Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Gefangenschaft in Oita

von Jakob Neumaier
 

Unter den Augenzeugen des Krieges und der Gefangenschaft ist Jakob Neumaier einer der wichtigsten. Seine Tagebucheintragungen decken den gesamten Zeitraum von den letzten Junitagen 1914 bis zur Rückkehr in die Heimat Anfang März 1920 ab. Er schildert seine Erlebnisse bewusst aus der Perspektive des einfachen Soldaten, ohne »Feldherrnattitüde«, mit guter Beobachtungsgabe und mit viel Liebe zum Detail.

Der sechste Teil aus Neumaiers Bericht schildert die Zeit im Lager Oita von Herbst 1916 bis zur Verlegung ins Lager Narashino (Oktober 1916).

Die hier benutzte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von dem leider verstorbenen Bochumer Sammler Walter Jäckisch zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in Fußnoten.
 

Übersicht:

  1. Ankunft in Oita
  2. Erster langer Ausflug
  3. Nachrichten, Predigten, Propaganda
  4. Sportfest und Ausflug ans Meer
  5. Das letzte Jahr in Oita

 

1. Ankunft und Einrichtung in Oita

[Geschrieben in Oita 27.10.2016] Zwei lange Hafenmolen tauchten auf, und dann sahen wir das Städtchen Oita an der großen Bucht, in der nur einige braune Segelboote lagen. Oita ist kaum halb so groß wie Fukuoka. Unser Zug hielt. Wir wären gerne noch länger gefahren, denn die Neugierde nach unserem neuen Heim war nicht groß. Vor dem sauberen, kleinen Stationsgebäude empfingen uns etwa ein Dutzend japanische Infanteristen in schwarzen Uniformen mit roten Achselstreifen und den Regimentsnummern 72 am Kragen, mit Gewehr natürlich, ein bärbeißig aussehend deutscher Feldwebel mit grauem, sonnenverbranntem Gesichte und ein ältlicher, langer japanischer Oberleutnant. Der Feldwebel ließ, als wir vor dem Bahnhof angetreten waren, zu dreien abzählen, dann ging es los durch die Stadt. Die Straßen schienen mir reinlicher als die der Großstadt Fukuoka. Nach etwa einhalbstündigem Marsche kamen wir aus der Stadt und sahen auf der freien Ebene, von Reis- und Gemüsefeldern umgeben, drei große, zweistöckige Gebäude mit schwarzen Holzwänden und grauen Schieferdächern. Es sind drei japanische Schulhäuser, die in etwa fünfzig Meter Abstand voneinander liegen. Das südlich gelegene der drei Häuser ist unser »Gefangenenheim«, wie es die Japaner nennen. Es war früher auch eine japanische Volksschule. Die Schulgebäude haben, glaube ich, in ganz Japan den gleichen Typ: zwei Etagen, geteerte Holzwände, hohe Fenster, Schieferdach und Vorhalle in der Mitte der Front vor dem Haupteingang.

Unser »Heim« liegt, von hohen Pappeln und Weiden fast verdeckt, mit einem niederen Bretterzaun umgeben, eigentlich ganz idyllisch. Ein breiter, sauberer Feldweg führte uns dorthin, an vereinzelt stehenden, sauberen Landhäusern vorbei. Schon von weitem winkten uns vom Lager her, über den grauen Zaun und aus den Fenstern, die Kameraden, die seit zwei Jahren hier auf den Frieden warteten. Neben unserem Zuge liefen Schulbuben mit listigen, lauernden Gesichtern her, mit ihren typischen Faltenröcken, schwarzen Schirmmützen und umgehängten braunen Schultaschen. Wir marschierten ins Lager. Ein großer, schattiger Platz mit Turngeräten, Hängematten zwischen den Bäumen und Liegestühlen zeigte, dass es hier verhältnismäßig gemütlich sein musste. Sogar Kaninchen- und Hühnerställe waren in einer Ecke des weiten Hofes angelegt. Wir standen am Hofe in Reih und Glied, uns gegenüber die uns erwartenden Kameraden in heller Aufregung und Freude über das Wiedersehen. Es waren zum größten Teile ältere Leute, Reservisten, alle besser gekleidet und gesünder aussehend wie wir. Sie schienen besser genährt. Unter der Vorhalle des Mittelportals standen einige japanische Offiziere. Ein alter, steifer Herr in Zivil, mit grauem Gesichte, schwarzem Gehrock und würdevoller Haltung, der japanische Dolmetscher des Lagers, trat vor unsere Reihen und las uns die Empfangsrede vor. Man verstand sein Deutsch nicht gut, obwohl er mit viel Betonung, vielleicht allzuviel Nachdruck, sprach. Er wünschte uns im Namen des Lagerkommandanten, dass wir uns hier wohlfühlen würden und wiederholte in seiner Rede öfters deutlich: »Geduld, nur Geduld, wir werden Ihnen alles mit der Zeit schön und gut machen!«

Nach der Rede ging es ans Verteilen in die Säle und ans Begrüßen der Kameraden, der näheren Benannten vor allem. Da sind Kollegen von meiner Kompagnie, Fath und Betz1, die am Morgen vor dem Falle von Tsingtau am Iltisberge noch schwer verwundet worden waren. Sie sehen sehr gesund aus. Alles empfing uns herzlich und schwärmte von dem schönen Leben, das wir hier angeblich haben werden, von Ausflügen, gutem Essen, Gelegenheit zu Sport und Spiel, zum Musizieren und Singen im Lagergesangverein, von der guten Kameradschaft, die hier herrsche. Hier hat anscheinend auch jeder Geld. Die Reservisten, die in der Mehrheit sind, gehen in gutem Zivil, auch einige von den Aktiven. Hinter dem Haus sind Lauben mit elektrischem Lichte. Wir haben Bettläden, Strohsäcke, helle, luftige Säle mit dichten Holzwänden.

Die Reservisten geben den ärmeren Kameraden Verdienst, lassen ihre Wäsche waschen, Stubendienst verrichten und ihre Lauben in Ordnung halten gegen Bezahlung. Da fällt für jeden unbemittelten Kameraden immer was ab. Die ganze Herrlichkeit, Lauben und Bettläden, ist übrigens von den Gefangenen aus eigenen Mitteln beschafft, und das Essen ist besser, weil von den Gefangenen Zuschüsse für die Küche bezahlt werden. Man tut gut, nicht alles, was hier glänzt, als Gold zu nehmen, das habe ich schon gemerkt. Wir wohnen in den Sälen dichter beisammen, als wir in Fukuoka waren, und da wird es mit dem Lesen und Studieren Schwierigkeiten haben. Übrigens empfanden wir es fast als demütigend, dass wir aus Fukuoka so ärmlich waren. In Fukuoka hatte die Mehrheit nichts, und darum traten Unterschiede nicht so stark hervor; es machte auch keiner von den Mannschaften des anderen Diener. Das Offizierslager ist in der Stadt, etwa drei Viertelstunden von unserem Lager entfernt. Wir sind also wieder »unter uns«.

Ich habe mir ein Büro eingerichtet, das seltsamste wohl in der Welt, in meinem – Bett. Ich klappte den Strohsack zusammen, nahm die verschiebbaren Bodenbretter als Sitz, legte über die Kanten der beiden Seitenbretter ein Brett, das als Tisch dient und befestigte am Boden der über meinem Bett befindlichen Bettstelle ein selbstgemachtes, einfaches Bücherregal. In diesem »Büro« sitze ich ungefähr, wie man in einem Auto sitzt. Rechts ist eine schmale Sackgasse zwischen den Bettreihen. Es fällt genügend Licht in die Gasse und damit auch in mein »Büro«. Über mir habe ich als Plafond die Bodenbretter vom Bett meines Kameraden Hailer2, der sich oben einen Schreibtisch gemacht hat und dort wie auf einem Hochstand vor den Büchern sitzt, Meine übrigen Bettnachbarn sind auch ganz ruhige Kameraden, und so bin ich in meinem Winkel immer ziemlich ungestört. Das ist vorläufig die Hauptsache. Vor den Bettreihen, wo die Tische und Bänke stehen, ist es geräumiger, doch geht es dort immer etwas lebhafter her. Es wird dort gespielt, gegessen, Wäsche geplättet und Unfug getrieben. Da fühle ich mich in meiner Ecke oft recht wohl, zumal ich auch einen kleinen Ausblick durch ein Fenstereck auf die Reisfelder und die Bergkette der Umgebung habe.

Oita, 6. November 1916 — Heute vor zwei Jahren war unser letzter Kampftag in Tsingtau. Da waren wir, obwohl schon eingeschlossen, noch frei, unser Kampf hatte noch ein hohes Ziel, Tsingtau und unsere Ehre zu verteidigen. Welchen Zweck hat unser Leben heute noch? Brav zu bleiben, unsere Gesundheit zu schonen, uns für einen Kampf in der Heimat vorzubereiten, von dem wir noch nicht wissen können, für was wir kämpfen werden. Es wird ein Kampf sein um das liebe, bescheidene tägliche Brot. Wie können wir uns darauf vorbereiten? Ich finde keine genügende Antwort darauf. Es ist fast besser, man tröstet sich mit der Ergebung in den Willen Gottes. Seltsam, dass sich mit dieser Ergebung keiner begnügen kann, auch ich nicht.

Wird es die Heimat interessieren, wie wir hier unsere Tage verbringen? Vielleicht interessiert es wenigstens manchen, wie die Gegend hier aussieht. Ich will versuchen, sie zu beschreiben. Das Städtchen Oita liegt an der Nordostküste der Insel Kyushu, an der sehr weiten Oitabucht, auf einer von sanften Gebirgszügen umgrenzten Ebene. Von unserem Hause aus haben wir nur nach Süden, Westen und Osten freien Ausblick auf eine Ebene von Feldern, auf der einzelne braune Holzhäuser verstreut liegen, sowie auf die grüne Bergkette, die sich von Westen nach Osten um die Ebene zieht. Nach Norden ist uns die Aussicht durch das große Schulgebäude versperrt, das fünfzig Meter hinter unserem Hause steht. Vom ersten Stock unseres Hauses kann man in die Klassenzimmer der japanischen Volksschule sehen, wenn auch an den Schulfenstern aus Brettern eine Art Scheuklappen, die uns den Einblick in die Schulzimmer verwehren sollen, angebracht sind. Stellt man sich bei uns am Fenster auf eine Bank, so kann man die Lehrer und Lehrerinnen und die Kinder beim Unterricht gut beobachten. Die Kinder sitzen recht artig in ihren Bänken; der Lehrer erklärt und schreibt mit Kreide auf die große Schultafel, frägt ab, und die Kinder, die Antwort wissen, melden sich durch Händehochheben. Manchmal leiern die Schüler auch viertelstundenlang irgendetwas herunter, vielleicht das Einmaleins oder ein Gedicht. Der Schulbetrieb erinnert stark an den deutschen. Von dem Städtchen Oita, das westlich von unserem Lager liegt, sieht man nur ein graues Gewirr von Dächern, ohne ein besonderes Merkmal oder Wahrzeichen. Etwa fünf Kilometer nördlich von der Stadt, am Strande der Bucht, liegt der berühmte Badeort Beppu mit seinen heißen Quellen. Besonders an kalten Tagen sieht man den weißen Dampf der Quellen über dem kleinen Badeort aufsteigen.

Dass ich so blutwenig Interessantes von der Gegend zu schreiben weiß, liegt wohl daran, dass sich hier in jede Betrachtung das entmutigende Gefühl der Hoffnungslosigkeit unserer Tage mischt. Immer wieder flüchten die Gedanken in die Heimat, und ich ziehe mich wieder in meine Ecke zurück, zu meinen Büchern.
 

