Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Im Gefangenenlager Narashino«

von Jakob Neumaier
 

Unter den Augenzeugen des Krieges und der Gefangenschaft ist Jakob Neumaier einer der wichtigsten. Seine Tagebucheintragungen decken den gesamten Zeitraum von den letzten Junitagen 1914 bis zur Rückkehr in die Heimat Ende Februar 1920 ab. Er schildert seine Erlebnisse bewusst aus der Perspektive des einfachen Soldaten, ohne »Feldherrnattitüde«, mit guter Beobachtungsgabe und mit viel Liebe zum Detail.

Der siebte Teil aus Neumaiers Bericht schildert die Zeit im Lager Narashino von August 1918 bis zum Vortag der Entlassung.

Die hier benutzte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von dem leider verstorbenen Bochumer Sammler Walter Jäckisch zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in Fußnoten.

Übersicht:

  1. Reise nach Narashino
  2. Schlechte Nachrichten
  3. Weltuntergangsstimmung
  4. Die große Epidemie
  5. Das letzte Jahr in Gefangenschaft

 

1. Reise nach Narashino

Narashino, 14.8.1918 — Am 8. August nachmittags kamen wir nach viertägiger Bahnfahrt von Oita hier an bei unseren Kameraden, die wir jahrelange nicht mehr gesehen hatten. Wir wohnen in Baracken, schlafen am Bretterboden auf Strohsäcken und haben uns aus Kistenbrettern Schreibtischchen und Hocker gemacht. Auf dem bloßen Lehmboden in der Mitte jeder Baracke stehen Kasernentische und eiserne Öfen. Es sind unser etwa tausend Mann im Lager, auch viele unserer Offiziere, darunter unser Gouverneur Meyer-Waldeck und der Chef des Stabes Kapitän Saxer. Die Offiziere wohnen in Sonderbaracken.

Am Sonntag, den 4. August waren wir im aufgeräumten Saale des Lagers Oita gegen Mittag reisefertig. Unser Lagerkommandant erschien dann höchstpersönlich und ließ uns zum Abschied antreten. Nakatai verdolmetschte die Abschiedsrede des Kommandanten. »Sie werden auf Befehl des japanischen Kriegsministeriums nach dem Lager Narashino versetzt. Die Reise bei der großen Hitze ist sehr unangenehm und Sie müssen sehr auf Ihre Gesundheit achten und die hygienischen Regeln befolgen, dürfen nicht unvorsichtig trinken und essen. Wir fühlen, dass die lange Gefangenschaft Sie bedrückt, aber Sie müssen Geduld haben. Wenn man auch noch nicht den Tag des Friedens weiß, so steht doch fest, dass er kommt und Sie erlösen wird. Wir wünschen Ihnen gute Reise und Wohlergehen auch im neuen Gefangenenheim, und ich ermahne Sie zu weiterer Geduld, falls Sie im neuen Heim vielleicht manche Annehmlichkeiten, die Sie in Oita hatten, entbehren müssen."

Der Feldwebel Lechner1 als Lagerältester und Unteroffizier Kainz als Materialverwalter erhielten vom Obersten Diplome für ihre treuen Dienste im japanischen Büro ausgehändigt. Wir lachten weidlich in Reih und Glied. »Waaas«, sagte Meyer Karl, unser Bademeister, »und ich? Kein Diplom?« »Und ich, als Küchenchef?« sagte jeder Koch. »Und ich, als Bibliothekar?« sagte ich. Selbst Nakatai musste mitlachen. Es gab dann für jeden Gefangenen noch als Geschenk zwei Schachteln Streichhölzer, »zum Anzünden der Zigaretten«, wie Nakatai noch scherzend bemerkte.

Bei sengender Mittagshitze stiegen wir in den Zug. Es war kein schwerer Abschied. In meinem Abteil waren auch unsere beiden tüchtigen Mandolinenspieler Großmann und Voß. Nur wenige sahen zurück, als wir die letzten Häuser Oitas hinter uns hatten. Wir passierten Nishi-Oita und hielten an der kleinen Station Hiji eine Stunde an. Etwa drei Stunden fuhren wir in Sichtweite des Meeres. Seltsam, dass alle von uns still immer wieder auf das Meer hinausträumten und die schönen Landgegenden anscheinend kaum beachteten. Immer, wenn das Meer in Sicht kam, war es auffallend still im Abteil, und alles sah sehnsüchtig nach dem blauen Wasserspiegel. Als es dunkel wurde, begannen unsere Mandolinenspieler zu spielen, und lange hörten wir stumm auf die heimatlichen Weisen, die das eintönige Summen der Eisenbahnräder begleiteten.

