Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Von Tsingtau nach Japan«

von Jakob Neumaier
 

Unter den Augenzeugen des Krieges und der Gefangenschaft ist Jakob Neumaier einer der wichtigsten. Seine Tagebucheintragungen decken den gesamten Zeitraum von den letzten Junitagen 1914 bis zur Rückkehr in die Heimat Anfang März 1920 ab. Er schildert seine Erlebnisse bewusst aus der Perspektive des einfachen Soldaten, ohne »Feldherrnattitüde«, mit guter Beobachtungsgabe und mit viel Liebe zum Detail.

Der dritte Teil von Neumaiers Bericht handelt vom Sammeln der Gefangenen und der Überfahrt nach Japan bis zur Ankunft im Lager Fukuoka.

Die hier benutzte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von dem leider verstorbenen Bochumer Sammler Walter Jäckisch zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in Fußnoten.

Übersicht:

  1. Abmarsch aufs freie Feld
  2. Am Sammelplatz
  3. Per Schiff nach Moji/Japan
  4. Von Moji nach Fukuoka

 

1. Abmarsch aufs freie Feld

Auf dem grossen, gewellten Rasen des Moltkeplatzes, den wir von Felddienstübungen aus Friedenszeit gut kannten, auf dem wir in heissen Sommertagen in Schützenlinien, sprungweisem Vorgehen und unter lustigem Feuer mit Platzpatronen Gefechte gegen markierten Feind geliefert hatten, waren wir, die Besatzung von Infanteriewerk 5 und Schützengraben 6c, zum Abmarsch angetreten. In Front zum Bahndamm standen wir, zu den beiden frisch aufgeworfenen Grabhügeln, unter denen die zwei Toten vom Graben 6 c ruhten. Auf jedem der Gräber stand ein Kreuz aus Akazienzweigen mit weißem Zettel. »Hier ruht Maat Luther von der 4. Kompanie Matrosen-Artillerie«, war auf einem Zettel mit Bleistift geschrieben, auf dem anderen: »Hier ruht Heizer Haase vom Kanonenboot Jaguar.«

Die japanischen Posten gaben das Zeichen zum Abmarsch. Still, gedrückt setzte sich der lange Zug in Bewegung. Viele blickten noch zurück zu den Gräbern, nach der Stadt und den grünen, von Felskuppen gekrönten Hügeln, dem Signalberg, über dem die japanische Flagge wehte. Es gab kein Zurück mehr. Der Marsch ging durch das uns von Friedenszeit her wohlbekannte Gelände, das nun traurige Bilder der Verwüstung bot, an Infanteriewerk 5 vorbei, das unheimlich zugerichtet war. Die Brustwehr, Maschinengewehrstände und Verschanzungen waren in unförmige, fast flache Erdhaufen verwandelt, wo wirr durcheinander Betonstücke, Sandsäcke, Stahlschilder, Maschinengewehrteile und Gewehre herumlagen. Durch ein Akazienwäldchen mit geknickten Stämmen kamen wir. Auf den gelben Blättern glitzerte der Herbsttau.

Zwischen dünnen Stämmen zogen sich Laufgräben hin, von langem, herbstlichem Grase teilweise verdeckt. Granatlöcher in dem weichen Grund und bunte Uniformfetzen, Gewehre, Feldflaschen waren die Zeichen der hier stattgefundenen Kämpfe. Und dort im langen Gras lag noch ein Toter in weisser Matrosenuniform. Ein weißes Tuch war über sein Gesicht gebreitet, eine breite Wunde auf der Brust, ein dunkelroter Blutfleck auf der weißen Matrosenbluse. Ein Mann sprang aus unserer Kolonne, holte kurz das Tuch vom Gesicht des Toten und trat, vom Posten getrieben, wieder in unsere Reihen. »Obermaat Bödicker«1, sagte der Mann kurz. Hier hatten Matrosen und Pioniere, auch Österreicher, nach dem Falle der Infanteriewerke den Feind noch aufzuhalten versucht.

Wir kamen durch das grosse Chinesendorf Taitungschen. Welche Veränderung gegen früher! Demolierte Chinesenhäuser und japanische Soldaten. Aus manchem Mauerwinkel lugte noch verstört da und dort ein Chinese hervor. Ein Zug japanischer leichter Geschütze begegnete uns. Nagelneue, stahlblaue Rohre mit glänzenden grauen Lafetten, zierliche Dinger waren es, wie frisch aus der Fabrik gekommen. Am Ende des Dorfes stand am Straßenrande eine Abteilung indischer Soldaten, hohe, stramme Gestalten mit sauberen Khakiuniformen, dunkelbraunen Gesichtern und gelben Turbans. Fast vornehm sahen die Inder aus; einige hatten krause Vollbärte. Es schien mir, als ob uns diese Inder sympathisch gesinnt wären. Ihre Gesichter waren ernst, nicht neugierig, ihre Blicke tieferforschend, als man von Soldaten gewohnt ist. Von den zwei englischen Bataillonen, die an der Belagerung teilgenommen hatten – ein Bataillon weißer Engländer und ein indisches Bataillon –, sahen wir erst hier die Inder. Dass sich die weißen Engländer im Kampf nicht vorgedrängelt hatten, fanden wir verständlich. Als waschechte Tommies hatten sie, da für sie weiter nichts zu holen war, den Ruhm gerne ihren farbigen Verbündeten überlassen.2

Wir marschierten über die braune Ebene zu Füßen der Fortshügel, auf deren Gipfeln japanische Flaggen wehten. Am Iltisberg gingen japanische Offiziere mit auseinandergefalteten Papieren, wohl Plänen, herum. Das rein Geschäftsmäßige, die formelle Übernahme der Forts, begann wohl nun, nachdem die »Heldentat« der Erstürmung vollbracht war. Unsere von Granateinschlägen aufgewühlte Straße führte zum Infanteriewerk 1. Links in einem Akazienwäldchen sahen wir in einer Mulde etwa 20 tote Japaner, wie Scheitholz aufeinander geschichtet. Ein Toter auf der obersten Reihe hatte eine schwärzliche Blutlache auf der Brust, der starre Arm seines Nebenmannes schien mit der Hand auf die Wunde zu zeigen. Nahe am Infanteriewerk war die Straße unkenntlich geworden, zersprengt und verschüttet. Wir sprangen über tiefe Trichter, in denen trübes Grundwasser stand, kamen auf schmalen Bretterstegen über das Stacheldrahtgewirr des zerschossenen Haupthindernisses. Das Infanteriewerk 1 sah aus wie ein gesprengter Wall, auf dem überall Blindgänger und Ausbläser, zertrümmerte Gewehre und Ausrüstungsstücke herumlagen. Einige unserer Seebatailloner erzählten, hier hätten die Japaner mit Kleinkalibergeschützen auf kürzeste Entfernung auf das Werk, das Drahthindernis und [mit] höchster Feuergeschwindigkeit auch in die vordersten Reihen ihrer stürmenden Leute gefunkt.