2. Erster langer Ausflug

Oita, 6.12.1916 — Vor einigen Tagen durften wir einen Ausflug ins Gebirge machen, in Gruppenkolonne und unter strenger Bewachung natürlich. Der Marsch ging zunächst durch die Stadt, dann an Gemüse- und Reisfeldern vorbei über die Ebene. Am Fuße der Berggruppe, auf die wir zumarschierten, liegen Kasernen auf einer weiten Rasenfläche, lange, niedere Bauwerke mit schneeweißen Mauern, kleinen Fenstern und grauen Schieferdächern. Auf den Höfen waren die Soldaten beim Bajonettfechten. Die beiden jeweiligen Gegner, mit maskierten Gesichtern und gepolstertem Rüstzeug am Leib, bekämpften sich mit ziemlichem Geschick, jedoch nicht wie deutsche Exerzierende, stumm, sondern mit gegenseitigem Gebrüll, sodass es etwas theatralisch aussah. Die aufsichtshabenden Unteroffiziere gingen anscheinend etwas gelangweilt vor den übenden Gruppen herum. Man sah nicht, dass sich ein Vorgesetzter irgendwie aufregte, hörte auch kein Geschrei der Unteroffiziere oder Offiziere. Im Vorbeigehen konnten wir auch in die Innenräume der japanischen Kasernen sehen. Es scheint dort etwas düster und kahler zu sein als in deutschen Kasernen; man sah keine Betten und Schränke, sondern nur gerollte Decken und graue Kisten am Boden und Gewehrständer in den Gängen. In Revierstuben, Küchen und Gärten trieben sich Kommandierte, Kranke oder Drückeberger herum. Der ganze Kasernenbetrieb erinnert, trotz der fremdrassigen Gesichter, stark an den deutschen. An einem mustergültig angelegten Schießstande kamen wir vorbei. Dort feuerten die Soldaten in Gruppen auf die drehbaren Scheiben, ein wahres Schnellfeuer. Mit den Patronen schien man hier nicht so sparsam umzugehen wie an deutschen Militärschießständen. Es berührte uns seltsam, wieder einmal Japanerkugeln pfeifen zu hören. Wir kannten das von Tsingtau her.

Unser Marsch ging dann bergan, an kleinen Feldern und ärmlichen Gehöften vorüber. Die Landleute machen bei ihrer Arbeit immer einen eigenartigen Eindruck. Man denkt immer an Kinderspiel dabei. Die Felder sind sauber und zierlich, terrassenförmig und in allen Formen an den Hängen angelegt, quadratisch, rechteckig, dreieckig, rund oder oval, wie es die kleinen, am Abhange liegenden, horizontalen Flächen anzulegen gestatten. Bei jedem Felde ist eine mit Reisstroh gedeckte Jauchegrube und ein größerer oder kleinerer Düngerhaufen. Mit Gießkannen und zierlichen Körbchen gehen die ärmlich zu sehenden Männlein und Weiblein fleißig die Felder abgießen und säen. Selten sieht man eine menschliche Behausung auf diesen Abhängen. Es ist eine anheimelnde Landschaft, doch liegt ein widerlicher, scharfer Jauche- und Düngergeruch auf diesen Höhenzügen, die sonst an das Vorgebirge der heimischen Alpen erinnern.

Die Landschaft war schön, aber zum Schwärmen waren wir nicht so leicht zu verführen. Die Hauptsache war, dass man Bewegung hatte nach dem ewigen Faulenzen im Lager. Die Sonne brannte auf Berg und Tal wie zuhause im Juni. Auf schmalem, von Bambusgebüsch beschattetem Wege stapften wir auf dem Höhenrücken entlang. Da und dort am Wege lag, von Gebüschen halb verdeckt, ein kleines Gehöft, von einer Lehmmauer oder einem Bambuszaun umfriedet. Ein Holzhaus, ein paar Bretterhütten dazu, die als Scheune und Stall dienen mochten, ein Strohhaufen, Blumenbeete, auf Matten gehäufte Reiskörner, zum Trocknen ausgelegte Kartoffeln-, Pilz- oder Obstschnitzel am Hofe oder auch auf den niederen Dächern; bunt durcheinander primitive Ackergeräte, Körbe, ärmliche Kinder, Ziegen und Zwergrinder – das ist ungefähr die Aufmachung eines Bauernhofes auf dieser Gebirgsgegend.

Auf breitem Rasenweg stiegen wir weiter bergan, kamen in dunklen, stillen Wald mit uralten Baumriesen, Föhren, deren weit ausgreifende Äste den steilen Weg beschatteten. Gute Luft, Waldesstille war auf dieser Höhe, und wir waren überrascht, als wir plötzlich vor einer breiten, grauen Steintreppe standen und dort oben einen großen, altertümlich anmutenden Schrein (Holztempel) mit rot und weiß gestrichenen Pfeilern und riesigen Torbögen zwischen den braunen Stämmen der Kiefern hervorleuchten sahen. Es wurde Halt befohlen, und wir durften, nachdem die japanischen Posten im weiteren Umkreis verteilt waren, den Tempel und die Umgebung in aufgelösten Gruppen besichtigen. Geheimnisvoll stille Laubgänge waren da um den Tempel. Kirsch- und Birnbäume standen auf dem Platz vor den Eingängen, auch hohe Bambusstangen, an denen lange, weißliche Tücher mit japanischen Schriftzeichen drehten. Den Tempel bilden drei Bauten mit schweren, weit ausladenden Holzdächern, geschwungenen Dachfirsten und reichlichem Schnitzwerk, Blumenmustern, Drachen und Göttergesichtern an den breiten Dachrändern. Obwohl die Bemalung der Schnitzwerke und Balken schon etwas verblasst ist, nimmt sich das Rot, Weiß und Blau an den hölzernen Portaleinfassungen und den Dachverzierungen reichlich grell aus, sodass der riesige Bau äußerlich imposant aussieht, wenn man sich etwas in japanische Art hineindenkt. Auf dem Vorhof vor den stets offenen Eingängen stehen einige kleine Steinsäulen mit steinernem, laternenförmigem Aufsatz, in dem vertrocknete Blumen, wohl irgendeinem Gott geopfert, liegen. Auch einige riesige »Toories», eine Art Ehrenbogen mit dicken, hohen Holzpfeilern und schweren Querbalken, deuten auf die Heiligkeit des Ortes hin. Man findet derartige Toories überall in Japan, vor Ortseingangen, auch vor einzelnen Häusern oder auf freiem Lande an Wegen wie in der Heimat die Feldkreuze.

Das Hauptgebäude des Tempels ist in drei große Hallen geteilt. Wir gingen in die dämmerigen Hallen, in denen an Decken und Wänden viele alte und auch neuere Kriegsgeräte und Waffen hängen, alte mongolische Ritterrüstungen, grünspanige, verbogene Helme von sonderbaren Formen, Speere, Pfeile und Kampfschilde, alles meist verrostet und verstaubt. Auch moderne Artilleriegeschosse, Gewehre und Säbel aus dem russisch-japanischen Kriege fanden wir da – und blanke, stahlblaue Geschosse von deutschen Revolverkanonen, deutsche Ladestreifen und Patronen, Maschinengewehrteile und Patronengurte, Tsingtauer Beute. Zwischen diesen interessanten Stücken hingen wieder Bilder von Kriegsgöttern, mongolischen Kampfszenen, alte verblasste Papiere mit schlechtem Bilddruck, auch viele Photographien, Gruppenbilder von japanischen Regimentern und Kompagnien, die sich hier wohl einen Ehrenplatz im russisch-japanischen oder chinesisch-japanischen Kriege verdient hatten. In einer besonderen Ecke war ein großes Bild des General Nogi, des berühmten Armeeführers im russisch-japanischen Kriege, aufgestellt.

Am Ende des Mittelganges ist ein Holzgitter aus feinen braunen Stäben, hinter dem eine große, mit kunstvollen Schnörkeln versehene Vase aus naturfarbenem, braunem Holz steht. Über der Vase steht, scheinbar freischwebend, eine große, mattglänzende Metallscheibe, vermutlich das Allerheiligste, die japanische Sonne, darstellend. In der Nähe in einem Nebengang hängt von der Decke, fast den Boden berührend, eine mit weißem Fell bespannte Trommel von der Größe und Form eines Hektoliterfasses. Als wir langsam vorbeischlenderten, trat aus einem Tempelgemach ein altes, kahlköpfiges Männlein mit weißem Vollbart, Strohschuhen und grauem Kimono, sah uns mit geradezu fürchterlichem Ernste an, griff nach einem neben der Trommel hängenden Holzknüppel und schlug, den Blick immer starr auf uns gerichtet, lange auf die Trommel ein, die dumpf und seltsam brummend klang. Wir waren still, wie von irgendeinem fremden Geiste gebannt, der uns zwang, ihn still zu verehren, wenn wir ihn auch nicht verstanden. Auf dem blanken Mattenboden, vor dem genannten Gitter, knieten einige Japaner mit tief geneigten Köpfen. Sie achteten nicht auf uns, als wir still uns vorbeidrückten. Es wunderte uns übrigens, dass man uns in den jedenfalls dem Japaner heiligen Hallen so frei herumlaufen ließ. Nun, jeder von uns verhielt sich still und gewissermaßen andächtig und bemühte sich, heilige Gefühle der Japaner nicht zu verletzen.

Nach etwa einstündigem Aufenthalte im Tempel traten wir den Rückmarsch an. Zwei japanische Photographen hatten uns im Tempel und den Höfen, von allen Seiten wohl, geknipst. Auf dem Rückmarsche ging es auf anderen Wegen wieder durch Naturwildnis, bald weiter bergauf, bald steil in Schluchten hinab, sodass wir sehr müde wurden. Mein Nebenmann Gersdorf sagte mit Galgenhumor schließlich: »Ich freue mich immer, wenn's bergauf geht, denn dann geht es auch wieder mal bergab.« Typische Gefangenenlogik. Zwischen dichtem Bambusgebüsch kamen wir im Abstieg zu unserer Verwunderung auf einen gepflasterten, schmalen Weg, der, einige hundert Meter lang, in der Wildnis plötzlich zu Ende war. Selbst die Japaner kannten sich da nicht mehr aus, und es wurde »Kehrt!« befohlen. Da kam ein japanisches Bäuerlein mit einem bepackten Muli, lächelte und winkte, und wir marschierten ihm nach, kamen in eine schmale, lange Schlucht, auf deren Grunde wir, wie in einem ausgetrockneten Graben, einen langen gewundenen Weg gingen. Endlich hatten wir dann Ausblick auf die Oitabucht.

Noch einmal ging es bergan, auf schönen, teilweise gepflasterten Wegen. Am Gipfel eines mäßig hohen Berges, unter Föhren, machten wir Halt. Ein luftiges, leeres Sommerhäuschen, aus Baumästen reizend zusammengestellt, mit großem Dach aus Baumrinde, lockte da am Gipfel zum Ausruhen. Was Platz hatte, trat ein. Man hatte hier einen wunderbaren Ausblick nach Osten auf das Städtchen Oita und das ebene Tiefland an der See, nach Süden auf die grüne Gebirgskette, aus deren gleichmäßigen Gipfelzügen zwei braune, wohl über tausend Meter hohe Kegel auffällig emporragen, nach Norden auf die nach der See hin abfallenden Hänge, die wie Kulissen sich am Strande entlang vorschieben. Zu Füßen der Hänge sind in bläulichem Dunste die Ortschaften Nishi-Oita und Beppu erkennbar sowie einige kleine Dörfer, die in der Ferne ganz reizend aussehen. Auf der weiten, blauen See träumen am Horizonte ein paar kleine Inseln.

Nach kurzer Rast stiegen wir zu Tal. Da begegneten wir einem Zivilistenpaar, Europäern, einem Herrn und einer Dame. Beide nahmen in dem Sommerhäuschen, dass wir verlassen hatten, Platz, und die Dame, eine schlanke Brünette in weißem Kleide, winkte uns lange zu. Ein unerhörtes Ereignis für uns. Alles blickte lange noch zu dem Sommerhäuschen empor, und einige nicht gerade salonfähige Witze wurden bei uns laut. Unten auf der schönen Landstraße angelangt, ging es unter fröhlichen Wanderliedern Oita zu. Es herrschte eine drückende Hitze. Als wir an dem unweit unseres Lagers gelegenen Gebäude der Töchterschule vorbeikamen, streckten die Schülerinnen neugierig die Köpfe aus den Fenstern und lachten und erzählten sich wohl zutreffende, niedliche Witze über unsere sehnsüchtigen Blicke, die wir hinaufsandten. – Im Lager angekommen, wurden die Protestanten sofort zum Gottesdienste geschickt, da während unseres Ausfluges ein Pastor ins Lager gekommen war. Ich ging, obwohl Katholik, auch mit zum Gottesdienste, um ja keine Abwechselung zu versäumen, wenn ich auch hundemüde war.
 