Abends elf Uhr lief der Zug in Moji ein. Er wurde auf ein Nebengeleise gesetzt, wo wir die Nacht über liegen blieben. Wir waren ziemlich dicht beisammen in den Abteilen und legten uns zur Nachtruhe auf die Bänke, auf den Boden und auf die Plattform. Es war verdammt kein angenehmes Liegen, und die Nacht wurde uns lang. Morgens gegen 7 Uhr wurden wir aus dem Zuge nach dem Landungsstege geführt, zur Überfahrt nach Schimonoseki. Da der Dampfer erst gegen elf Uhr abgehen sollte, mussten wir den Vormittag noch in einem Holzschuppen der Landungsbrücke verbringen. Die Überfahrt mit einem kleinen, weißen Passagierdampfer dauerte nur eine halbe Stunde. Ich schlief während der Fahrt köstlich in einer kühlen, fast leeren Vorschiffskabine, bis mich die Kameraden zum Aussteigen weckten. Schimonoseki ist ein von Russ, Industriestaub und Rauch verschmutztes Nest wie Moji. Wir sahen hier nichts als Lagerschuppen und den gänzlich schmucklosen Bahnhof. Zwei Stunden warteten wir im Zuge zwischen endlos scheinenden Reihen von Güterwagen in der drückenden Sonnenhitze auf die Abfahrt. Schließlich wurde uns eine kleine Überraschung zuteil. Als unser Zug umrangiert wurde, kamen wir in die Nähe eines gleichfalls von deutschen Kriegsgefangenen besetzten Zuges. Es waren Leute, die vom Lager Kurume nach Bando verlegt wurden. Durch Grammophontrichter fragten wir gegenseitig nach Neuigkeiten. Leider wussten weder wir noch sie viel Neues. Es wurde gefragt: »Habt ihr Neues von daheim?« »Habt ihr gutes Essen?« »Habt ihr Löhnung bekommen?« »Seid ihr ins Freie gekommen?« Und ein Spaßvogel fragte von drüben auch: »Gibt es bei euch auch Flöhe?«

Am zweiten Tage unserer Fahrt kamen wir in eine Gegend, deren Bewohner wohl irgendein Fest begingen. Ich bemerkte, dass vor jedem der japanischen Wohnhäuser, links neben der Haustüre, zwei mit bunten Bändern geschmückte Bäumchen standen und alle Höfe ungewöhnlich sauber aufgeräumt waren. Wir hatten in unserem Waggon keinen deutschsprechenden Japaner und konnten darum über die Bedeutung der geschmückten Bäumchen nichts erfahren. Nachdem wir die größeren Stationen Hiroshima und Himeji, wo früher auch deutsche Gefangene lagen, passiert hatten, kamen wir spätabends nach Kobe. Nach den Millionen von Lichtern, die in weitem Umkreis uns entgegen blinkten, schätzten wir Kobe als eine Riesenstadt. Auch hier kam eine kleine Überraschung. Von einer erhöht liegenden Straße, wo eine elektrische Straßenbahn hielt, scholl uns plötzlich ein dreifaches »Hurra« entgegen. Wir sahen gerade noch, wie im Lichte der Straßenlampen an der Trambahn drei Personen, eine Frau, ein Kind und ein Mann, Europäer, mit hochgestreckten Armen winkten. Wir antworteten mit »Hurra« und waren schon vorbei. Wer mochte wohl hier von unserer nächtlichen Durchfahrt wissen und uns ihr »Hurra« zugerufen haben?