Wir hatten die Hauptverteidigungslinie hinter uns, kamen an den japanischen Gräben vorbei, die sich im Zickzack zu unseren Werken heranschlängelten. Wohl acht bis zehn Kilometer weit hatten sich die Japaner herangewühlt, mitten durch halbzerschossene oder abgebrannte Chinesendörfer. In dem kleinen Dorfe Wutschiatsun, durch das wir marschierten, trieben sich vereinzelte Chinesen herum, zwischen halbdemolierten Lehmhütten und Strohhaufen, und sahen uns traurig nach. Zwei heulende Frauen hockten neben einer Türe, durch die japanische Soldaten ein- und ausgingen.

Auf schmaler, ausgefahrener Straße kamen wir bei Sonnenuntergang auf einem der Höhenrücken an, die unsere schweren Batterien sechs Wochen lang bestrichen hatten. Rechts von uns türmten sich die rötlichen Felsmassen der Prinz-Heinrich-Berge auf. Noch einmal richteten sich unsere Blicke zurück nach den Hügeln von Tsingtau, nach den anheimelnden Dächern und Giebeln der Stadt, die in rötlichem Schimmer der untergehenden Sonne leuchteten. Tiefblau lag die Bucht, und jenseits, über den gelben Hängen des Perlgebirges, sank der rotglühende Sonnenball. Stumm grüßten wir zurück, dann ging unser Weg zu Tal. In rötlichem Schimmer versunken lag hinter uns Tsingtau. Ein fernes, dumpfes Donnern war ab und zu noch von der Kiautschou-Bucht her zu hören, es war wie das Krachen eines verglimmenden Scheiterhaufens, des Scheiterhaufens Tsingtau, mit dem unsere Freiheit und ein langes, glückliches Stück unseres Lebens untergegangen war. – Die Japaner räumten wohl an der Buchteinfahrt schon unsere Minensperren weg, sagten wir uns.

Die Dunkelheit brach über die wilden Hänge der Prinz-Heinrich-Berge herein. Stumpfsinnig, wie mechanisch, marschierten wir dahin zwischen den dunklen Höhen. Lockere, aschengleiche Erde, ausgewaschene Hohlwege, Felsblöcke, dazwischen kümmerliches Gestrüpp und einzelne, ärmliche Lehmhütten sind Merkmale dieser trostlosen Schantungtäler, durch die wir uns müde, hungrig und durstig schleppen, mit trübem Hoffen der fernen Heimat gedenkend, nur auf Vergessen unseres Unglücks und Ruhe hoffend. Die kleinen braunen Posten in ihren Kapuzenmänteln stapfen gleichmütig, mit schlenkernden Armen neben unseren Reihen her. Wer weiss, wie lange wir noch marschieren, wohin? Klappernde Leiterwagen, von mageren, abgetriebenen Mulis gezogen und von erdbeschmutzten Soldaten geführt, begegnen uns. Sie haben Papierlaternen, Lampions, bei sich, in denen gelbes Licht flackert. Wir weichen aus. »Italienische Nacht«, sagt ein Witzbold von uns. Die Wagen poltern vorüber, Tsingtau zu.

Patrouillen kommen vorbei, gaffen uns neugierig und stumm an. Am Rande unserer schmalen, ausgefahrenen Feldstraße wuchert niederes Gestrüpp. Vor uns tauchen immer mehr dunkle Höhen auf. Durch ein elendes Chinesendorf kommen wir. Man sieht nur Lehmwände und und niedere Strohdächer, keinen Türeingang, kein Fenster. In der Nähe einer Hütte sitzt ein alter Chinese, in Lumpen gehüllt. An einer grauen Wand der letzten Hütte lehnt eine Chinesin mit roter, weiter Hose; zwei nackte braune Kinder mit wirren Haaren kauern zu Füßen der Frau. Sie sehen uns stumm und verschüchtert an. Unser Weg windet sich um einen Felshügel, führt weiter ins Tal. Rechts in einer dunklen Ravine sehen wir zwei walzenförmige Ungetüme sitzen. Balken und Kisten sind dahinter aufgestapelt. »Eine Mörserbatterie«, flüstert es durch unsere Reihen. Wie faule, die Rachen zeigende Raubtiere starren die kurzen, dicken Rohre herauf. Ein witziges Wort wird da und dort laut, niemand lacht. Das Zischen und Krepieren der Granaten scheint jedem noch im Ohre zu klingen.

In einem Hohlwege stockt der Marsch. Ohne Weiteres setzt sich jeder von uns auf den Boden. Doch gleich treiben uns die Posten brummend an zum Weitergehen. Vor Mattigkeit halb schwitzend und halb fröstelnd tappen wir weiter, willenlos, wie von einer Maschine bewegt. Endlich, vor einem weiten Rasen, rufen die Posten »Mate! Mate!« (Halt! Halt!) Sie machen auf dem Platze mehrere kleine Feuer und deuten durch Handzeichen an, wir sollten neben den Feuern uns hinlegen. Es wird japanisches Hartbrot verteilt, es ist nicht so hart wie das deutsche und scheint uns auch schmackhafter. Wir verschlingen es schnell, um keine Zeit zum Schlafen zu verlieren, legen uns gleich hin. Ich strecke mich am blanken Rasen aus, lege den Kopf auf meine leere Vorratstasche, ruhe köstlich, obwohl ich an einer Seite friere und die andere vom Feuer heiss ist. Schon nach kaum einer Stunde geht es wieder fort. Die Posten treten die Feuer aus. Es ist eine kühle Nacht. Der Himmel ist bewölkt, doch ist es ziemlich hell. Der Nachtfrost schüttelt die Glieder.