3. Nachrichten, Predigten, Propaganda

Oita, 14.12.1916 — Gestern abends wurde ich, während ich am Hofe rauchend spazieren ging, von zwei Posten plötzlich angehalten und nach dem japanischen Wachlokale gezerrt, da mir der heftige Wind die Glut der Zigarette weggeweht hatte, dass es einen großen Funkenregen um mich gab – und die Posten glaubten, ich hätte die brennende Zigarette weggeworfen. Glücklicherweise hatte ich den Zigarettenstummel noch in der Hand, und der Wachhabende entließ mich lächelnd wieder, nachdem ich ihm den Fall durch Zeichensprache erklärt hatte. – Viel Erfreuliches vom Kriege. Rumänien ist bis hinter Bukarest »gesäubert«. Sämtliche Truppen von Mackensen sind über die Donau. Auch Friedensdepeschen gehen wieder im Lager um. – Weihnachten naht wieder. Ich denke jetzt schon mit seltsamer Verbitterung daran, denke das Fest nach Möglichkeit zu ignorieren, gerade als wäre die Gefühlsduselei, die solche Feste feiert, daran schuld, dass wir jetzt noch ebensowenig Aussicht auf ein Kriegsende haben wie vor einem Jahre.

Oita, 9.1.1917 — Heute kam Heimatspost vom September und Oktober, aber für mich war nichts dabei, Die Weihnachts- und Neujahrs-»Feierlichkeiten« waren wie vor einem Jahre. Nicht schöner und nicht trauriger. Sie wurden wie irgendeine notwendige Formalität erledigt. Wir waren nicht in gehobener und nicht einmal in verzweifelter Stimmung dabei, sondern ziemlich stumpfsinnig. – Deutsche Zeitungen vom Oktober 1916 schrieben von erhöhter Tätigkeit unserer U-Boote und äußerster Not in England. Aus einer japanischen Zeitung neuesten Datums übersetzte ein Reservist heute einen Artikel, in dem behauptet wird, dass Deutschland in sechs Monaten ausgehungert sein wird und den Krieg verloren habe. Wir versuchten über die Prophezeihung zu lachen.

Oita, 10.1.1917 — Ich habe viele Heimatszeitungen vom Oktober und November in den letzten Tagen gelesen und viel auch aus englischen und japanischen Zeitungen vom Kriege gehört. Es ist seltsam, dass bei Freund und Feind immer soviel von der Schuld am Kriege und verhältnismäßig wenig von den Friedensmöglichkeiten beschrieben wird. Von allen Staatsmännern scheint es nur Präsident Wilson zu sein, der am klarsten die Situation überschaut. Er mahnt dringend, die Friedensmöglichkeiten klar zu erörtern, ehe es zu spät ist, ehe die Völker sich in die Verzweiflung stürzen, aus der es keine Erholung mehr gibt. Er mahnt, die Gefühle zu löschen, die ein williges Zusammenarbeiten der Völker noch immer verhindern. Er meint wohl die Hassgefühle und die Eroberungssucht auf beiden Seiten. Leider scheint seine Mahnung schon zu spät zu kommen.

Oita, 11.1.1917 — Die ostasiatischen Zeitungen schreiben viel von einem deutschen Friedensangebot und dass die Alliierten dieses abgelehnt hätten. England will nach Beantwortung der Note Wilsons eine Erklärung der Kriegsziele Englands abgeben. Man sieht hier voraus, dass Englands Bedingungen derart hochmütig sein werden, dass Wilson weiter nicht seine Perlen unter die Säue werfen wird und – dass Deutschland weiterkämpfen muss.

Oita, 15.1.1917 — Da haben wir es: Der Kaiser sagt in einem Erlass: »Ich muss weiterkämpfen. Soldaten, werdet wie Stahl!« Wenn das nicht verzweifelt klingt...! Die Engländer machen jetzt eine große Kriegsanleihe und nächstens wohl auch eine große Offensive an der Westfront.

Oita, 17.1.1917 — Heute früh suchte der japanische Feldwebel im Saale nach Leuten, die etwa feste Schuhe (Holz- oder Lederschuhe) trugen. Wir dürfen im Hause nur Hausschuhe, Strohschuhe oder ähnliche leichte Fußbekleidung tragen. Der Feldwebel stellte einige Leute wegen des Tragens von Schuhen zur Rede und wollte sie zum Offizier vom Dienst schleppen. Aber sie gingen nicht mit, worauf der Feldwebel wütend verschwand. Kurz darauf kam der japanische Oberleutnant mit einem Bambusstock, aber da waren die schweren Schuhe schon verschwunden.

Oita, 19.1.1917 — Gestern war im Saale Gottesdienst, abgehalten von einem evangelischen Pfarrer, den wir von früheren Gottesdiensten her schon als guten Prediger kannten. Da ich katholisch bin, wohnte ich, wie meine Glaubensgenossen, dem Gottesdienste im Hintergrunde bei. Der Pfarrer sagt in seiner Predigt folgendes: »Aus tiefer Not schrei ich zu dir!« Durch alle Menschen gehe ein Sehnen nach Wahrheit und Erkenntnis. Bedeutende Dichter und Philosophen haben hinter die Leiden und Freuden des Lebens geschaut, haben einen Sinn dahinter gesucht, und der eine hat das Leben schön, der andere höchst traurig gefunden. Ein Schopenhauer habe in der Erkenntnis, dass es wenige gute Menschen gäbe, das Leben verneint. Ein Goethe habe selbst die beste Seele als der niedrigsten, schlechtesten Triebe fähig gefunden. Früher stellten die Dichter durch Ausschmückung der Wahrheit das Leben als schön und gemütlich dar, aber man merkte, das Geschriebene war nicht mehr Wahrheit. Eine neue Zelt kam. Man schilderte die Wirklichkeit, die Alltäglichkeit, und bald genügte uns auch dies nicht mehr. Wir tappten im Dunkeln. Ein Gottesgericht musste kommen, um uns wieder umzubilden, um uns den einzig richtigen Weg zu weisen. Luther hat uns gelehrt, alle Heuchelei beiseite zu stellen und sich nur an die Bibel zu halten. Solange wir auf der Suche nach Wahrheit anderen Zielen nachjagen, als die Bibel uns vorschreibt, müssen wir unter dem Gottesgerichte seufzen. Auch jetzt haben wir ein fürchterliches Gericht über uns. Wenn wir die Meinungen der Völker prüfen, müssen wir sehen, dass keine Erkenntnis der Wahrheit in den Nationen besteht. Wenn wir die Blüte der Menschheit auf dem Schlachtfelde dahinwelken sehen, so fühlen wir das Gottesgericht, das uns zwingt, zu der Wahrheit der Bibel zurückzukehren, zu rufen; »Aus tiefer Not schrei ich zu dir!« – Also nur ein Gott kann uns noch retten, sagten wir uns nach dieser Predigt, die uns im Übrigen genau so dunkel und zweifelhaft schien, wie unsere Stimmung ist.

Oita, 21.1.1917 — Heute kam ich einmal mit einem japanischen Posten allein zu einem Gang aus dem Lager. Ich hatte einem Kameraden, der im Krankenhaus ist, Essen und Kleidungsstücke zu bringen. Es war für mich ein schöner Spaziergang, etwa eine Stunde Weges. Der Posten, ein kleiner, dicker Mann, mit Gewehr natürlich, furchtbar ernster Miene und jugendlichem Aussehen, hielt sich strenge an seine Instruktion, ging aufmerksam und dicht neben mir her und ließ sich in kein Gespräch mit mir ein; weder durch Zeichen noch durch die japanischen oder englischen Brocken, die ich ihm sagte, ließ er sich reizen. So stapften wir, einander etwas misstrauisch beobachtend, meist stumm dahin über die sonnige Ebene der Reisfelder nach der Vorstadt von Oita, wo das Krankenhaus liegt. Meinen Kameraden Busch, der sich durch einen Unfall beim Turnen am Kopf verletzt hatte, traf ich in bester Stimmung im Krankenhause, durfte aber nur einige Minuten bei ihm bleiben, Auf dem Rückwege zum Lager begegneten uns zwei Amerikanerinnen auf Fahrrädern. Ich kannte die beiden noch von unserer Weihnachtsfeier her, die wir in der Kirche der amerikanischen Mission 1916 erlebten. Die beiden Damen mit ihren Rädern fuhren dicht und langsam an mir vorüber, und ich grüßte sie mit »Guten Tag«, worauf sie lächelnd etwas von »I wish you happy ...« sagten. Schon fauchte mich der Posten an, und ich begnügte mich, den Damen noch kurz zuzuwinken. Welches Ereignis, von europäischen weißen Damen hier beachtet zu werden und ein Wort mit ihnen wechseln zu können!

Oita, 6.2.1917 — Es kamen Nachrichten: Der Hafen von New York ist gesperrt. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika sind abgebrochen. Graf Bernstorff hat seine Pässe erhalten; er hat gesagt, England müsse sich infolge der deutschen U-Bootsblockade innerhalb eines Monats unterwerfen. Es ist uns im Allgemeinen längst klar, dass Amerika uns nicht zum Siege helfen will. Angeblich ein neutraler Staatsmann berichtet in London, der deutsche Kaiser wolle dem Throne entsagen, wenn er damit Deutschland retten könne. Der Neutrale mit seinem Berichte scheint unserer Sache einen schlechten Dienst zu leisten.

Oita, 11.2.1917 — Von meinem Kameraden Busch, der wieder aus dem Krankenhause zurück ist, erhielt ich einige Hefte der französischen Zeitschrift »Je mais tout« vom Herbst 1916, also ziemlich neu. Ich habe hier schon soviel Französisch gelernt, dass ich die Zeitschrift ohne große Anstrengung lesen und verstehen konnte. Da war ein Artikel betitelt: Energie françcaise, in dem erzählt wird, wie sich die französische Energie seit Jahrhunderten schon bewährt habe. Es wird die Harmlosigkeit dieser Energie illustriert: Ein vor Verdun auf Posten stehender Poilu träumt von der Schönheit seines Vaterlandes; die Sonne sinkt, der Mond leuchtet über dem Teiche. »Der Abend hat uns dieses Dorf genommen, der Morgen wird es uns wieder bringen, denn unsere Leute kämpfen für ihr Vaterland. Wie schön ist dieses Land. Es gibt auch eine deutsche Energie, oh ja, sie konzentriert sich nicht auf die Schönheit und das Wohlergehen des Landes; sie ist wohl entwickelt in ihren Wissenschaften, in Technik, Physik usw. Aber die Deutschen missbrauchen ihre Energie, um die friedlichen Nachbarstaaten zu überfallen und zu berauben. Helas! Wir haben sie gefühlt, die deutsche Energie. Im französischen Rotbuch ist festgestellt, dass die Barbaren in diesem Kriege französische Kinder in Gegenwart ihrer Eltern gemordet haben.« So arbeiten die französischen Aufklärer und Hetzer. Ein Titelbild zeigt, wie riesige deutsche Landsturmmänner mit Vollbärten und höhnischen Gesichtern die Gewehre auf einen weinenden Knaben richten. Rührend ist das Bild für den, der nicht sieht, dass es nur ein Hetzbild, eine Lüge ist.

Sehr gut für französische Propaganda geschrieben fand ich auch einen Artikel, betitelt: Compte de Noel (Weihnachtsrechnung). Hier heißt es: Die Steigung der Geburtsziffern sei der sehnlichste Wunsch jedes Franzosen. Ein deutscher Gelehrter habe prophezeit, die französische Nation werde aussterben. Das sei auch der Wunsch der deutschen Wölfe. Die fünf Kinder des Michels werden »l'enfant unique« auffressen. Ein Volk, dessen Frauen die Mutterschaft und dessen Männer den Krieg fürchten, ist verloren! Frankreich habe gezeigt, dass es den Krieg fürchte. Dennoch wird der Untergang kommen, wenn die Familien »ne font pas des enfants ou si m'en font assez«. Vor dem Kriege waren es der kinderlosen Familien soundso viele Hunderttausende, nach dem Kriege werden es so viele Millionen sein. Der Staat müsse die Kinder aufziehen helfen. Die kinderreichen Familien müssten ausgezeichnet werden. Man solle sich der Worte Napoleons I. erinnern, der nach einer verlustreichen Schlacht, über das Schlachtfeld reitend und die Toten sehend, sagte: »Eine Nacht von Paris wird alles dies wieder gut machen.« Darum sollen alle Franzosen darauf trachten, dem Vaterlande zu Weihnachten als Geschenk das schönste Gut zu bringen: des enfants nombreux et sains. Ein anderer Aufsatz wirbt um die Freundschaft und Hilfe Amerikas. Ein Titelbild dazu zeigt, wie die »Americana« von der Britannia und Marianne mit Kniebeugen umhuldigt wird. Die Unterschrift sagt: Sie habe wohl Ohren, aber sie hört uns nicht.

