Rößl", "Die beiden Seehunde", "Sherlock Holmes" usw.


Ein besonderer Höhepunkt war eine Freilichtaufführung von Schillers "Räubern". Ein kleiner See im Lagergarten trennte den Zuschauerhügel von der Naturbühne. In einer für den Zweck zurechtgestutzten Tannenschonung spielte man rechts in den böhmischen Wäldern mit dem Wirtshaus und links im Park des Schlosses Moor. Die unfreiwillige Stacheldrahtkulisse im Hintergrund wurde, so gut es ging, durch Tannen und Sträucher verdeckt.

Einen intimen Einblick in die Toilettengeheimnisse unserer "Damen" gibt das kleine Bildchen "Amalia hinter den Kulissen"! [Abbildung 4, Foto: Nachlass Pietzker]5

Amalia, Schönste der Schönen! Mit welchen Gefühlen wirst du jetzt, als sorgender Familienvater, auf dein Mädchenglück zurückschauen.

Und du, Alt-Heidelberger Käthi. Noch klingt mir dein schmelzendes "Karl Heinz, du kehrst nit wieder" im Ohr. – Manchmal war es eine etwas plötzliche Metamorphose: Mittags ein Schlag Nudelsuppe. Nachmittags Arbeitsdienst mit Besen und Spaten. Und abends zartbesaitete Jungfräulichkeit. – Lohnende Jagdgründe für den Psychologen.6

Käthi aus "Alt Heidelberg" [Abbildung 5, Foto: Köberlein] 7

Egmont [Abbildung 6, Foto: Nachlass Pietzcker] 8

"Peter Squenz" von Gryphius [Abbildung 7, Foto: Nachlass Pietzcker]9

Gewiß gab es in der Gefangenschaft auch Unverbesserliche, die angeblich nie in ein Konzert oder eine Theateraufführung gingen, sondern lieber in der Kantine "einen nahmen". Die weitaus größte Mehrzahl stand jedoch teils aktiv, teils interessiert passiv in irgendeinem näheren Verhältnis zur Lagerkunst. Gar mancher, dem früher Zirkus und "Maria Stuart" gleichermaßen als Kunstgenüsse vorschwebten, erlebte hier als dramatischer Held seine erste Kunstdämmerung, wenn er beim Rollenstudium unmittelbar einen Blick in die Werkstatt des Dichters und Gestalters werfen durfte, nachdem ihm in den literarischen Vorbereitungsabenden staunend klargeworden war, aus welchen Wurzeln der Tellheim und alle die anderen Gestalten ihr Leben gesogen hatten.

In den letzten Jahren wurde dann der interessante Versuch gemacht, einem geladenen japanischen Inlandspublikum unsere Musik und unser Theater näherzubringen. Nach dem Applaus zu urteilen, muß es ein Bombenerfolg gewesen sein. Aber ich fürchte, es war nur angeborene japanische Höflichkeit und Neugierde. Stimmen aus dem Publikum, die ich vereinzelt aufschnappte, ließen doch mehr auf Menageriestimmung schließen, so etwa: "höchst interessant und sonderbar, wie die fremden Teufel da oben herumspringen und Lärm machen".

Konzert vor Japanern [Abbildung 3, Foto: Köberlein]

Andrang zur Kasse bei der Kunstausstellung in Tokushima. Besuch innerhalb 10 Tagen: 54.000 Japaner. [Abbildung 2, Foto: Köberlein]

Anders war es mit einer Kunstausstellung, die in der nächsten größeren Stadt, Tokushima, veranstaltet wurde und Zehntausende von Besuchern zählte. Monatelang hatten die Vorarbeiten gedauert. Und nicht nur für die Japaner, sondern auch für uns selbst wurde die Ausstellung zu einem Erlebnis. Erst hier in der Zusammenstellung kam es dem einzelnen zum Bewußtsein, wieviel Wertvolles in den langen Jahren geschaffen worden war. Ein paar Stichworte aus dem Führer müssen hier genügen, um den Umfang des Gebotenen wenigstens anzudeuten:
Abteilung Bildkunst: Originale in Öl, Aquarell, Schwarz-Weiß, Farbstift, Kreide und Kohle, Vergrößerungen nach Photographien, Plakate und Reklame, Karikaturen, technische Zeichnungen. Ferner Kopien aus allen diesen Gebieten.
Abteilung Handfertigkeit: Schiffsmodelle, einschließlich Segelschlitten; verschiedene Modelle (Häuser, Festungen, Brücken usw.), getriebene Metallarbeiten, verschiedene Metallarbeiten, Holzarbeiten, Einlegearbeiten in Holz, Brandmalerei-, Kerbschnitt- und Laubsägearbeiten, Spielsachen, Musikinstrumente, Apparate, Web- und Strickwaren, Sammlungen (Vogelbälge, Schmetterlinge, Pflanzen usw.), Gebrauchsgegenstände, gemeinnützige Lagerunternehmungen, Theater (Szenenmodelle, lebensgroße Puppen in historischen Kostümen, ein Puppentheater usw.), Lebensmittel.
Abteilung Verschiedenes: Ein selbsttätiger Springbrunnen, Regenmesser mit Anzeigevorrichtung, Rechenschieber, eine Modellübersicht über die Herstellungsstadien eines Stiefels, ein fertiger Bienenstock, eine komplette Übersicht über alle Erzeugnisse der Lagerdruckerei, ein chemisches Laboratorium usw.