Nach etwa zwei Stunden Marsch erreichen wir einen größeren Rasenplatz, bei dem ein chinesischer Friedhof ist, was wir an den Reihen von Rasenkegeln erkennen. Der Platz ist durch lange Leinen begrenzt, die an Holzstäben aufgespannt sind. Ein Bächlein fließt neben dem Friedhof, in den wir einmarschieren. Wir sehen plötzlich lange Reihen in Decken gehüllte Mannschaftskameraden zwischen den Rasenhügeln liegen. An den Leinen stehen Posten, die uns durch Handbewegungen andeuten, wir sollen zwischen den hier Liegenden Platz nehmen und schlafen. Wir drängen uns zwischen die Ruhenden und die Grashügel; der Platz zum Liegen ist überall knapp. Ich finde dicht neben einem der Rasenhügel eine Liegestätte. Tote Chinesen mögen neben mir unter dem Rasen des Kegels ruhen. Es stört mich nicht, ich liege gut. Auf den Kegeln liegen eine Art Papierteller, auf denen wohl Lebensmittel, Reis und Fisch, für die Toten sind, wie wir es in der Umgegend von Tsingtau oft gesehen haben. Mögen sich die Geister da gütlich tun. Kein toter Chinese, keine Erinnerung an früher gehörte Geistergeschichten könnte uns um die Ruhe bringen, die wir schlafend auskosten. Selbst der Hunger ist vergessen, Nur kurz merken wir noch einen leichten Regen, der einsetzt.

In der Morgendämmerung werden wir, von der Kälte geschüttelt, wach, Es scheint ein schöner Tag zu werden. Zwischen hochliegendem weißgrauen Gewölk sieht der blaue Morgenhimmel überall durch. Bald ist alles von uns auf den Beinen. Wir begrüßen lebhaft die Seebatailloner, die vor uns auf dem Platz angekommen waren, freuen uns, unsere vom Nachtfrost steifen Glieder bewegen zu können, waschen uns am nahen Bächlein. Das gibt frische, neue Lebenslust. Die Morgensonne bescheint den Lagerplatz. Viele unserer Offiziere sind da. Sie unterhandeln mit japanischen Offizieren und geben die Kommandos zum Antreten. Wieder wird Hartbrot verteilt. Dann geht der Marsch weiter, nach Norden, durch das wilde, bergige Land, das uns schon fremd ist. Im nächsten Dorfe sollen wir einquartiert werden, hören wir. Erst gegen Mittag ist ein Dorf in Sicht. Taputung, das nahe bei Schatsykou liegt und uns nur dem Namen nach bekannt ist, soll es sein, sagt man. Wir sind wieder äußerst ermüdet und freuen uns, einmal richtig ausruhen, vielleicht auch den Riesenhunger einmal stillen zu können. Es ist gut, dass der Mensch zunächst immer nur an das Nächstliegende denkt, wenn er hoffnungslos, machtlos und arm ist. Da lernt er das zum Leben Notwendigste schätzen, wird abgehärtet und zäh im Kampfe um das bisschen Leben.
 

2. Am Sammelplatz

Mittags machten wir auf dem freien Platze vor dem Chinesendorfe Taputung Halt. Die ärmlichen Lehmhäuser unter schattigen Bäumen schienen uns sehr einladend. Japanische Offiziere teilten unseren langen Zug in Gruppen zu zehn oder zwölf Mann ein. Jeder Trupp wurde von Posten an eine Chinesenhütte geführt, An einem ziemlich geräumigen Lehmhause kam ich mit elf Kameraden unter. Es war in zwei Räume geteilt, hatte keine Fenster, nur für jeden Raum einen schmalen Eingang ohne Türe. Im einen Raum hauste ein älteres Chinesenehepaar, der andere, der vollständig leer war, stand uns zur Verfügung. Vier graue Lehmwände, festgestampfter Lehmboden und das Reisstrohdach, weiter war im Raume nichts zu sehen. Vor dem Hause war ein kleiner Hof, zum Teil mit Lehmwand und Strohhaufen, zum Teil mit dürrem Unkraut umgeben. Einige große, irdene Töpfe, Rechen aus Bambus, Pflanzenbündel und alte chinesische Kleidungsstücke lagen herum. In einem kleinen verwilderten Garten war zwischen Schlinggewächs und hoch aufgeschossenen Stämmen von Sonnenblumen eine Dunggrube, deren »Duft« die ganze Gegend erfüllte, des Chinesen Mistgrube und zugleich Bedürfnisanstalt.

Die Hütten standen eng zusammengedrängt, die Höfe waren nur teilweise durch Lehmwände umgrenzt, so dass eine Anzahl enger Gassen und Durchgänge dem Ort ein erdhöhlenartiges Gepräge gaben. So eng und wahllos zusammengebastelt war das ganze Dorf, dass man unwillkürlich dachte, hier hätten Kinder »Bau« gespielt. Uns war das nichts Neues. Die meisten Chinesendörfer um Tsingtau waren nicht viel schöner. Wir trieben nicht lange Studien, nahmen vom nächsten Strohhaufen soviel Stroh, als jeder schleppen konnte, und bedeckten damit den Boden unseres »Zimmers«, der bald in ein molliges Lager verwandelt war. Am Hofe, in einen Lehmherd eingemauert, war ein irdener Kessel, den wir säuberten. Feuer wurde darunter angemacht und der Kessel mit Wasser gefüllt. Begierig auf warmes Essen, steuerte jeder zur Suppe bei, was er bei sich hatte an Lebensmitteln, meist Hartbrot. Mancher hatte auch noch Konservenfleisch und warf es unter allgemeiner Begeisterung in den Kessel, und weil uns schon wieder der Übermut über soviel Glück plagte, gaben einige auch noch ihre Vorräte in Ölsardinen und Marmelade dazu. Es gab ein einzigartiges Gebräu in dem Kessel, eine Mahlzeit, die uns nach dem langen Fasten herrlich schmeckte und keinem schadete.

Am Abend gingen wir früh schlafen. Die Türe wurde mit einer Decke verhängt, einer zündete einen Wachsstummel an, klebte ihn in eine Wandnische. Wir hatten »märchenhafte« Beleuchtung, in der sich die Spinnengewebe und Wespennester unter dem Reisstrohdache und die grauen unebenen Wände bei dem flackernden Lichte seltsam abenteuerlich ausnahmen. Man konnte aber auch glauben, unter einem alten deutschen Scheunendache zu nächtigen. Der letzte Mann löschte schließlich das Licht, und bald schlief alles fest in einem Chinesendorfe in Schantung.

Am Morgen wurde Hartbrot und etwas Konservenfleisch verteilt. Mittags wurden wir in ein benachbartes Dorf geführt, wo wir wieder Seebatailloner, die vor uns eingetroffen waren, begrüßten. Es wurde uns der Sammelplatz gezeigt, wo wir in den nächsten Tagen anzutreten hatten. Anscheinend sollten wir mehrere Tage in den Chinesendörfern bleiben. Auch die Seebatailloner, die wir seit den Kampftagen nicht mehr gesehen hatten, zeigten eine Art Galgenhumor, hinter dem immer die Frage lag: Haben wir in Tsingtau unsere Schuldigkeit getan? Jeder wusste Abenteuer vom Kampfe zu erzählen, Gefechtsmomente zu schildern und Kampfunternehmungen zu kritisieren. Das Ergebnis war immer: Es konnte nicht anders ausgehen, und wir sollten froh sein, dass wir mit heiler Haut wegkamen. In der Heimat würde man gesunde Leute notwendig brauchen.