Als unser Zug nach zweistündigem Aufenthalte aus der diesigen Bahnhofshalle weiterfuhr, suchte sich jeder einen Liegeplatz zum Schlafen, denn wir waren so müde, dass wir im Sitzen schon alle Knochen verspürten. Alles sank im Sitzen einfach um, und wir lagen kreuz und quer, übereinander oder nebeneinander, in allen möglichen Stellungen. Jeder erfand eine eigene Körperlage, um den engen Platz auszunützen. Mancher erwog schon, ob er sich nicht auf das Gepäcknetz legen sollte, aber dieses schien doch zu schwach fürs Körpergewicht. Glücklich, wer noch unter einer Sitzbank einen Liegeplatz fand. In der ersten Nacht hatte ich noch das Glück, direkt am Gange des Waggons schlafen zu können. In der zweiten Nacht fand, besser: erfand ich, mangels anderer Bequemlichkeit, folgende Schlafstellung: Mit dem Rücken lag ich quer über die Bank, den Kopf durch die Lücke der Lehne gestreckt und mit einem Handtuch an der Lehne festgehängt, sodass der Kopf zwar etwas pendelte, aber schön in der Schlinge ruhte, die Füße legte ich auf die gegenüberliegende Bank, d.h. dem dort ruhenden Kameraden auf die Knie, mein Sitzteil schwebte in der Luft zwischen den zwei Bänken. Es war ein unruhiger Schlaf, aber doch Schlaf.

Gegen Morgen hielt der Zug an einer kleinen Station, wo neben unserem Zuge ein Personenzug hielt, aus dem uns ein Europäerpaar ansprach, ein vornehmer Herr mit einem Professorengesicht, grauem Bart und spitzem Gesichte und eine ältere geschminkte, ziemlich aufgedonnerte Dame, beide nicht sehr freundlich. Er fragte: »Sind Sie Deutsche?« Als wir bejahten, schien er etwas enttäuscht, und es entspann sich noch ein kurzes Gespräch: »Sind Sie Zivilgefangene?« »Nein, von der Tsingtaubesatzung.« »Haben Sie denn in Tsingtau gekämpft?« »Ja, bis zum 7. November 14.« »Wie sind Sie denn dann nach Japan gekommen?« »Gefangen.« Er schien nicht zu verstehen, blieb kalt und anscheinend feindlich gesinnt. Als unser Zug weiterfuhr, grüßte er nachlässig, und die Dame lächelte, wie es schien, spöttisch, Einer von uns sagte, das seien sicher amerikanische Millionäre, die vom Krieg am wenigsten wüssten und am meisten verdienten.

Am dritten Tage morgens kamen wir nach Nagoya, einer großen Stadt mit geräumigem Bahnhofe. In der Stadt liegen ebenfalls deutsche Gefangene. Am Bahnhofe sprach uns ein japanischer Zivilist, anscheinend Student, an. »Sprechen Sie japanisch?« Wir antworteten, missgestimmt, mit einem Schwall japanischer Brocken, die uns gerade einfielen und aus denen er wahrscheinlich nicht klug wurde. Er wandte sich enttäuscht ab. Nachmittags passierten wir Shizuoka, wo früher auch deutsche Gefangene lagen. Im Laufe der Jahre hatten die Japaner die Gefangenen von den acht Lagern2 in größere Lager zusammengelegt, sodass bei jeder Auflösung eines Lagers wir von einer baldigen Heimfahrt besonders laut schwärmten in der Meinung, nun müsse was Besonderes in der Luft liegen. Yokohama durchfuhren wir in der Nacht, und am vierten Tage morgens kamen wir durch die weitausgedehnten Vororte von Tokyo, durch unendlich scheinende Reihen der typischen Holzhäuser mit weißen Papierwänden und grauen Dächern. Wir merkten an dem lebhafteren Straßenbetrieb, dem Auto-, Radfahrer- und Rikschaverkehr, dass es hier großstädtisch zuging. Auch waren hier die Verkaufsstände vor den Häusern größer und mit reichlicherem Flitter und Kram aller Art, Papierwaren, Strohschuhen, Getas, Fächern usw. belegt, bunter und reichlicher als in den Dörfern.