Oita, 14.2.1917 — Die Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika sind abgebrochen. Wir haben die Nachricht von sicherer Quelle, schwarz auf weiß. Die Hoffnung sinkt immer mehr, selbst unsere Postverbindung mit der Heimat wird durch die Haltung Amerikas länger als sonst unterbrochen werden.

Oita, 17.2.1917 — China hat wegen der U-Bootsblockade eine Note an Deutschland gerichtet. Die feindliche ostasiatische Presse hetzt zur Zeit besonders heftig gegen Deutschland und hofft wohl dadurch die Wirkung der chinesischen Note zu verstärken. Die Russen scheinen vom Kriege genug zu haben. Man meldet Unruhen in der russischen Armee und Flotte. Das lässt unsere Hoffnung nun wieder aufleben.

Oita, 23.2.1917 — Aus unserem früheren Lager Fukuoka erhielten wir die Nachricht, dass die Gattin unseres Kompagnieführers, des Kapitänleutnants v. Saldern, in ihrem Landhause bei Fukuoka ermordet worden sei. Die gute Frau, die jung und nett war, und unser Kapitänleutnant tun uns allen aufrichtig leid. Sie hatte die Erlaubnis, ihren Gatten jede Woche für einige Stunden in seinem Lager zu besuchen. Sie soll einem Raubmord zum Opfer gefallen sein. Kommt also auch in Japan vor.

Oita, 4.3.1917 — In einer Münchener Zeitung las ich, dass Prinz Heinrich von Bayern bei einem Angriff auf einen rumänischen Pass gefallen sei. Des Prinzen letzte Worte sollen gewesen sein: »Noblesse oblige.«

Oita, 5.3.1917 — Kapitänleutnant v. Saldern hat sich im Lager in Fukuoka erhängt. Er ging, wie uns mitgeteilt wurde, seit dem Tode seiner Frau, vollständig gebrochen an Leib und Gemüt, wie irre im Lager herum, immer möglichst allein. Kein Trost und kein Versuch seiner Kameraden, ihm irgendwie über das Unglück hinweg zu helfen, konnte ihn abhalten, seiner Gattin in den Tod zu folgen. Er muss mit seiner Frau sehr glücklich gewesen sein!

Oita, 12.3.1917 — Heute wurden japanische Schulkinder durch das Lager geführt. Die Lehrer und ein japanischer Sergeant zeigten den Kindern alles Schöne bei uns und hielten ihnen kurze Vorträge, wohl über die Sitten und Gebräuche der »Doitsu«-Gefangenen. – Vor einer Woche hatten wir einen Auflug nach dem Ahorntempel machen dürfen. Der Tempel liegt im nahen Gebirge und ist sehr schön, wenn auch nicht so groß wie jener, den wir früher in der Gegend besuchten. Am Vorhofe blühten schon einige Bäume, weiß und rot, obwohl es noch ziemlich kalt war. – Vom Kriege hörten wir von großen Truppenverschiebungen an der Ostfront und großen U-Boots-Erfolgen. Zwischen Suez und Colombo sollen deutsche »Schiffsjäger« arbeiten, 4000-Tonnen-Schiffe mit Geschützen und Torpedos, von der Art kleiner Kreuzer also.3 – Graf Zeppelin ist gestorben.

Oita, 17.3.1917 — China hat die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland abgebrochen. Wir fragen uns, was sich China von diesem Schritte verspricht. – Hindenburg und Ludendorff sind an der Westfront, wo in nächster Zeit eine große deutsche Offensive (Ziel Calais) beginnen soll. – Ernste Unruhen in Russland werden gemeldet. Der Zar soll abgedankt, [Großfürst] Nikolajewitsch die Regierung übernommen haben. – Die deutschen Banken in China sind nach Abbruch der Beziehungen zwischen Deutschland und China geschlossen worden. Unsere »Master« im Lager fürchten nun, dass die Geldüberweisungen aus China ausbleiben.

Oita, 18.3.1917 — Neue Meldungen von Unruhen in Moskau und Petersburg. Regierungsgebäude von Aufständischen belagert, zum Teile zerstört. 30.000 Mann von der Armee zu den Rebellen übergetreten. Newabrücke gesprengt. Mehr als die Hälfte von den Meldungen von der russischen Zensur unterdrückt. – Zur Zeit lese ich zufällig Lassalle: Ein Leben für Freiheit und Liebe. – Wir glauben nun, nachdem die Russen daheim alles anscheinend auf den Kopf stellen, dass der Friede nahe ist. Reuter meldet allerdings unverfroren: Die Revolutionspartei in Russland hat die Überhand. Sie will durch den Sturz der alten Regierung und durch die Erklärung der Republik den Weg bereiten, um den Krieg bis zum Siege der Entente durchführen zu können. Soll man nicht lachen über die patriotischen Russen, wie sie Reuter darstellt!

Oita, 24.3.1917 — Während wir heute am Hofe beim Turnen waren, brachte unser Feldwebel vom Büro die Reutermeldung: In Deutschland ist Revolution. Große, noch wachsende Unruhen sollen in Deutschland herrschen. Der Abgeordnete Scheidemann sagte angeblich im Reichstage, das Volk sei mit den Versprechungen der Regierung, es solle nach dem Kriege größere Freiheit bekommen, nicht mehr zufrieden; in allen Ländern herrsche eine Volksregierung, nur in Deutschland klebe man noch am alten System. Wir glauben, dass die gemeldeten Unruhen nichts weiter sind als eine heftige Debatte im Reichstage.

Oita,26.3.1917 — Die Deutschen haben Bapaume und Peronne nach Plan geräumt. Die deutsche Presse nennt es einen glänzend ausgeführten strategischen Rückzug. Die Engländer melden, die Deutschen werden am 5. April an der Westfront eine große Offensive beginnen. Eine japanische Meldung sagt, in den chinesischen Gewässern sei ein deutsches U-Boot aufgetaucht (U 63 oder U 69). Es kreuze schon seit längerer Zeit im Indischen und im Stillen Ozean.

Oita,27.3.1917 — Präsident Wilson will binnen 48 Stunden an Deutschland den Krieg erklären. Amerika soll 76.000 Mann Marinetruppen mobilisiert haben. Reuter meldet, in Hamburg hätten hungernde und rebellierende Volksmassen anstatt Brot Blei bekommen, nach Hamburg und Berlin seien Truppen von der Kampffront zur Aufrechterhaltung der Ruhe abkommandiert worden.

Oita, 1.4.1917 — Warum erklärt sich Deutschland wieder so auffällig bereit, mit den Feinden in Friedensverhandlungen einzutreten?

Oita,7.4.1917 — Morgen ist das Osterfest. Es regnet und Nebel liegt über den Bergen. Die Wälder, Gärten und Felder leuchten frischgrün. Die Hühner auf unserem Lagerhofe machen morgens schon einen Heidenlärm und erinnern damit stark an heimatliches Dorfleben.

Oita,8.4.1917 — Ostersonntag Nachmittag. Im Lager ist nicht die geringste Feststimmung zu bemerken. Mein Freund Gersdorf besucht mich in meiner Ecke, wo ich trübselig vor meinem Tagebuch und meinen Büchern sitze. Er sagt: »Man möchte am liebsten über die Latten [den Lattenzaun] gehen, über die Reisfelder laufen, immer geradeaus, gleichgültig wohin...« Wir sehen zum Fenster hinaus. Am Hofe gehen die Kameraden spazieren, zu zweien und dreien, auch einzelne, immer die zweihundert Meter hin und wieder zurück, von der westlichen Bretterwand zur östlichen und zurück. An den Ecken stehen die Posten und sehen gelangweilt zu. Herrlicher Sonnenschein. – Gestern abends in der Dunkelheit waren auf den umliegenden Gebirgsrücken lange rötliche Lichterreihen zu sehen. Der Reservist Plätzschke, ein alter Ostasiat, sagte uns, es sei die japanische Neujahrsfeier auf den Bergen. Nach der alten japanischen Zeitrechnung werde um diese Zeit das Neujahr gefeiert.

Oita, 9.4.1917 — Von morgens 10 bis 12 Uhr machten wir einen Spaziergang über die Ebene, unter Begleitung der Posten selbstverständlich. Wir besichtigten dabei auch wieder einen alten Holztempel. Es war ein sauberer Rasenplatz mit wundervoll rötlich blühenden Zwergbäumen um den Tempel, vor dessen Eingängen steinerne und holzgeschnitzte Drachen und andere fabelhafte Tiere stehen. Eine alte, so verwittert wie der Holzbau aussehende Japanerin in grauem Kimono und mit altem Pelzkragen ging aus dem Tempel. Der Alten hatte anscheinend das fremde Volk, in das sie unvermutet geraten war, den Kopf verwirrt, denn sie ging, obwohl keiner von uns besonders auf sie achtete, mit stets abgewandtem Gesicht kreuz und quer, bald die Schritte beschleunigend, bald wieder stehenbleibend, als suchte sie einen Ausweg oder Schutz vor uns. Die alten Weiber in unserer Heimat stellen sich oft ähnlich ungeschickt an, konstatierten wir. Im Übrigen sind die japanischen Damen Fremden gegenüber immer auffallend schüchtern und zurückhaltend. Nach kurzer Rast vor dem Tempel traten wir den Rückweg an. Die Sonne schien warm über der Ebene, aus deren grünen Büschen graue Dächer, runde, gelbe Kegel von Reisstrohhaufen, einzelne Palmen und hohe Ziehbrunnenarme hervorlugen. Über eine lange, leichte Holzbrücke kamen wir, die ein breites, großenteils ausgetrocknetes Flussbett überquert. Mehrere vielfach geteilte Wasserarme führt das breite Bett, an dessen Ufern üppiges Gebüsch wuchert. Weit im Norden, flussabwärts, verliert sich das Flussbett mit seinen schmalen, silbernen Wasseradern in die blaue See.

Oita, 26.4.1917 — Mit Russland wird es nun wohl bald Frieden geben. Aber dafür hat nun Amerika in den Krieg eingegriffen. Wir sind seitdem nun ganz auf Reutertelegramme und japanische Nachrichten aus dem Kriege angewiesen.
 

4. Sportfest und Ausflug ans Meer

Oita, 24.5.1917 — In den letzten Wochen bin ich wenig dazu gekommen, in das Tagebuch Eintragungen zu machen. Auch meine Literaturstudien habe ich vernachlässigt. Was schadet es! Die täglichen Turnstunden und die Gesamtfreiübungen, die wir zu Pfingsten im Lager, auch den Japanern, vorführen wollen, haben vorläufig bei uns Turnern den Vorzug vor allen anderen Tätigkeiten. Abgesehen von den gesundheitlichen Vorteilen dieser Uebungen stärkt die Turnerei das in öder Alltäglichkeit manchmal fadenscheinig gewordene Band der Kameradschaft. Es ist trotzdem noch trostlos genug hier. Ein Turnkamerad, den ich trotz seiner Berliner Schnauze gut leiden kann, weil er humorvoll, nicht stolz ist und immer den Nagel auf den Kopf trifft, sagte mir neulich, als wir wieder mal genug geturnt hatten und uns mal auch wieder über Anderes unterhalten wollten: »Nur nicht mehr lange denken! Lieber schlafen, faulenzen, Blödsinn treiben, wenn möglich sich besaufen, wie die Lagertrottel, die in den Tag hineinleben. Die sind am gesündesten. Was haben Studien und geistige Anstrengungen noch für einen Zweck? Wir kommen noch lange nicht heraus hier. Und wenn wir wirklich bald herauskommen sollten, hat es erst recht keinen Sinn, sich noch anzustrengen mit Studien in Büchern, die nach dem Kriege alle veraltet sein werden. Wir werden blödsinnig sein, wenn wir uns den Kopf hier vollpfropfen. Jetzt kommt noch dazu die heiße Zeit, da wird man ohnehin nervös und gereizt. Wie die Tiere werden wir, die nur fressen, schlafen, glotzen und nur das tun, wozu sie der Instinkt oder ein höheres Tier zwingt...« – Ich habe schon längst keine Post mehr von der Heimat bekommen und habe eine Erbitterung gegen den Dolmetscher, weiß nicht, wie ich zu der fixen Idee komme, dass er meine Post wegwirft. – Aus den Zeitungsnachrichten finden wir das eine klar, dass den Mittelmächten mehr daran gelegen wäre, zu einem baldigen Frieden zu kommen, als den Alliierten, die in ihren Meldungen über die Kriegslage in letzter Zeit besonders hochmütig sind. Es scheint überhaupt, dass Deutschland nur noch von den U-Booten den Sieg erhofft.