Am Sammelplatz war nun jeden Tag öfters Appell. Jedesmal wurden die Gefangenen nachgezählt. Durch einen japanischen Dolmetscher in Zivil wurde uns bekannt gegeben, die Japaner würden unsere Kriegerehre immer hochhalten, unser tapferes Verhalten in Tsingtau würde voll anerkannt, unsere Lage nach Möglichkeit verbessert werden, wir sollten uns mit den Verpflegungsverhältnissen begnügen, gegenwärtig sei es nicht besser zu machen, wir sollten den japanischen »Ordnungen« unbedingt Folge leisten, nicht versuchen zu entfliehen, nicht widerspenstig sein... Als wir eines Nachmittags am Sammelplatz antraten, waren auch unsere Offiziere wieder da. Kapitänleutnant Wittmann hielt uns eine Rede, in der er eigentlich nur die japanischen Anordnungen und Ratschläge wiederholte und uns auch Neuigkeiten vom europäischen Kriegsschauplatz, von weiteren Erfolgen unserer Truppen, brachte.

In unserem Dorfe feierten die Japaner immer noch ihren Sieg. Betrunkene Soldaten torkelten im Dorfe herum, suchten sich bei uns oft anzufreunden, hatten aber wenig Glück dabei. Einen ohne Waffenrock und Mütze sah ich eines Abends mit unserem Chinesen Spektakel machen. Der Japaner schlug in seiner Sakebegeisterung das Geschirr des Chinesen in Scherben und schimpfte auf diesen, der winselnd und händeringend dabeistand. Ein anderer führte vor der Türe unserer Hütte einen seltsamen Tanz auf, bei dem er etwas sang von »Nagasaki, Yokohama, tsin, tsin, tsin«. Er versuchte plötzlich mich, als den Nächststehenden, am Arme zu fassen und wollte anscheinend mit mir auf den Bummel gehen, Ich stieß ihn kurz zurück, dass er sich fast auf den Hintern setzte, darauf torkelte er gleichgültig weiter, rempelte den Chinesen an und versetzte ihm einen Tritt. Als der Chinese flüchtete und die beiden Rowdys auch bei uns keinen Anklang fanden, verließen sie singend den Hof. Unser bezopfter »Hausherr«, der Chinese, und seine etwas unsaubere Gemahlin kamen dann heulend zu uns und deuteten mit vielen Worten, deren Sinn wir verstanden, auf das zertrümmerte Geschirr. Wir gaben ihnen Hartbrot und Konserven, worauf sie sich unter vielen Verbeugungen und glücklich lächelnd in ihr düsteres Gemach zurückzogen.

An einem Abend wollte ich mir die weitere Umgebung etwas ansehen und spielte dabei mit dem Gedanken, in der Nacht vielleicht das Ausreißen zu versuchen. Es waren jedoch an allen Ecken so viele Posten, dass ich mich nicht einmal im Dorfe weiter umsehen konnte. Nach langem Überlegen gab ich den Gedanken an Flucht als hoffnungslos wieder auf. Ich wusste nicht, wie groß die Zone war, in der sich japanische Truppen um Tsingtau aufhielten, und traute auch den Chinesen nicht, die mich jedenfalls einmal unterwegs sehen mussten und wohl den Japanern verraten hätten, selbst wenn ich glücklich an diesen vorbeigekommen wäre.

In einer Lehmhütte war die japanische Wache untergebracht. Die kleinen Burschen mit ihren gelben Uniformen, Mützen mit rotem Band und gelbem Blechstern über dem Schilde, roten Achselstreifen und Wickelgamaschen, gut und praktisch angezogen, saßen mit gekreuzten Beinen am Boden, artig wie Schulkinder fast, sprachen wenig miteinander, futterten ihren gekochten Reis trocken, bedienten sich der Stäbe dabei mit einer Fixigkeit und einem Geschick wie Chinesen. Wenn wir ganz nahe herankamen, suchten sie sich auch mit uns zu unterhalten, meist über den Kampf, indem sie das »Bumm« der Granaten nachmachten, dabei auf ihre Regimentsnummern am Kragen zeigten und andeuteten, dass viele ihrer Kameraden gefallen seien. Oft wollten sie uns auch Zigaretten, Sakeschnaps oder auch von ihrem Reis anbieten. Besonders feindlich waren sie uns jedenfalls nicht gesinnt und schienen immer höchst enttäuscht, dass wir so stolz waren und ihre Großzügigkeit nicht zu schätzen wussten.
 

3. Per Schiff nach Moji/Japan

Am fünften Tage nach unserer Ankunft marschierten wir aus dem kleinen Dorfe Taputung ab. Es ging wieder durchs Gebirge. Rötlich-braune Felsmassen türmten sich zu beiden Seiten des noch üppig grünenden Tales auf, das wir auf breiter, staubiger Straße durchwanderten. Die Spätherbstsonne schien ungewöhnlich warm. In anderen Verhältnissen hätten wir die Landschaft reizend gefunden, obwohl weit und breit bald keine menschliche Behausung noch zu sehen war. So aber hatten wir uns bald an der Naturwildnis sattgesehen, und ein Gefühl der Vereinsamung und Hoffnungslosigkeit kam in dieser unbekannten, fast leblosen Gegend wieder mehr und mehr auf. Große Müdigkeit stellte sich nach etwa vierstündigem Marsche wieder ein. Selbst die gewohnheitsmäßigen Witzemacher unter uns waren schweigsam geworden. Man fühlte die Heimatsehnsucht, die jeden drückte, den Gedanken, der alle beherrschte: frei sein. Alles andere war Stumpfsinn. Endlich, nachmittags, kamen wir auf eine gute, breite Straße, die in vielen Windungen aus dem Gebirge führte und von dem aus man plötzlich Aussicht auf die offene See hatte, auf das Dorf Schatsykou, das noch zum Kiautschougebiet gehörte und in dem bei Beginn der Belagerung kurze Zeit eine leichte Batterie von uns gelegen hatte. Das Dorf, zwischen dessen grauen Hütten einige europäisch gebaute Häuser hervorlugten, liegt idyllisch zwischen Akazien- und Bambusgebüsch, von hohen rötlichen Felsen umgeben. Wohl eine Stunde noch wanderten wir auf der sich immer wieder um sanfte Höhenzüge windenden Straße dahin, bis wir am Dorfe waren.