Wenn auch den japanischen Besuchern vieles unverständlich blieb und nur als kurios begafft wurde (wir Dolmetscher wissen manch amüsantes Lied davon zu singen), so muß diese Ausstellung doch, besonders in den Köpfen der japanischen Schuljugend, einen recht nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, der vielleicht in seinen vielen kleinen Auswirkungen höher zu werten ist als manch tönendes Diplomatenpalaver.

Auf engem Raum ein kurzer Ausschnitt aus Erlebnissen, die für manchen, der sie miterlebt hat, Schicksal und neues Leben bedeuten. Mit den Augen des Berufsmenschen gesehen: bei den meisten ein glatter Debetsaldo [im Sinne von "eine ausgeglichene Bilanz"] von fünf Jahren. Intellektuell: eine ungeheure Belastungsprobe, unter der mancher zeitweise zusammengebrochen ist. Ein dunkel, langsam schleichendes Ungeheuer "Zeit", das zur Kraftprobe herausforderte und, wenn auch unter Wunden, besiegt wurde. Mit den Waffen des Geistes und durch die lebendige Kunst.10

Selbstverfertigte Marionetten [Abbildung 8: Nachlass Schäfer]

Faust als Marionettenspiel [Abbildung 1: Köberlein]
 

Anmerkungen

1.  Das darf man nicht wörtlich nehmen. Tatsache ist freilich, dass die Essens-Menge sich an dem orientierte, was für japanische Soldaten – mit durchweg kleinerer Konstitution – vorgesehen war (vgl. Art. 7 HLKO).

2.  Siehe den Beitrag zur Stacheldrahtkrankheit. Dass es (naturgemäß) viele interne Streitigkeiten (sogar "Exzesse") gab, wird hier angedeutet; in den Augenzeugenberichten wird dieser Aspekt fast immer verschwiegen.

3.  Im Original folgen hier – vermutlich aus drucktechnischen Gründen – die Abbildungen 1 bis 5.

4.  Im Original folgt hier Abbildung 6.

5.  Laut "Die Baracke" Nr. 2 vom 07.10.1917, S. 25 wurde das Stück am 10.07.1917 aufgeführt durch die Theatergruppe der 6. Kompanie unter Leitung von Adolf Barghoorn und Hans Pietzcker.

6.  Im Original folgt hier Abbildung 7.

7.  In der Rolle der Käthe: Eugen Keim; siehe die Kritik in "Die Baracke" Nr. 4 vom 27.10.1918, S. 66-69; Regie führte Alexander Wunderlich.

8.  Auf dem Bild der Hauptdarsteller Heinrich Steffens; siehe die Kritik in "Die Baracke", 3. Jahrgang (1919), Nr. 21, S. 378-382; Regie führte Hans Pietzcker.

9.  Siehe die Kritik in "Die Baracke" Nr. 23 vom 03.03.1918, S. 388-391.

10.  Die Schriftleitung von "Der Scheinwerfer" schrieb dazu im Editorial (S. 3), die Kriegsgefangenenkunst könne gewertet werden "als ein Merkmal des tiefen Kulturwillens, der in dem Deutschen lebt, eines Kulturwillens, der sich auch in der größten seelischen und körperlichen Not behauptet und sozusagen aus dem Nichts künstlerische Erlebniswerte geschaffen hat". Diese deutschnationale Grundierung lässt sich aus Eggebrechts Artikel nicht direkt herauslesen.
 

©  Nachkommen von Hans Eggebrecht; für diese Fassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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