Der Zug rollte dann, bei klarem Sonnenschein, auf die weite, braune Ebene hinaus, eine einförmige Gegend, auf der nur einzelne Industrieanlagen und kleine, von Großstadtflitter angehauchte Dörfer verstreut liegen. – Bald sah man auch keine menschlichen Behausungen mehr, sondern nur noch eine Art Moor und Heidewildnis, so weit das Auge reichte. »Jetzt geht's in die Einsamkeit«, sagten wir. Gegen Mittag hielt der Zug an einer kleinen Station (Tsudanuma), wo wir ausstiegen. Zwei Stunden hatten wir bis zu unserem Lager zu marschieren, über die endlos scheinende braune Ebene, die leicht gewellt, teilweise von Laubwaldungen und niederem Gebüsch durchzogen, einen idealen Truppenübungsplatz abgeben mag. Man sagte, das sei Narashino. Ob es eine Ortschaft dieses Namens gibt, habe ich auch nicht herausbekommen.
 

2. Schlechte Nachrichten

Vor uns tauchte das Barackenlager auf, und wir marschierten auf holperiger Feldstraße eine gute Strecke an dem hohen Stacheldrahtzaun entlang und dann durch die breite Toreinfahrt. Zu beiden Seiten standen die uns erwartenden Kameraden, meist aktive, braun und blühend aussehende Leute. Nach kurzer, ziemlich geschäftsmäßiger Empfangsrede, die ein alter, gebrechlich aussehender Dolmetscher in Begleitung einiger Offiziere hielt, wurden wir in die Baracken verteilt und feierten das Wiedersehen mit unseren Bekannten. Sie gaben zu verstehen, dass es hier ein gottverfluchtes Nest sei und wir die Nase bald voll haben würden. Unter anderen meiner Freunde traf ich auch Mittelberger wieder hier, von dem ich vor zwei Jahren in Fukuoka Abschied genommen hatte mit der Hoffnung, dass wir uns in der Heimat bald wiedersehen würden. Da waren wir nun wieder in einer gemeinsamen Heimat beisammen. Er lud mich gleich zum Kaffee in seine Baracke ein. Auch von anderen Kameraden erhielt ich an dem Abend noch Einladungen zu Kirinbier, und ich war schließlich ziemlich angeheitert, als ich mich in meiner Baracke auf dem Bretterboden in die Decken verrollte.

Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Oitalager und hier. Aus außer der weiten, welligen Ebene mit ihren Gebüschen am Horizonte ist hier keine bemerkenswerte Landschaft zu sehen. Der große Stacheldrahtzaun zieht sich in weitem Viereck um die niederen Holzbaracken. Außerhalb des Lagers im Norden liegen einige Baracken für japanische Truppen, im Süden Wälle von Schießständen. Bei schönem Wetter ist weit im Südwesten der bläulich schimmernde Kegel des Fuji-san (Heiliger Berg) mit seiner weißen Schneekappe zu sehen. Er ist etwa 3000 Meter hoch und hebt sich auffallend, majestätisch, von der einförmigen, braunen Ebene ab. Das Meer, dass nicht allzuweit entfernt sein kann, sieht man nicht vom Lager aus. Es liegen etwa tausend Mann hier, in acht Baracken Mannschaften und Unteroffiziere und in zwei Baracken Offiziere. Das Leben scheint fast etwas freier zu sein als im Oitalager; man hat mehr Platz zum Spazierengehen und zu sonstiger Bewegung. Wir haben einen großen Fußballplatz, zwei Tennisplätze, einen Faustballplatz und zwei Turnplätze. Die Japaner kümmern sich anscheinend auch nicht allzuviel um unser Treiben hier. Wenigstens verschonen sie uns vorläufig mit Verordnungen und Befehlen, wie sie in den anderen Lagern an der Tagesordnung waren. Allerdings ist die Kost etwas knapper als im Oitalager. Es sind in einer Baracke auch die dreihundert Österreicher3 von der Kaiserin Elisabeth, darunter nur etwa hundert Deutschösterreicher, die anderen sind Ungarn, Dalmatiner, Kroaten und Slavonier. Der Sport blüht hier in allen Formen. Auch haben sie hier eine große Bibliothek und eine wirklich gute Musikkapelle.