Draußen auf der blauen Flut lagen fünf schwarze Frachtdampfer, und da errieten wir, dass wir hier zur Reise nach Japan eingeschifft werden sollten. Auf dem weißen Dünensande vor dem Dorfe machten wir Halt, ließen uns erschöpft auf den reinen Sand fallen und warteten gleichmütig. Chinesische Händler aus dem Dorfe kamen, suchten mit geschäftslüsternen Augen in unseren Reihen herum. Ich kaufte mir Erdnüsse und Zigaretten. Wie man sich doch an diesen Kleinigkeiten freuen konnte! Kaum eine halbe Stunde saßen wir, dann wurde »Antreten« befohlen. Die Posten verjagten die allzu anhänglichen chinesischen Händler aus unseren Reihen. In Abteilungen von etwa 20 Mann wurden wir zum Landungssteg geführt, sprangen in die bereitliegenden Holzboote und wurden von japanischen Pionieren zu den weit draußen liegenden Dampfern hinüber gerudert. Unser Boot legte am Indo Maru, einem großen, nicht gerade einladend anmutenden Frachtdampfer an. Wir enterten am Fallreep hoch, betraten aufatmend die dunklen Eisenplatten des Decks. Die leeren Laderäume standen offen zu unserer Verfügung für die Seereise, die etwa drei Tage dauern wurde, wie man sagte. Strohmatten am Boden der Räume bildeten den ganzen Komfort,

Wir blieben vorläufig an Deck. Aller Augen richteten sich zurück nach dem bergigen chinesischen Küstenlande. Die Sonne war untergegangen, und ein leichter, bläulicher Nebel hatte sich über die Täler der Prinz-Heinrich-Berge gezogen. Weiter im Westen, wo sich die Höhen vor Tsingtau wie Kulissen am Strande vorschoben, erkannte man noch die Konturen des Iltisberges, der Passkuppe und der Punktkuppe, deren Kegel in der Ferne nun klein und unansehnlich aus dem bläulichen Nebelstreifen des Strandes hervorragten.

Unter dröhnendem Kettengerassel gingen die Anker hoch, und unser Dampfer setzte sich langsam in Bewegung, entführte uns unerbittlich aus einem nun verlorenen Stück Heimatland. Würden wir Tsingtau wohl jemals wiedersehen?, fragte sich wohl jeder. Mit schwerem Herzen nahmen wir Abschied von China. Doch erwachte auch schon wieder die Freude am Reisen, am Weltenbummel, nun da wir wieder Schiffsplanken unter den Füßen hatten. Was war noch zu verlieren? Wir machten die Reise nach Japan, dann würde die Heimreise kommen, vielleicht gar über Amerika, und wir wären dann rund um die Welt gekommen, trösteten wir uns. »Sehne dich und wandere!« Der Spruch eines Lebenskünstlers oder Philosophen fiel mir ein, und ich musste darüber lachen wie über eine gelungene Satire.

Ein frischer Westwind kam auf, während in der einbrechenden Dunkelheit der Dampfer in ruhiger Fahrt ostwärts zog. Traulich rauschten die Wellen an der Bordwand. Man konnte sich wieder als Seemann fühlen, wenn wir auch dichtgedrängt auf dem Kasten verstaut waren. Es gab Hartbrot und Tee. Mit wie wenig der Mensch doch auskommen kann! Ich glaube, dass er am zähesten und unternehmungslustigsten ist, wenn er nur das Notwendigste hat und überhaupt materielle Güter, wie gutes Essen und Trinken, Nebensache geworden sind. Da schweben dem armen Menschen ebenso leicht höhere Ziele vor wie demjenigen, der mit materiellen Gütern reichlich gesegnet und etwas idealistisch veranlagt ist.

Auf unserem Dampfer trug man sich schon am ersten Tage unserer Reise mit einem abenteuerlichen Plan, den wohl einige idealistische Draufgänger ersonnen hatten und von dem bald alle begeistert zu sein schienen. Es waren unser etwa tausend Gefangene an Bord. Die japanische Wache schätzten wir auf höchstens zweihundert Mann. Auf den Decks standen immer etwa zwanzig Posten herum. Unter uns wurde von Mann zu Mann nun besprochen, wie man die Führung des Schiffes in unsere Hände bekommen könnte. Man sagte sich, dass die schwache Deckwache von uns leicht entwaffnet und in einen Raum gesperrt werden konnte, rechnete aus, dass wir dann auf jeden Ausgang des Raumes, in den man die Japaner sperren wollte, vier Gewehre richten und so die Japaner in Schach halten könnte. Zu gleicher Zeit mit dem Überfall auf die Posten könnte auch die Kommandobrücke gestürmt und das Maschinenpersonal kaltgestellt werden. Es waren unser genügend Leute; diese richtig verteilt, auf ein Signal losgeschlagen, dann war das Schiff in unseren Händen. Die Hauptsache war, die Posten und die Funkbude rasch in unsere Hände zu bekommen. An seefahrtskundigen Offizieren, Maschinisten, Heizern und Matrosen hatten wir genügend.

Alle Einzelheiten wurden besprochen, unauffällig, was umso leichter war, als uns die Posten ja nicht verstanden und sowieso ziemlich sorglos zu sein schienen. Wir wollten Kurs nach Süden nehmen, versuchen, in der Südsee unser Geschwader, Scharnhorst, Gneisenau, Leipzig und Emden zu finden, vielleicht auch ein bisschen Handelsdampfer, wenn sie harmlos wären, zu kapern. So begeistert waren wir von den Möglichkeiten, die sich auftaten, dass wir die wenigen Bedenken, die gegen den Plan vorgebracht wurden, kaum mehr beachteten. Von wem der Plan ausging, weiß ich nicht. Fest steht, dass einige jüngere Offiziere für die Ausführung waren. Sie zogen unsere höheren Offiziere ins Vertrauen. Doch diese steckten uns, vielleicht zu unserem Glücke, ein anderes Licht auf. Sie sagten uns, sicher sei, dass unseren Dampfer japanische Torpedoboote, wenn auch außer Sicht, begleiteten, diesen würden wir bei unserer Kursänderung unweigerlich in die Hände fallen. Übrigens hatte der japanische Kapitän bei Beginn der Reise unseren Offizieren bekanntgegeben, dass bei einer Meuterei der Gefangenen das Schiff von den Japanern sofort in die Luft gesprengt würde und dass alle Vorbereitungen zum Sprengen schon bei der Abfahrt getroffen worden seien, dass unsere Sache ganz aussichtslos sei. Wenn auch nicht alle von uns die Befürchtungen der hohen Offiziere teilten oder von der Aussichtslosigkeit des Unternehmens überzeugt waren, so hatte doch die Begeisterung für den Plan einen schweren Stoß erlitten. Die Stimmung blieb geteilt, ein gemeinsames Handeln war nicht mehr zu erhoffen. Dass die Japaner das Schiff sprengen wurden, trauten wir ihnen zu. Der Plan wurde aufgegeben.