Oita, 2.5.1917 — Pfingstsonntag. Schöner, klarblauer Himmel. Es ist schon ziemlich schwül. Vormittags Turnen an Reck und Barren. Nachmittags Hauptprobe für die Massenfreiübungen. Morgen werden wir das Schauturnen abhalten. Wie wir hören, werden viele Japaner als Zuschauer kommen. Abends wird von den Künstlern des Lagers ein Theaterstück aufgeführt (»Die Mitschuldigen«, Lustspiel von Goethe).

Oita, 29.5.1917 — Gestern war der »große Tag«, an dem wir unsere Künste vor der Öffentlichkeit zeigen konnten. Der Beginn des Schauturnens war für nachmittags 3 Uhr festgesetzt. Schon vormittags entwickelte sich ein ungewohnter Betrieb, als wäre Wunder was zu erwarten. Wir haben ja gewiss erstklassige Turner unter uns, die nicht einmal viel Wesens von sich machen. Im Übrigen zeigte es sich, dass wir in unseren bescheidenen Verhältnissen noch ein Fest zu feiern wußten. Im Hof wurden zwischen den Pappeln bunte Papiergirlanden und Lampions aufgehängt, vor dem Mittelportal des Hauses die Bühne für die abendliche Vorstellung aufgebaut, ein großes Viereck für die Vorführungen der Turner durch Leinen abgegrenzt. Nach dem Mittagessen warfen sich die Turner in Turndress, kurze weiße Hose, Gürtel und Trikot, schwarze Strümpfe und braune Segeltuchschuhe, alles wunderbar gleichmäßig. Die übrigen Gefangenen zogen ihre besten Klamotten an, einige »Master« Zivil, die aktiven ihre Matrosen- oder Seebataillonuniform. Bald kamen dann die ersten Zuschauer, unsere Offiziere mit ihren Burschen. Aus der japanischen Schule wurden Bänke geholt.

Es fanden sich dann auch die Japaner ein, Studenten mit ihren grauen, steifen Mädchenröcken oder auch in europäischer Modetracht, Beamte in ihren Uniformen, Geschäftsleute, Zeitungsmenschen und sonstige bessere Bürger von Oita. Niedere Volkstypen hatten anscheinend keinen Zutritt. Man sah nur besseres Volk in japanischer oder europäischer Tracht. Einige hundert Schulkinder unter Führung ihrer Lehrer kamen sowie auffallend viele Offiziere und Unteroffiziere des hier in Garnison liegenden 72. Infanterieregiments und auch viele Mannschaften. Der japanische Lagerkommandant mit seinem Stab bekam einen Ehrenplatz vor dem Turnfelde angewiesen, Die einzelnen Zuschauergruppen, Bürger, Studenten, Schulkinder, Unteroffiziere und Offiziere, hielten sich beisammen und schienen strenge darauf zu achten, dass sie nicht durcheinander kamen. Alles hatte höchst gespannte Mienen. Kurz vor 2 Uhr, als einige Gefangene noch von den Fenstern des ersten Stockes auf den Platz herunter sahen, machte unser Feldwebel einen japanischen Befehl bekannt: »Die Gefangenen sollen sich nur am Hofe oder an den Fenstern des Erdgeschosses aufstellen, aus den Fenstern des ersten Stockes darf niemand herabsehen, denn es verstößt gegen die japanische Sitte, wenn Niederstehende (Untergebene) auf Höherstehende (Vorgesetzte) herabsehen.« Wir lachten über den Befehl, denn das war uns bisher unbekannt gewesen, dass man nicht auf Höhere herabsehen sollte. Die Zuschauer im ersten Stock zogen sich zurück.

Punkt 3 Uhr begann der Aufmarsch der Turner. Er ging nach Art einer Polonaise vor sich und klappte großartig. Die Kapelle auf der Bühne spielte dazu den Hohenfriedberger Marsch. Dann zeigte unsere Musterriege ihre Kunststücke an den Turngeräten, wobei die Riesenwelle und die Hochsprünge sowie die verschiedenen Pyramiden besonders großen Beifall von den Japanern fanden. Auch unsere Kraftmenschen erregten im Gewichtestemmen großes Aufsehen. Zuletzt kamen die Massenfreiübungen, die ich auch mitmachte. Auch sie klappten gut. Schließlich machten zwei Kameraäen, Fatz und Betz, noch als dumme Auguste verkleidet humoristische Turnkunststücke vor. Unter dem Lied »Turner auf zum Streite« marschierten wir dann vom Schauplatze ab. Der Beifall, Bravo und Händeklatschen wollte kein Ende nehmen. Wir wunderten uns nicht, dass alles so gut geklappt hatte, und schrieben den Erfolg unserer Hurtigkeit zu, die wir uns schon angeeignet hatten. – Abends zu dem Goetheschen Lustspiel kamen wieder sehr viele Japaner. Es wurde sehr gut gespielt, und den Japanern hatte es anscheinend auch gefallen, wenn sie es wohl auch nicht verstanden hatten.

In der heutigen japanischen Zeitung stand denn auch schon ein Bericht über die Vorführungen der Turner. Der Reservist Musfeld übersetzte uns den Artikel aus der japanischen Zeitung: »Sport ist das halbe Leben der Gefangenen. Japan lebt in der Zeit des Studiums, und es fällt keinem Japaner ein, nach der Schulzeit noch Sport zu treiben. Man ist bei uns noch geneigt, den Sport gering zu achten, aber die Gefangenen treten mit 40, ja mit 50 Jahren noch zu Sportspielen an. Daher sind sie auch in guter körperlicher Verfassung, und mit Neid bewundert man ihre Leistungen. Die Vorführungen am Reck, Barren und Pferd erregten großes Aufsehen, besonders aber das Turnen der Musterriege war bewundernswert. Die Riege besteht aus lauter Riesen, fast jeder 25 bis 30 Kwamme schwer (1 Kwamme = ca 3,7 kg). Sie leisteten Vortreffliches, machten sogar den Riesenschwung am Reck. Die anwesenden Schüler und Soldaten der Garnison spendeten Beifall bis zur Ermüdung. Die Riege besteht aus Körpern wie von Eisen; sie bogen sich wie die Halme im Sommer, Am meisten aber bewunderte man die Vorführungen mit den Hanteln. Gewichte von 20 Kwamme wurden geschultert und acht- oder neunmal gedrückt. Solche Leistungen sind wirklich staunenswert. Die Freiübungen wurden schön gleichmäßig und ohne Fehler vorgeführt. Zum Schluss traten noch zwei als Clowns verkleidete Turner auf, die durch ihre Späße große Heiterkeit erregten.« Abends nach dem Theater gab es Freibier. Ich glaube, das ganze Lager war an dem Abend etwas besoffen. Heute ist alles noch ziemlich lustig. So ein Fest, mit etwas Leichtsinn gemischt, lässt einen wieder aufleben.

Oita, 10.6.1917 — Sonntag. Es ist sehr schwüle Luft bei heiterem Himmel. Die letzten Tage schon war drückende Schwüle vorherrschend. Es beginnt die Regenzeit. Das Städtchen Oita scheint den sonnigen Sonntag zu feiern, Man sieht niemanden auf den Feldern und an den Neubauten in der Nähe des Lagers arbeiten. Die Buchweizenfelder nehmen schon eine gelbliche Färbung an. Auf den sauberen Feldstraßen in der Nähe der Stadt sieht man Spaziergänger wandeln, meist japanische Damen in seidenen Kimonos mit hellen Sonnenschirmen, auch Schüler, an ihren schwarzen Uniformmützen erkenntlich, Schülerinnen höherer Schulen mit roten oder blauen Faltenröcken, Gangart, die Bildung verrät. Ein Schutzmann in weißer Uniform mit baumelndem krummen Säbel schlendert in nachlässiger, gebeugter Haltung, die Hände am Rücken verschränkt, die Straße entlang. Ein berittener Gendarm in Khaki bewegt sich dem Dörfchen zu, das am Fuße des Gebirges liegt. Dicht am Lagerzaun laufen am Feldwege drei Schuljungen um die Wette; drei kleine Mädchen versuchen, ihnen zu folgen und bleiben bald schäkernd zurück. – Jetzt kommen einige unserer Offiziere, vom Posten und von dem Dolmetscher begleitet, auf der Straße aus der Stadt. Der Dolmetscher wird im Lager von einigen Leuten sofort nach Neuigkeiten vom Kriege befragt und erzählt, dass die Russen nicht mehr an die Front wollen, dass 16.000 Italiener gefangen wurden und der Friede bald kommen wird. Unser Dolmetscher, der alte Nakatai, ist ein sonderbarer Heiliger. Er liebt es, jederzeit Späße mit den Gefangenen zu machen. Sein Deutsch ist uns oft rätselhaft. Auch er versteht uns anscheinend nur schwer und gibt auf Fragen oder Anreden oft nur zur Antwort: »Ja, man sagt so.« Seine tägliche Antwort auf Fragen, mögen diese lauten, wie sie wollen, ist »Der Friede wird bald kommen.« Er scheint erkannt zu haben, dass dies die Hauptsache für unsereinen ist.

Oita, 18.6.1917 — Regenzeit. Die umliegenden Berge tragen Wolkenschleier um ihre Häupter. Der Ostwind jagt zusammenhängende Wolkenschwaden ohne Ende herüber. Der trübe Tag drückt auf das Gemüt. Ich lese in Goethes West-östlichem Diwan. Wie kam ich dabei auf den Gedanken: »Der Glaube macht selig, das Wissen enttäuscht.« – Österreichische Parlamentäre sind in Petersburg eingetroffen. Die Italiener stehen vor Triest. – Vom »Simplicissimus« in München erhielt ich die Nachricht, dass meine eingesandte Anekdote, die sehr gut und lebenswahr erzählt sei, gedruckt wird, und dass man versuchen werde, mir das Honorar zuzuleiten. Es war mein erster Versuch, in einer Zeitung einen Beitrag unterzubringen, und ich freue mich, dass er geglückt ist.

Oita, 2.7.1917 — Am 30. Juni wurden wir zum ersten Male nach der Oitabucht zum Baden geführt, unter Bewachung selbstverständlich. Am nördlichen Ufer der Bucht liegt eine lange Sandbank, zum Badestrand wie geschaffen. Zwei weiße Steinmolen ziehen sich weit in die Bucht hinaus. Am Ende jeder Mole steht, von dem klarblauen Seespiegel sich herrlich abhebend, ein kleiner gelber Leuchtturm. Nur ein paar kleine Fischerboote lagen in der Nähe des Badestrandes. Weit draußen segelte ein weißgrüner Dreimaster ostwärts. Ein lichter Föhrenwald zieht sich in der Nähe des Strandes längs der weißen Sandfläche hin. Ein großes Holzboot lag trocken am Sande. Halbnackte braune Fischer arbeiteten an dem Boot, brannten den trockenen, bemoosten Bootsrumpf außen mit Strohfeuer leicht an, um das Pech an den Planken zu erwärmen und das Boot dadurch neu abzudichten, ein Verfahren, das auch die Nordseefischer anwenden. Im Wasser war uns durch rote Flaggen und zwei von Posten besetzte Boote eine Grenze gezogen. Das Wasser war klar und in dem uns vorgeschriebenen Bereiche nur so tief, das es uns bis an den Hals reichte. Man konnte überall bis auf den weißsandigen Grund sehen. Die Sonne schien drückend heiß, und die Luft war seltsam klar, sodass sich die zwei gelben Leuchttürme scharf von dem blauen Wasser und den im Westen steil ansteigenden, schwärzlichen Gebirgshängen abhoben. Übermütig tummelten wir uns etwa eine Stunde lang in der klaren, warmen Flut, schwammen und bewarfen uns mit dem weißen feinen Sande. Es war eine herrliche, gewissermaßen freiheitliche Stunde. Einige kühne Schwimmer waren in ihrer Begeisterung über die gezogenen Grenzen hinausgeschwommen und wurden bei ihrer Rückkehr zum Strande vom Aufsichtsoffizier, Leutnant Idzumi, zur Bestrafung vorgemerkt.