Der uns angeborene Trieb zur Erforschung fremder Sitten und Gebräuche hatte hier an Bord, wo wir ungehindert selbst in die Wohnräume der japanischen Handelsschiffsmatrosen und Heizer gehen konnten, eine gewisse [unleserlich]. Die Mannschaftskajüten waren fast wie auf deutschen Dampfern. Die kleinen gelben Burschen, Matrosen und Heizer, die Freiwache hatten, lagen sogar in Federbetten, japanische Zeitungen lesend oder ihren Reis essend, Tee aus niedlichen Porzellantässchen schlürfend oder Zigaretten rauchend. Farbige Plakate mit japanischen Schriftzeichen und Mädchenköpfen, Fächer und Spiegel zierten die sauberen, braunen Holzwände. Man sah die Schiffsleute in ihrer Freizeit sauber angezogen und gewaschen herumlaufen. Es fiel uns auf, wie sich zu jeder Tageszeit in irgend einer Ecke des Schiffes Heizer oder Matrosen eifrig die Zähne putzten. Wir hätten gerne Esswaren oder Getränke gekauft, doch wir konnten wir nichts auftreiben. Die Schiffsleute boten uns dünnen, heißen Tee und Hartbrot gratis an, doch uns hatte diese Kost, die einzige seit Tagen, schon schlapp gemacht, und wir spitzten auf kräftigeres Essen. Ein kleiner Heizer brachte einmal Konservenfleisch, verlangte aber unverschämte Preise dafür, sodass nur wenig gekauft wurde. Man musste sich wieder mit Hartbrot und Tee begnügen.

Am zweiten Tage unserer Reise kam stärkerer Wind auf; dazu regnete es den ganzen Tag in Strömen. Graugrüne Wellenberge wälzten sich unablässig heran. In den Laderäumen, wo wir dicht wie die Heringe lagen, tröpfelte es ständig durch die geschlossenen Deckluken. Die Luft war dick von menschlichen Ausdünstungen und Tabakrauch. Ein Liegeplatz war selten da zu finden. Man konnte nur, aneinander gelehnt, hocken. Am Abend suchte ich mir an Deck eine Schlafstätte. Über einen Ladebaum, der vom vorderen Mast ab waagrecht zum Bug zeigte, war eine Segeltuchdecke gebreitet, die eine Art Zelt bildete, in das es zwar auch reichlich regnete, in dem aber doch gute Luft war. Auf dem kalten eisernen Deck, den Kopf auf eine Stahltaurolle gelegt, versuchte ich zu schlafen, von Spühregen und Windstößen immer wieder »aufgefrischt«, fröstelnd und mit einem Gefühl in allen Gliedern, als waren mir diese gebrochen. Es war eine lange Nacht.

Am dritten Tage früh sichteten wir die Küste von Korea. Nur nebelhafte Umrisse von grauen Höhenzügen waren bei dem trüben Wetter zu erkennen. Es war heftiger Seegang, und viele meiner Kameraden liessen trostlos die Köpfe hängen, von der Seekrankheit geplagt. Ich blieb verhältnismässig in guter Verfassung. Ich bewunderte besonders die Haltung des japanischen Schiffspersonals auf der Kommandobrücke. Wie schneidig und unbekümmert der noch jung aussehende Kapitän auf der Brücke auf und ab ging, mit leichtem Ölmantel, die Mütze schief in die Stirne gedrückt, eine Zigarette im Mundwinkel, frei in den Sturm sehend, wie lächelnd ab und zu ein kurzes, schneidiges Kommando seinen Trabanten zurufend. Ich glaube, die Seeleute aller Nationen haben das eine gemeinsam, dass sie gerade in stürmischen Tagen eine besondere Wurschtigkeit, oft seltsame Heiterkeit, zeigen, über ängstliche Landratten lächeln. Der japanische Kapitän schien mir geradezu erhaben über seine Landsleute, die Posten, die im Sturme wie Jammergestalten an Deck herumstanden.

Am vierten Tage morgens war der Wind zwar noch stark, der Himmel jedoch wolkenlos. Auf der silbern flimmernden Meeresfläche, im Morgensonnenscheine, lagen vor uns mehrere kleine Inseln, die wie auf dem Wasser schwimmende Blumensträuße aussahen. Ganze Gruppen dieser kleinen Inseln tauchten auf. Sie waren von Gebüsch von dunkelstem Grün bis zum grellsten Rotgelb überwuchert. Eine Künstlerhand könnte auf einem Gemälde die Wildheit, Farbenpracht und Einsamkeit der Inseln im silbernen welligen Meere nicht schöner darstellen, als sie hier vor uns lagen. Zierliche japanische Häuschen mit leichten Holzveranden und geschwungenen Firsten lugten da und dort aus einem lnselbusch hervor, mit weißen Papierwänden und seltsam geschnitzten Galerien, wie von üppigen Sträußen umstellte Nippsachen. Immer neue Inselgruppen tauchten auf. Man hörte bei uns nur Ausrufe der Bewunderung über die Frische und Farbenpracht dieser scheinbar schwimmenden Büsche. Wer auf diesen Inseln, fern vom Weltkriege und dem Getriebe der großen Welt, leben konnte, musste wie im Paradiese sein. Es drängte sich uns der Gedanke auf, dass wir in ein friedliches Land kämen, das nichts mehr mit dem Kriege zu tun hatte, dass wir hier zur Ruhe kommen würden. Diese Aussieht mag uns die Gegend noch schöner vorgezaubert haben.