Nach dem Baden hatten wir noch Zeit, uns die Umgebung näher anzusehen, Wir gingen im Schatten des Föhrenwaldes spazieren, von dem Bad und der frischen Waldesluft wie zu neuem Leben erwacht. Japanische Händler, unter Bäumen sitzend, boten Erfrischungen, Bier, Limonade und Obst an; Kinderwärterinnen mit ihren meist blassen Zöglingen kamen in unsere Nähe, spielten mit den Kindern auf dem Moosboden und sahen uns nebenbei neugierig zu. Schutzleute und Posten schlenderten scheinbar gleichgültig zwischen unseren Gruppen herum. Unser alter Dolmetscher Hakatai war in hellem gelbem Flanellanzug mit Strohhut erschienen. Der alte Graukopf mit seinem Professorengesicht sah in seinem Sportdress komisch aus. Berndt, unser Kompagnie-Unikum, der wegen seiner Sammelwut und seiner äußerst mangelhaften naturwissenschaftlichen Kenntnisse immer viel verulkt wurde, ging, mit Blechbüchse und Fangnetz bewaffnet, auf Käfer- und Schmetterlingsjagd aus. Im Lager hatten wir einmal einen buntbemalten großen Schmetterling aus Papier in der Morgenfrühe am Stamm der Pappel festgenagelt, Berndt aus der Koje geholt und ihm den seltsamen Vogel gezeigt, den er dann unter Anwendung all seiner Kletterkunst und Vorsicht am Stamme fing.

Etwa zweihundert Meter vom Strande entfernt, hinter dem Föhrenwalde, sind, von einem Lattenzaune umgeben, in schattigem Grün mehrere luftige, saubere Schulgebäude mit großen Spielplätzen. Als Zaungäste beobachteten wir das rege Leben, das in den Schulhäusern und auf den Spielplätzen herrschte. Wegen der Hitze waren Fenster und Türen geöffnet, und wir sahen, wie die Schüler in den Bänken aufmerksam den Vorträgen ihrer Lehrer und Lehrerinnen folgten, die an Tafeln und Landkarten eindringlich und gewissenhaft den Unterrichtsstoff erklärten. In einem größeren Saale übten Studenten unter Harmoniumbegleitung ein Lied; in einem anderen Saale waren mehrere Lehrerinnen und Lehrer anscheinend bei Prüfung der Kinder als Zuhörer versammelt. Auf einem Spielplatze, der wie ein Kasernenhof mit Turngeräten, Reck, Barren, Schwebebalken, Klettertau usw. versehen war, übte eine große Abteilung von Kindern eine Art militärischen Dienst unter dem Kommando eines jungen Lehrers, der mit seinem weißen, uniformähnlichen Anzug und der dunklen Mütze wie ein Seekadett aussah. Zwei Reihen kleiner Knaben und zwei Reihen Mädchen marschierten im japanischen Paradeschritt (Kniemarsch) und übten Richtung und Abstandhalten. Wenn auch die körperliche Haltung der Kinder, ihre Bewegung, noch recht ungeschickt und für uns etwas lächerlich aussahen, der Lehrer sich auch weniger um die gute Haltung zu kümmern schien, so war doch bewundernswert, mit welchem Eifer besonders die Knaben die Übungen machten. Warum die kleinen Mädchen mit ihren zum Marschieren unpraktischen weiten und langen Röcken diesen militärischen Marsch mitmachen mussten, blieb uns unklar, denn wenn es auch um der Gesundheit willen war, so wirkte doch die Reihe der ungeschickt und angestrengt tappenden Mädels, die mit krummen Rücken und stark wippenden Köpfchen nur so neben den Knaben hertrotteten, recht lächerlich. Man sah auch, was man bei den Knaben nicht merkte, bei den Mädchen gelangweilte Gesichter. Den Schluss der Übung bildete ein Wettlauf mit kleinen Flaggen, den die – Mädchen gewannen.

Dann kamen aus einem Schulsaale andere Kinderscharen, Knaben und Mädchen, anscheinend ältere Jahrgänge, zum Parademarsch. Drei junge Lehrerinnen, einzelne Studenten und Lehrer gingen spazieren, alle ein wohlgebildetes Benehmen zeigend, nicht wie das gewöhnliche Volk uns anstarrend, sondern nur kurz, im Vorbeigehen uns beachtend. Das Westende der Stadt scheint ein Schulenviertel zu sein. Ich zählte auf unserem Rückmarsche da neun Schulhäuser. Im Osten der Stadt, in der Nähe des Lagers, sind ebenfalls drei Schulhäuser. Oita ist eine verhältmäßig kleine Stadt, und man merkt hier besonders, dass sich Japan im Zeitalter des Studiums befindet. Auf dem Marsche durch die Stadt begegnete uns ein bunter Zug seltsamer Gestalten mit Pauken, Reklamefahnen, phantastischen Kostümen, mit großen Masken, Tierköpfe darstellend. Es war ein Reklamezug für einen Zirkus, an dem wir dann vorbeimarschierten. Die große Zeltbude mit den grellen Reklametafeln, den samtenen, silber befransten Vorhängen und dem Ausruferpodium sah ganz einem europäischen Zirkus ähnlich. Ein paar geschminkte, ziemlich angegriffen aussehende Japanerinnen saßen vor dem Eingang, wo auch einige kleine Pferde, mit glänzendem Geschirr und klugen Augen, zur Schau gestellt waren. – Im Lager angekommen schwitzten wir schon wieder reichlich und konnten in der Badebude gleich ein Bad nehmen.

Drückende Schwüle herrscht täglich. Im Bett liegt man unter dem Moskitonetz meist nur leicht zugedeckt. Man kann sich trotz des Netzes der lästigen Moskitos kaum erwehren. – Die umliegenden abgeernteten Reisfelder stehen von der Regenzeit her noch unter Wasser und sehen aus wie Sümpfe und Seen, Der japanische Landmann pflügt dennoch mit Eifer seinen überschwemmten Acker, wie ich bemerkte. Bis an die Knie im Wasser watet er hinter seinem mittelalterlichen Pfluge her, und das Pferd wirft in lebhaften, stampfenden Schritten Wellen und Gischt um sich wie ein Torpedoboot. Man wundert sich, dass Ross, Pflug und Bauer nicht in dem Schlamm versinken.
 

5. Das letzte Jahr in Oita

Oita, 7.7.1917 — Gestern habe ich in der Lagerbibliothek die Bücherausgabe und -Verwaltung übernommen. Der frühere Bibliothekar, der sich wohl genug mit der Bibliothek, vielmehr mit dem gemischten Leserpublikum geärgert hat, drängte mich zur Übernahme der Arbeit, die ich annahm, um mir zeitweise Bücher nach meinem Geschick reservieren zu können und die literarischen Interessen meiner Kameraden näher kennen zu lernen. Weitere Vorteile habe und wünsche ich nicht von dem anvertrauten Posten. Es ist immer interessant zu beobachten, welche Bücher die Leute wählen und wie sie an die Wahl gehen, wenn sie etwa pikante Liebesgeschichten, politisch radikale Werke oder auch religiöse Schriften haben wollen und es nicht geradeheraus sagen wollen. Wir haben etwa 1000 Bücher über die verschiedensten Gebiete hier. Ich legte mir schon früher ein Heft, eine Art Tagebuch, über die gelesenen Bücher an, die ich auf meine Weise auch beschrieb und kritisierte. Eine Beschäftigung, die sehr unterhaltend und vielleicht auch belehrend ist.

Heute beobachtete ich eine, wie mir scheint, für das japanische Volksleben bezeichnende Szenerie, die sich auf der etwa hundert Meter entfernt am Lager vorbeiführenden Landstraße abspielte. Fuhren da drei alte, mit je einem mageren Klepper bespannte Bauernwagen vorbei. Jeder der Fuhrknechte, wie gewohnt halbnackt, braungebrannt, mit einem alten verschlagenen Strohhut am Kopfe, trottet wie gedankenlos und mühselig neben seinem Karren her. Da kommt, lässig schlendernd, in weißer Uniform, der Karawane ein Schutzmann entgegen, der den letzten Karrenführer aus irgendeinem Grunde anhält. Es kommt zu einer Art Verhandlung, bei der meist nur der Schutzmann redet, während das Bäuerlein sich immer und immer wieder tief verbeugt und demütig den Weisungen der hohen Obrigkeit lauscht. Die Verbeugungen waren nun das Seltsame. Ich begann sie zu zählen, zählte zehn, zwanzig, dreißig. Dann gab ich es auf, denn die Verhandlung schien kein Ende zu nehmen, und die Verbeugungen wurden schneller und tiefer. Der Schutzmann zog schließlich langsam sein Notizbuch hervor, und das ärmliche Bäuerlein schien manchmal, ob vor Ehrfurcht oder Ermüdung, in die Knie zu sinken. Eine halbe Stunde etwa dauerte es, bis der Schutzmann sein Opfer in Ruhe ziehen ließ.

Ein Reservist von uns, den ich auf die Szene aufmerksam machte, sagte mir dann: »Das ist die typische Unterwürfigkeit der Japaner. Sie ist echt der Obrigkeit gegenüber, dem Fremden, besonders dem Europäer gegenüber ist diese Höflichkeit nicht immer ehrlich. Darum kann man sich mit dem Japaner nie so gut unterhalten wie beispielweise mit dem Chinesen. Man spürt beim Japaner immer das Lauern. Er verbirgt sein wahres Interesse, sucht dieses durch grinsende, scherzende Höflichkeit zu verdecken, spricht sehr viel Gleichgültiges und hat große Übung im unauffälligen Auskundschaften der Verhältnisse des Partners. Man weiß nie recht, wie man mit dem Japaner steht. Mit dem Chinesen kann man offener auch über Familienverhältnisse sprechen; er bringt sein Interesse an den Verhältnissen des anderen zum Ausdruck, freut sich offen, wenn man sich nach seinen Kindern und Verwandten erkundigt. Nur von seiner Ehefrau spricht er nicht gerne. Es ist so Sitte, dass man nicht über die Ehefrau spricht oder dass man davon nur wenig und möglichst nebenbei redet.« Der alte Ostasiate scheint den Chinesen als Menschen überhaupt höher zu schätzen als den Japaner und den tüchtigen Europäer. Und mag nicht Unrecht haben.

Oita, 16.7.1917 — Die Regenzeit ist vorbei. Anstatt der schwülen feuchten Luft haben wir jetzt täglich trockene Hitze, 35 bis 45 Grad Celsius. – In Deutschland geht der innere Streit zwischen Rechts- und Links-Parteien auch unter dem neuen Reichskanzler Michaelis unentwegt weiter Wir nehmen lebhaft Anteil an den innerpolitischen Streitigkeiten, streiten auch selbst oft heftig – und müßig – um innerpolitische Meinung der heimatlichen Parteien. Deutschland in Miniatur, Es ist zum Verzweifeln mit den verschiedenen Ansichten über die Kriegsziele und die inneren Reformen. Noch ist Krieg, und es soll nur der Truppe gedient werden, nicht Sonderwünschen der Parteien. Das ist meine Meinung. – Ich erhielt das Honorar für meinen Beitrag zum Simplizissimus (10 Mark).

Oita, 22.8.1917 — Engländer melden prahlerisch, dass ihnen die U-Boots-Blockade keine ernsthaften Ernährungsschwierigkeiten bereite. Lloyd George erklärt, dass er sich den Teufel um die U-Boote schere, dass England mehr Schiffe baue und auf See schicke, als es nötig habe, dass die englische Flotte jetzt um fünfzig Prozent stärker sei als zur Zeit der Seeschlacht bei Jütland, dass die deutsche Admiralität mit ihren Meldungen über U-Boots-Erfolge England keinen Schrecken einjagen könne.

Oita,15.9.1917 — Die deutschen Truppen haben Riga besetzt und bedrohen Petersburg, Wir halten nicht mehr viel von Erfolgen an der Ostfront, denn Russland ist zu groß, als dass man dort noch eine Entscheidung des Weltkrieges herbeiführen könnte. Es wird übrigens im Osten bald Frieden geben. Auch ohne Kampf, wie aus den Nachrichten aus Russland zu entnehmen ist.

Oita, 25.9.1917 — Es regnet seit einigen Tagen. Gestern beobachtete ich über den Zaun hinweg ein altes Bauernehepaar bei der Feldarbeit. Die alten Leutchen eggten einen kleinen Acker, der bis an den Lagerzaun reicht. Sie hatten eine primitive Egge, aus einem Balken mit Eisenzähnen bestehend, aus dem eine aus zwei Stangen und Querholz gemachte Handhabe angebracht war. Der Mann zog mit zwei an seinen Schultern befestigten Stricken, die Frau hielt die Handhabe und drückte fest damit gegen den Rechen zur Erde. So zogen beide stundenlange in langsamem Schritte wortlos kreuz und quer über das Feld, bis die ohnehin ziemlich lose Erde eben und fein wie Asche lag.

Oita, 24.10.1917 — In der deutschen Flotte ist ein Komplott entdeckt worden. Auf vier Schlachtschiffen sollen Unruhen vorgekommen sein. Auf der Westfalen sollen Mannschaften den Kommandanten und einige Offiziere über Bord geworfen haben. Die Leute wollten mit dem Schlachtschiff nach Norwegen abdampfen und sich dort internieren lassen, wurden aber von Torpedobooten gezwungen, nach Wilhelmshaven zurückzukehren, wo drei der Meuterer erschossen und vier eingesperrt wurden. So meldete eine englische Zeitung, darum glauben wir es nicht.4

Oita, 31.10.1917 — Alle Italiener haben eine schwere Niederlage erlitten. Deutsche und österreichische Truppen haben die italienischen Stellungen überrannt und (so sagt eine italienische Meldung) den heiligen italienischen Boden betreten. Sie dringen unaufhaltsam vor.

Oita, 7.11.1917 — Heute vor drei Jahren fiel Tsingtau. Wie wir hören, feiern die Japaner den Gedenktag nicht. Das ist sehr anständig von ihnen.

Oita, 24.11.1917 — Vorgestern waren wir auf dem großen Exerzierplatz in der Nähe der japanischen Kasernen und durften dort Sportspiele treiben. Was ist es doch für eine Freude, auf einem größeren Platze sich bewegen zu können. Die japanische Herbstlandschaft ist wunderbar. Die nahen Berghänge mit ihrem üppigen Buschwerk schillern in glühenden, rötlichen und gelben Farben. Zierliche Holzbrücken führen im Bogen über Flussbetten, in denen weißer Sand und Felsgestein trocken liegen. Auf allen Reisfeldern ist das Landvolk bei der Ernte. Es ist staunenswert, wie rasch die Felder abgeerntet werden, zumal man auf jedem Felde nur wenige Leute sieht. Da und dort arbeitet ein Pärchen mit einigen Kindern. Sie schneiden die Reisbüschel mit sichelartigen Messern, legen die Büschel gebunden in Reihen. Auf höchst einfache Weise wird dann gedroschen, indem man die Büschel einzeln über eine mit Eisenzähnen versehene Bank schlägt oder auch auf einem mit Drahtringen umgebenen Zylinder, der durch ein Fußgetriebe gedreht wird, ausraufen lässt. Die Körner werden dann gleich auf dem Felde gesiebt und in verschiedene Körbe verteilt.

Oita, 25.11.1917 — Venedig soll von unseren Truppen genommen sein, in Russland geht alles drunter und drüber. Lenin und Kerensky führen gegeneinander Krieg. Eisenbahnen und Fabrikarbeiter streiken. Bürgerkrieg wütet da und dort in Russland. Armee und Marine rebellieren. Wir sind dennoch skeptisch in Bezug auf den Frieden. Gleixner sagte: »Gott, wann ging in Russland nicht schon alles drunter und drüber!« In Deutschland scheint der Hunger immer mehr zu drohen. – Ein evangelischer Geistlicher hielt Gottesdienst im Lager. Er suchte uns mit seinem Wahlspruch zu trösten: »Die Hochmütigen glauben zu wissen, die wahren Christen wissen zu glauben«, darüber kann man jahrelang nachdenken. – Soeben kam die Nachricht, dass Russland den Mittelmachten Frieden angeboten habe. Die Mittelmächte haben bereits 35 Divisionen von der Ostfront nach – dem italienischen Kriegsschauplatze abtransportiert. Warum nicht gleich nach der Westfront?

Oita, 30.12.1917 — Zur Weihnachtsfeier waren wir in der Kirche der Methodistengemeinde in Oita. Ein amerikanischer Missionar, der gebrochen deutsch sprach, hielt eine Predigt, in der er besonders betonte, dass sie als Christen keine Feinde ins uns sähen, dass alle Menschen vor Gott gleich seien usw. Er redete nur so allgemeine christliche Sprüche. Ein paar Japaner, man sagte, der Bürgermeister von Oita und ein Herr Go, hielten Reden. Sie sagten, dass sie uns herzlich bemitleideten, dass sie mit uns fühlen würden und uns die baldige Heimkehr wünschten. Die japanischen Schulkinder führten uns einen Tanz mit Liedern vor, was sehr schön war. Eine kleine Amerikanerin von etwa zehn Jahren trug ein Weihnachtslied in Englisch vor. Auch unser Gesangverein ließ sich hören. Am schönsten war der Violinvortrag von unserem Oberleutnant Vetter. Er spielte ergreifend das »Largo« von Händel. Einige anscheinend amerikanische Damen und Herren sowie Bürger von Oita wohnten auf der Galerie dem Gottesdienste bei. Voriges Jahr waren wir in der gleichen Kirche bei der Weihnachtsfeier, bei gleichem Publikum.

Oita, 1.1.1918 — Von der Sylvester- und Neujahrsfeier zu schreiben erübrigt sich, zumal sich alles Interesse hier zur Zeit auf die Vorgänge in Europa konzentriert. In der Heimat ist die Lage kritisch. Die Marine wird unruhig, leider anscheinend gegen die Führung. Auch an der Westfront scheint nichts mehr zu stimmen. Ein Regiment soll das Hurra auf den Kaiser verweigert und, anstatt Hurra zu rufen, mit Gelächter geantwortet habe. Viele von uns sagen, diese Meldung, obwohl sie in englischer Zeitung steht, klinge fast glaubwürdig. Mir scheint es auch so.

Oita, 14.1.1918 — Warum schreien die Alliierten immer, die Friedensbedingungen der Mittelmachte seien unaufrichtig? Weil die Bedingungen nach jedem militärischen Unternehmen anders lauten. Es ist keine »Haltung«.

Oita, 24.2.1918 — Wegen nächtlicher Ruhestörung anlässlich einer Zecherei im unteren Saale wurden fünf Mann in den Arrest gesperrt. – In Beppu sind kriegsverletzte Russen. Wir hoffen, sie zu sehen. So sind die Gedanken der Gefangenen, dass sie schon an den Russen, die möglicherweise auch einmal in Deutschland waren, Heimatsluft zu wittern hoffen.

Oita, 14.3.1918 — Das einzige, was einen Gefangenen hier noch einigermaßen aus dem Stumpfsinn erheben kann, ist meiner Ansicht nach die Literatur und in dieser die Philosophie Schopenhauers, mit der ich mich seit Monaten beschäftige. Nur Schopenhauers Gedanken gewinnen hier sozusagen noch praktischen Wert. Aber auch kein einziges Buch von all den philosophischen Werken, die hier zu bekommen sind, fand ich so wahr und aufrichtig wie Schopenhauers Werk vom »Satze vom zureichenden Grunde« und »Die Welt als Wille und Vorstellung«. Keine Philosophie mag für unsere Lage tröstlicher sein. Ich will mich nicht näher im Tagebuche darüber aufhalten. Es würde zu weit führen.

Oita, 25.3.1918 — Russland hat mit den Mittelmächten Frieden geschlossen. Aber Deutschland anscheinend nicht mit Russland. Wir verstehen wenigstens nicht folgende Berliner offizielle Meldungen: Die deutschen und österreichischen Truppen haben Odessa genommen und dringen in der Ukraine vor. Der deutsche Kaiser hat sich entschlossen, die früher dem Zar zustehenden Titel der Fürsten Herzog, Kurfürst etc. von Kurland, Litauen und Livland anzunehmen. – Man ist versucht, diese Meldung für einen reinen englischen Hetzartikel zu halten, nachdem kurz vorher die Meldungen vom Frieden mit Russland eingetroffen waren. Jedenfalls aber warten wir jetzt gespannter als je auf die Auswirkung der U-Boots-Blockade und auf den großen Sturm im Westen.

Oita, 26.3.1918 — ...und es kam die Nachricht: »Im Westen greifen die Truppen der Zentralmächte auf der ganzen Front an. 16.000 Engländer gefangen, 200 Geschütze erbeutet.« Unsere Erwartungen waren also nicht umsonst. Unser Lagerkommandant hatte die Zeitungen heute nicht herausgegeben, was uns schon ein gutes Zeichen schien. Einige Reservisten hier hatten sich vielleicht bei dem japanischen Kantinenkaufmann Zeitungen besorgt, und so war die Siegesmeldung zu uns gekommen. Heute Nachmittag kam Musfeld, der auch sonst immer die japanischen Zeitungen übersetzt, in den Saal und las uns neue Meldungen vor, da der japanische Oberst es verboten hatte, die übersetzten Nachrichten im Korridor, wie sonst, anzuschlagen. Die Engländer selbst melden, dass sie sich weit nach Westen zurückgezogen haben, dass die Deutschen hinter den vorgehenden Sturmtruppen immer neue Reserven zusammenziehen, dass österreichische Artillerie stark am Angriff beteiligt sei und weitere schwere Kämpfe erwartet werden. – Wir gedenken mit Stolz unserer Feldtruppen und wünschen ihnen, dass der baldige Friede ihre Tapferkeit belohnen wird.

Oita, 28.3.1918 — So lautet die neueste Nachricht: »Die dritte und vierte englische Armee an der Westfront vernichtet. Zwei deutsche Armeen, die des Generals von Gluck5 und von Gallwitz, haben die feindliche Front in einer Breite von hundert Kilometern durchbrochen. Die Zahl der Gefangenen ist auf 26.000, die der genommenen Geschütze auf 400 gestiegen. Der Kampf geht weiter. Die Bankaktien in den japanischen und englischen Banken fallen infolge des das Universum erschütternden Vormarsches der Deutschen rapid. Die englische Missionen in Tokyo und Yokohama halten Gottesdienste ab, um den Himmel zu bitten, ein weiteres Vordringen der Deutschen zu verhindern.«

Die Vorschriften in unserem Lager sind verschärft worden. Der Lagerkommandant, die diensthabenden Offiziere und die Wachmannschaften sehen den Gefangenen schärfer auf die Finger, als wären wir bei der großen Offensive, und gestern kam der Befehl: »Die Gefangenen haben von nun an auch die japanischen Posten durch Vorübergehen in militärischer Haltung (Finger lang, gerade anblicken) zu grüßen« – und heute nacht sind drei Gefangene, Pasemann, Meyer Heinrich und Ludmiller heimlich über den Zaun gestiegen, haben sich im Vorort Kuntun bei Oita einige Stunden in Theehäusern amüsiert und der Freiheit erfreut, bis sie von Schutzleuten wieder ins Lager abgeführt wurden. Nur sie rechneten im Voraus damit, dass sie gekitscht würden. Den Kopf wird es sie nicht kosten...