Gegen Mittag kamen ausgedehnte Höhenzüge in Sicht, und wir liefen in die Bucht von Moji ein. Großstadtnähe machte sich bemerkbar. Industrieanlagen mit hohen Schornsteinen, Lagerhäuser und graue Öltanks gaben dem flacher verlaufenden Lande ein nüchternes Aussehen. Erst um die Hafeneinfahrt von Moji traten wieder Gebirgszüge hervor, zu deren Füßen sich die Stadt ausbreitet. Es ist hier ein Naturhafen, fast wie der von Hongkong, doch sind die umliegenden grauen Höhen einförmiger. Langsam lief unser Dampfer in den Hafen, an zahlreichen kleinen Handelsschiffen vorbei. Moji schien ein ziemlich rußiges und verstaubtes Industrienest zu sein. Es herrschte lebhafter Schiffsverkehr hier; die Dampfpfeife unseres Dampfers brummte oft. Wir passierten ein vor Anker liegendes Kriegsschiff. Die kleinem Blaujacken, die an Deck und an den dunkelgrauen Bordwänden beschäftigt waren, krächzten ein »Bansai« zu uns herüber; einige grüßten auch militärisch mit der Hand an der Mütze oder winkten uns zu. Deutsche Kriegsgefangene, das hatten die Japaner noch nie gesehen hier. Sie würden das nach uns wohl auch nie mehr sehen, sagten wir.

Etwa 500 Meter vom Landungssteg entfernt ging unser Dampfer vor Anker. Wir waren alle an Deck. Flinke Fährdampfer, meist dicht besetzt von Hafenarbeitern, auch von besserem Volk, fuhren hin und her. Von einem dieser kleinen Dampfer winkte uns aus dem bunten Schwarm der fremden Passagiere eine weiß gekleidete Europäerin lebhaft zu. Da flogen bei uns Hände und Mützen zum Gegengruß hoch. Wer uns hier wohl so lebhaft grüßte?, fragten wir uns, und waren höchst erfreut wie über einen Gruß aus dem fernen Heimatlande. Die weiße Dame entschwand im Trubel des Hafens. Erst gegen drei Uhr nachmittags wurden wir mit Holzbooten an den Landungssteg gefahren. Man erzählte, dass wir noch mehrere Stunden mit der Bahn bis zu unserem Lager zu fahren hätten.
 

4. Von Moji nach Fukuoka

Nicht weit vom Landungsstege liegt der Bahnhof, an dem uns eine Masse des braunen Volkes neugierig erwartete. Wir sahen hier zum ersten Male japanisches Beamtenvolk im Großstadtdienst, vor allem viele Eisenbahner und Schutzleute. Der ganze Bahnhofsbetrieb ist äußerlich dem deutschen sehr ähnlich. Alles schien nachgemacht, der Schnitt der Uniformen, die Wartesäle, die Schalter, Kioske und Automaten, die Hallen und Bahnsteigsperren. Ein oberflächlicher Beobachter, wie ich es war, merkte den Unterschied nur an den gelben Gesichtern, den fremden Lauten, den mit fremden Abzeichen versehenen schwarzen Uniformen der Eisenbahner und Schutzleute und dem meist in Kimonos herumtrippelnden Volk. In europäischer Zivilkleidung stolzieren viele Japaner herum, meist nur bessere. Die japanischen Damen scheinen ihre Landestracht vorzuziehen, ich sah keine Japanerin in europäischer Frauenkleidung, fand auch, dass ihnen der Kimono, meist aus dunklem, geblümtem Seidenstoff mit breitem Seidengürtel und dickem Stoffwulst am Rücken, sehr gut steht, Die etwas bauschige Kleidung mit ihren gewählten Farben und Stoffen passt zum zarten Gesicht der Japanerin, das von weichem Wachs zu sein scheint, zu dem schlürfenden Gange und der bescheidenen Figur. Die meisten der Männlein und Weiblein tragen leichte Sandalen [geta] mit rechteckigem Holzboden, zierlich gearbeitet, mit zwei über dem Fuße sich kreuzenden Bändern. Unten an der Holzsohle sind zwei Querhölzer angebracht, so dass man nicht mit der Sohle auftritt und wenig Straßenschmutz an die Sandalen kommt. Von dem Tragen dieser einzigartigen Fußbekleidung kommt der halb trippelnde, halb schlürfende Gang der Japaner.

Das viele Volk, das uns am Bahnhofe von allen Seiten umdrängte und anstaunte, verhielt sich sehr anständig, zeigte nichts als stumme Neugier. Am Spätnachmittag stiegen wir in den Zug, und jeder von uns bekam einen Sitzplatz. Es waren saubere Abteils von der Güte der deutschen dritten Klasse der Waggons, hellbraun lackierte Wände, große Fenster, besonders niedere Bänke, wie für Kinder gebaut, mit Gepäcknetzen darüber. Man fühlte sich da etwas angeheimelt und geborgen. Obwohl ermüdet, waren wir doch gespannt auf immer neue fremde Bilder. Die Fahrt schien in ein Wunderland zu gehen. Wir kamen an Miniaturgebirgen vorbei, an wildzerklüftetem Hügelgelände, das überall von üppigem, grün, gelb und rot schimmerndem Gebüsch überwuchert war, einem riesigen Wildgarten gleichend mit ewig stillen, blauen Seen dazwischen, Wäldern, in denen der Sturm gehaust zu haben schien. In grellen Farben schillernde Büsche schienen von einem kindlichen Gärtner willkürlich da und dort auf steile Felsblöcke gesteckt. Zu Füßen dieser natürlichen Maienaltäre mit ihren rötlichen Wänden lagen wieder große, braune Reisfelder mit sauber gezogenen Furchen und verrieten die versteckte Anwesenheit eines fleißigen Volkes.

Selten sah man einen Menschen auf dem Felde, alles schien in den an der Bahn liegenden Dörfern versammelt, wo die Bewohner, Kopf an Kopf gedrängt, über alte Bretterzäune aus den Luken der grauen Dächer, von den niederen Veranden der mit weißen Papierwänden versehenen Häuser und an allen Straßen uns erwartungsvoll entgegen sahen. Bei Vorbeisausen des Zuges weiteten sich die Augen der meist kahlgeschorenen Jungen, der pausbäckigen Dorfschönen und der alten verwitterten Gesichter. Sie lärmten nicht und höhnten nicht, sondern starrten uns einfach wie gebannt an. Erst wenn der eine oder andere von uns winkte oder rief, was meist den schönen weiblichen Gesichtern galt, schienen einige aus ihrer Hypnose aufgeschreckt und erwiderten mit heftigem Winken. Die meisten aber brachten nur höchst erstaunt krächzende Ausrufe hervor, vergaßen oder verträumten das Winken oder verstanden es nicht oder trauten uns nicht recht. Am schnellsten hatten immer die hübschen Mädchen, von denen manche sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit deutschen Dorfschönheiten besaßen, erfasst, was wir meinten: zarte Anspielung, dass sie uns gefielen. Sie winkten heftig und lachten verständnisvoll. Ihnen lagen jedenfalls politische und die Rasse betreffende Bedenken fern.