Oita, 31.3.1918 — Ostersonntag. Mailänder hat ein altes Grammophon und einige Schallplatten dazu mit Märschen, Liedern und humoristischen Vorträgen, die wir längst auswendig können (von der Platte weg gelernt). Zu Ostern packte er den Jammerkasten wieder mal aus und ließ eine Platte spielen: »Zapfenstreich im Biwak«. Es erschallen Kommandos, Trommelwirbel und Querpfeifen, dann kommt ein Militärmarsch und – wir erwarten wie gewohnt das Kommando »Helm ab zum Gebet« und die Melodie »Wir beten an die Macht der Liebe«. Doch aus dem Schalltrichter kommt ohne Unterbrechung nur: »Helm ab Helm ab Helm ab Helm ab ...« An der Platte ist ein Defekt, von dem wir keine Ahnung hatten. Wir dachten, der Kasten sei verrückt geworden, und es brach ein »homerisches« Gelächter bei uns aus. Unaufhörlich, immer langsamer erscholl: »Hell ab Helm aab Heelm aaab ...«, bis die Feder abgelaufen und damit der wackere Plattenkommandeur schlapp war und verstummte. Soll das ein schlimmes Vorzeichen sein?- Ein wenig abergläubisch in irgendeinem Sinne war ich immer.

Oita, 1.4.1918 — Wir bekommen spärliche Nachrichten von der großen deutschen Offensive. Die Japaner schneiden viele Artikel aus den Zeitungen, bevor wir diese bekommen. England meldet: Die feindliche Offensive kann nicht erfolgreich sein, aber wir müssen dafür sorgen, dass im Laufe des Jahres eine weitere Armee von etwa zwei Millionen Mann aufgestellt werde.

Oita, 2.4.1918 — Heute Nachmittag gegen 2 Uhr, als ich eben bei meinen Büchern saß, begann plötztlich mein ganzes »Büro« sich zu bewegen, stoßweise und dann in Schwingungen. Im Saale fiel Geschirr von den Schränken, und einige Kisten polterten zu Boden. Alles sah sich verwundert um. Ein Blick aus dem Fenster belehrte mich, dass das ganze Haus ruckweise hin und her schwankte. Ein Schwarm Spatzen flatterte aufgeregt zirpend am Fenster vorbei, und die Holzwände des Hauses ächzten bedrohlich. Ein Erdbeben! Wir hatten in Japan schon oft Erdstöße verspürt, doch noch keine so heftigen wie heute, die wohl über eine Minute dauerten. Es ist ein wunderbares Gefühl, das Walten unterirdischer Kräfte so deutlich zu spüren, zu wissen, dass man diesen Gewalten gegenüber ein ganz ohnmächtiges Wesen ist und irgend ein Defekt im Bauche unserer alten Mutter Erde die ganze Herrlichkeit der Werke des eingebildeten Menschengeschlechtes in wenigen Augenblicken vernichten kann.

Die Engländer melden, dass die deutsche Offensive am Abflauen sei und dass die Angreifer nichts erreicht hätten als einen Geländegewinn von einigen Quadratkilometern. Französische Meldungen vom 29.3. behaupten, dass die Truppen der Alliierten innerhalb 24 Stunden die Lage beherrschen werden. Heute kamen englische und japanische Zeitungen, aus denen der Zensor alle Kriegsnachrichten herausgeschnitten hatte, Will uns der Japaner die guten Nachrichten nicht gönnen, oder will er uns vor üblen Nachrichten verschonen? — Der Schiffsjunge und Kriegsfreiwillige Jansen, der frechste Lausebengel im Lager, aber im Grunde ein guter Kerl, zeigte mir heute mit Tränen in den Augen einen Brief von seiner Mutter aus Hamburg und las mir die Worte daraus vor: »Du kennst unsere Sorgen nicht und weißt nicht, wie weh der Hunger tut...« Dann schaute er mich groß an und sagte: »Das genügt wohl, da können die Zeitungen schreiben, was sie wollen!« Wie sollte ich ihn trösten, wenn seine Mutter so schreibt.

Oita, 4.5.1918 — Seit 30.4. wird unsere Heimatpost im japanischen Büro zurückbehalten, zur Strafe, da ein Gefangener nachts aus einem Fenster des ersten Stockes Wasser auf den Hof schüttete, dabei zufällig die vorbeigehenden Posten etwas anfeuchtete und der Uebeltäter sich auf Aufforderung nicht meldete. Der Lagerkommandant ließ bekanntgeben, dass solange keine Post ausgeteilt wird, bis der Täter sich meldet oder gemeldet wird.

Oita, 18.5.1918 — Der Uebeltäter mit der Wasserkanne hat sich immer noch nicht gemeldet. Dagegen wurde von einem Gefangenen ein anonymer Drohbrief an das japanische Büro geschickt mit der Bemerkung, wenn die Post nicht herausgegeben würde, geschähe in nächster Zeit ein Unglück im Lager. Die Japaner sind eifrig bei der Nachforschung nach dem Schreiber des Briefes. Schriftproben wurden von allen Gefangenen eingeholt, es regnet sozusagen Befehle und Aufforderungen zum Bekennen der Schandtaten. Der Oberst ließ schließlich bekanntmachen, er würde den Briefschreiber nur gering bestrafen, wenn er sich melden würde. Es nützte nichts. Man erträgt lieber die für uns gewiss schwere Strafe der Postsperre, als dass man sich den Vorwurf machte, nachgegeben oder den Kameraden verraten zu haben. Übrigens verlässt sich keiner auf die »geringe Strafe«, sondern man denkt an das Sprichwort vom Spatz in der Hand.

Oita, 22.5.1918 — Kremer hat sich im japanischen Büro als Schreiber des anonymen Briefes gemeldet. Uns hatte er gesagt, dass er den Brief nie geschrieben habe, sich aber melden würde, damit endlich die Post wieder ausgegeben werde. Wir wollten Kremer seinen Entschluss ausreden, und es wurde, nach dem er sich doch gemeldet hatte, dem Kommandant sofort erzählt, dass Kremer sich für einen anderen als Täter bezeichne. Der Oberst sagte jedoch, er halte Kremer für den Täter und diktierte ihm 14 Tage Arrest zu. Nun hörten wir, dass Kremers Opfer umsonst war. Es gibt keine Post, wenn nicht auch der »Wasserattentäter« sich meldet.

Oita, 9.6.1918 — Wir bekommen wieder Post und Zeitungen, obwohl sich der gesuchte Übeltäter nicht meldete. Die Japaner können also auch vergessen und vergeben. – Schwere Kämpfe an der Westfront, aber ein Durchbruch, der zu einem Bewegungskriege führen könnte, ist von unseren Truppen ebensowenig erreicht worden wie in der Märzoffensive. Wir befürchten das Schlimmste. Unsere tapferen Truppen an der Westfront werden sich verbluten, wenn die Alliierten wirklich soviele Truppen, Tanks und Flugzeuge zur Verfügung haben, wie ihre Meldungen glauben machen wollen.

Oita, 1.7.1918 — Haben in den letzten Wochen außer den Arbeiten für die Küche (Kartoffeln schälen, Wasser pumpen, Reinigungsarbeiten) für die Sauberkeit der Säle und des Hofes auch außerhalb des Lagers viel körperliche Arbeit verrichtet, mit Spaten und Pickel Straßen ausgebessert, daneben Gräben gezogen und vor einigen Tagen unsere Bettläden, Strohsäcke, Decken, Taschen, Bänke und Schränke bei glühender Sonnenhitze gründlich gereinigt. Bei dem großen Stöbern im Hofe waren viele so unvorsichtig (auch ich), mit nacktem Oberkörper in der Sonne zu arbeiten. Wir hatten dann feuerrot gebrannte Rücken. Es wurde geradezu schlimm. Ich bekam nachts hohes Fieber. Die Haut schälte sich in großen Fetzen vom Leibe, und ich konnte mehrere Nächte nicht schlafen vor Schmerzen. Immerhin war die Arbeit eine angenehme Abwechslung. Nun ist wieder grauer Alltag. Und ich bin in der Bibliothek und bei meinen »Studien« beschäftigt. Jeden Tag bei »Schopenhauer«.

Oita, 10.7.1918 — Wir kommen nach einem anderen Lager, nach Narashino, einem großen Truppenübungsplatz bei Tokyo. Auf die Nachricht hin war zunächst alles höchst erfreut, nur kurze Zeit, denn bald sagte sich jeder: »Ist es nicht gleichgültig, wo in Japan wir herumliegen?« Anfangs August soll die Reise nach Narashino losgehen, Wir werden etwa vier Tage mit der Bahn zu fahren haben.

Oita, 12, 7.1918 — Arbeit genug angesichts des bevorstehenden großen Umzuges. Einholen der ausgeliehenen Bibliotheksbücher, Ordnen der eigenen Sachen für den Umzug, Musterungen der Sachen und Säle durch die Japaner. Es regnet seit drei Tagen in Strömen. Ein mächtiger Sturm weht von See her. Alle Felder ringsum sind überschwemmt. Nur die etwas erhöht liegenden Straßen sind noch zu erkennen. Blickt man vom Lager aus nach der etwa zwei Kilometer entfernt liegenden Stadt, so scheint es, dass diese im Wasser schwimme. Auch unser großer Hof ist unter Wasser. Noch haben wir im Hause trockenen Boden. Die sonst herrliche Natur in Japan hat ekelhafte Launen, mehr als anderswo, Stürme, Erdbeben, Überschwemmungen, Gluthitze, Wolkenbrüche. Ich glaube, alle diese Ereignisse haben den Japaner tapfer und zähe gemacht.

Oita, 18.7.1918 — Lettich, ein gemütlicher Sachse, Kunstmaler von Beruf, half mir beim Verpacken der Bücherei für den Transport nach Narashino. Lettich ist die personifizierte Wurschtigkeit, wenn über die Aussichten auf unsere Heimkehr geredet wird. Als ich ihn fragte, wie er über diese Aussichten denke, sagte er nur: »Ach Chotte, mer sinn noch lange, lange in Japan. Wer wird ooch von der Heimreise reden! Chotte, da denk ich nich mal dran.«

Oita, 20.7.1918 — Die Japaner landen viele Truppen im Ausland und verstärken ihre Truppen an der russisch-mandschurischen Grenze. Man sagt, Krieg mit Russland stehe bevor. Heute ist das hiesige (72.) Infanterieregiment zur Einschiffung nach Korea aus Oita abgegangen. In den letzten Tagen strömten aus der Stadt die Zivilisten schwarmweise nach den Kasernen, um sich von den Kriegern zu verabschieden. Die Soldaten sollen »Feuer und Flamme« sein, wie Nakatai sagte.

Oita, 1.8.1918 — Mein letzter Arbeitstag in meinem autoähnlichen Büro im Bettladen. Am 4. August werden wir das Lager verlassen. Die Japaner belästigen uns nicht besonders mit Musterungen und Befehlen, was uns ganz ungewohnt ist. Sie lassen uns beim Einpacken in Ruhe, sehen manchmal, wie es scheint, etwas betrübt zu, als ob sie bedauerten, dass wir scheiden.
 

Anmerkungen

1. Vermutlich ein Irrtum, denn Betz wurde im Herbst 1916 nach Nagoya verlegt.

2. Unbekannter Name. Dieses Problem kommt im Folgenden häufiger vor, wobei es nicht klar ist, ob der Verfasser für einige Leute Spitznamen statt Klarnamen verwendet hat oder schlicht ein Schreibfehler vorliegt. Der Redakteur verzichtet in solchen Fällen auf weitere Anmerkungen.

3. Hier sind die als Hilfskreuzer umgebauten Frachtschiffe wie Möwe oder Wolf gemeint.

4. An diesem Zeitungsbericht war fast alles falsch! Richtig ist, dass je ein Besatzungsmitglied der Linienschiffe Friedrich der Große (Reichpietsch) und Prinzregent Luitpold (Köbis) wegen »kriegsverräterischer Aufstandserregung« verurteilt und hingerichtet worden waren.

5. Ein weiteres Beispiel für die Unzuverlässigkeit vieler Informationen, die zu den Gefangenen kamen: »Gluck« gab es nicht, Kluck war seit 1916 pensioniert, und Gallwitz kommandierte einen ganz anderen Frontabschnitt.
 

© Jakob Neumaier: für diese Fassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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