Einen großen blauen See passierten wir noch, als die Sonne hinter buschigen Hügelrücken sank. Zu beiden Seiten des stillen Sees schoben sich niedere steile Felswände wie Kulissen heran, über deren Ränder breite Baumkronen von grotesken Formen hingen. Die rötliche Helle des Abendhimmels ließ See und Felsen mit ihren Gebüschen wie eine riesige Zauberbühne in Märchenbeleuchtung erscheinen. Nach Passieren mehrerer langer Holzbrücken fuhr der Zug durch ausgedehnte Föhrenwälder. Diese und die einbrechende Dunkelheit hinderten uns am weiteren Ausblick. Wir fuhren in südwestlicher Richtung auf der Insel Kyuschu von Moji nach Fukuoka, das an der Westküste der Insel liegt.

Gegen 9 Uhr abends kamen wir in Fukuoka an. Die reichliche elektrische Beleuchtung am Bahnhof, die langen Wellblechdächer über den Gleisen und die allerorts angebrachten Schilder, die in japanischen Schriftzeichen und in Englisch der Orientierung und der Geschäftsreklame dienten, verrieten die Großstadt. Wir wurden gleich nach Ankunft durch einen breiten Ausgang aus der Bahnhofshalle geführt. Auf dem taghell beleuchteten Bahnhofplatz, auf dem elektrische Straßenbahnen fuhren, hatte sich eine Menschenmasse angesammelt, dass die Soldaten und Schutzleute nur mit Mühe einen Gang für uns freihalten konnten. Mir kam das Bahnhofsgebäude vor wie das von Regensburg. An deutsche Bahnhofsplätze erinnerten auch stark die Hotelautos, Droschken, Omnibusse und die zweirädrigen Postkarren, an denen Pakete auf- und abgeladen wurden. Nur die fremdrassigen Gesichter schienen mir nicht zu dem europäischen Betrieb zu passen. Es war, als ob sie über die ihnen gelungene Nachahmung unserer Zivilisation selbst grinsen müssen, wie auch wir, freilich in einem anderen Sinne, still darüber grinsten. In anderen Verhältnissen hätten wir gewiss verwundert das seltsame fremde Volk betrachtet und uns gefreut, eine japanische Großstadt kennenzulernen. Uns als Gefangene aber beherrschte ein gewisser trotziger Wille, hier nichts interessant oder bewundernswert zu finden. Überdies waren wir todmüde, hungrig und durstig und wünschten nichts mehr, als endlich unter Dach und zur Ruhe zu kommen.

Nach etwa einhalbstündigem Marsche kamen wir in ein spärlich beleuchtetes Stadtviertel, wo aus dem niederen Häusergewirr ein größerer Komplex von Holzgebäuden mit weißen Papierwänden, niedlichen langen Veranden und großen grauen Dächern emporragte. Eine hohe neue Bretterwand umgab den Gebäudekomplex, unser »Gefangenenheim«, wie der japanische Offizier, der unseren Zug führte, sich ausdrückte. Wir marschierten durch den breiten Eingang der Bretterwand. »Rein in den Arrest«, sagte mein Freund Gersdorf seufzend. Wir waren sehr schweigsam, wie Sträflinge sein mögen beim Strafantritt. Wir wurden in die Räume dieser typisch japanischen Häuser verteilt. Zimmer von verschiedener Größe waren es. Zierliche Treppen führten zum ersten Stock, zierliche Veranden sowohl auf der Straßenseite wie auf der Hofseite um die erste Etage. Am kleinen, sauberen Hofe stand auf weißem Sandboden zwischen einigen kahlen Bäumchen eine Steinsäule, eine Art Gedenkstein mit steinernem, laternenförmigem Aufsatz.

Jedes Zimmer hat zwei oder drei massive Wände. Die auch der Straße oder dem Hofe zu liegenden Wände waren zusammenschiebbare, mit weißem Papier beklebte Holzrahmen von Höhe des Zimmers, also Papierwände. Ich kam in ein größeres Parterrezimmer, wo unser zwölf Kameraden waren. Der Boden war mit glatten, glänzenden Strohmatten bedeckt, lag eigentlich nicht »parterre«, denn die Böden der japanischen Häuser liegen, von Holzpflöcken gestützt, etwa einen halben Meter über dem Erdboden, sodass man unter den Häusern durchkriechen könnte. Wir musste die Schuhe vor den Zimmern ausziehen, um den Mattenboden zu schonen. Wie in einem engen, leicht zerbrechlichen Vogelkäfig konnte man sich in dem Zimmer fühlen, Als unser dicker Bartsch, der zum Zimmerältesten ernannt wurde, an die Papierwand sich einmal unvorsichtig umwandte, stieß er mit dem Ellenbogen gleich ein Riesenloch in die Wand.

Für jeden Mann lagen fünf rote Wolldecken, unsere Betten, am Mattenboden. Es war zwar ziemlich kalt und [es] gab in den Zimmern keine Öfen, aber wir waren froh, endlich eine Ruhestätte gefunden zu haben. An einigen Zimmern fehlten noch Teile von Wänden, die vorläufig durch Deckenvorhänge ersetzt wurden. Durch den japanischen Dolmetscher wurden einige Vorschriften über unser Verhalten in den japanischen Häusern bekannt gegeben. Auch wurde uns versprochen, dass in kürzester Zeit die notwendigen Reparaturen an den Häusern vorgenommen und unsere Verpflegungsverhältnisse verbessert würden.

Schon gleich am ersten Abend wurde uns eine Aufmerksamkeit der Japaner zuteil, die vielleicht gut gemeint war, aber uns doch seltsam, fast zweifelhaft erschien: Es gab als erstes Essen Pellkartoffeln und Heringe, und der japanische Stabsarzt, der durch die Zimmer ging, ein freundliches, gebeugt gehendes Männlein, wünschte uns in gebrochenem Deutsch guten Appetit und meinte scherzend: »Das deutsche Nationalspeise, ich weiß.« Es kam uns wie eine leichte Ironie vor. Wir waren zu müde, um uns Gedanken zu machen. Bisher hatten sich die Japaner, seit unserer Gefangennahme, im Allgemeinen ganz korrekt verhalten, und wir hatten keine Gründe, von ihnen Gehässigkeiten zu fürchten. Wir legten uns in unsere Decken, schicksalsergeben, mit der stillen Hoffnung, dass die nächsten Monate über unsere Zukunft entscheiden würden.
 

Anmerkungen

1.  Name steht nicht in der Liste der Gefallenen.

2.  Das Klischee vom »feigen« Engländer taucht in vielen zeitgenössischen Berichten auf.
 

©  für diese Fassung: Hans-Joachim Schmidt
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