Narashino, 21.9.1918 — Kriegsnachrichten laufen spärlich ein und lauten für uns immer entmutigender. Als mich heute Mittelhuber in der Baracke besuchte und mit der gewohnten Frage »Was Neues?« begrüßte, sagte ich ihm, dass Deutschland eine neue Friedensoffensive eingeleitet habe, keine militärische, sondern eine diplomatische, wie aus der japanischen Zeitung übersetzt worden sei. Da lachte mein Freund bitter und sagte nur: »0h je! Da werden wir um die Ohren gehauen, und frage nicht wie...«

Narashino, 29.9.1918 — Wie soll ich die kleinlichen Begebenheiten im Lager vermerken können, wenn uns die Nachrichten aus dem fernen Europa täglich mehr und mehr in Aufregung bringen! Reichskanzler Hertling ist auf die von Wilson vorgeschlagenen Bedingungen für Friedensverhandlungen eingegangen. Auch in der Frage um Elsaß-Lothringen scheint man in Deutschland nachzugeben. Wie mögen die übrigen Bedingungen erst lauten, wenn man bei uns schon solche Zugeständnisse macht! Wie muss dabei die militärische Lage Deutschlands den Alliierten erscheinen!

Narashino, 9.10.1918 — Umsturz in Bulgarien. Die neue Regierungspartei hat mit den Alliierten einen Waffenstillstandsvertrag abgeschlossen. Der König von Bulgarien ist nach Deutschland geflüchtet. Deutschland schickt eine Armee nach Bulgarien, um zu retten, was noch zu retten ist.

Narashino, 11.10.1918 — Fast niemand mag noch nach Neuigkeiten vom Kriege fragen. Auch die Japaner schweigen sich aus. Es ist, als hielte die Welt den Atem an, bei uns, als fürchtete man, bestätigt zu finden, was gemunkelt wird: Rückzug der deutschen Armeen im Westen.

Narashino, 17.10.1918 — Wir gewöhnlichen Gefangenen können fast keine eigene Meinung über die Kriegslage mehr fassen und lassen die Nachrichten fast kritiklos über uns ergehen. Der Zusammenbruch ist da. Ich zweifle nicht mehr daran. Wer schuld ist daran, ist jetzt einerlei, Es gibt noch viele Kameraden unter uns, gebildete und ungebildete, die nicht an die Niederlage Deutschlands glauben wollen, die den Kopf in den Sand stecken. Sie werfen den anderen, die offen sagen, dass der Krieg für uns verloren sei, unpatriotische Gesinnung vor, verdächtigen sie. Das schafft böses Blut auf beiden Seiten. Die einen sehen voraus, dass die kaiserliche Regierung nicht zu halten sei, dass in kurzer Zeit alle Kampffronten der Mittelmächte zusammenbrechen werden, dass nur mehr eine neue Regierung versuchen kann, möglichst günstige Friedensbedingungen herauszuschlagen; die anderen ergehen sich in Sprüchen vom Weiterkämpfen, Durchhalten, feindlichen Lügenmeldungen. Der ganze Streit ist unnütz, doppelt unnütz bei uns, da wohl kein einziger unter uns sein dürfte, der nicht aufrichtig und leidenschaftlich im Innersten seine Heimat liebt und den Sieg unserer Truppen wünschte. Allerdings nicht alle machten um den Kaiser und seine Trabanten ein so großes Wesen wie einige von unseren Leuten, die sich dadurch unter Protektion von gewissen Offizieren zu stellen und persönliche Vorteile für die Zukunft zu erreichen hofften. Das ist das Hässlichste, dass man sich, im buchstäblichen Sinne des Wortes, um des Kaisers Bart zu streiten beginnt.

Narashino, 3.11.1918 — Wilson will nicht eher verhandeln, bis die Deutschen auf ihrem Rückzuge an der Westfront aufhören, Städte und Dörfer zu zerstören und das Völkerrecht verletztende Grausamkeiten zu begehen. Die Mittelmächte räumen den Balkan. Die Türken haben sich bedingungslos den Engländern ergeben. In Oesterreich ist Revolution.

Narashino, 4.11.1918 — Haarsträubende Nachrichten kommen von der Heimat. Foch hat die Forderungen der Alliierten überreicht. »Wenn Deutschland Frieden haben will, so müssen sich die deutschen Truppen drei Meilen nach Osten über den Rhein zurückziehen. Die deutschen Festungen sollen von den Truppen der Alliierten besetzt werden. Die deutsche Flotte muss verschwinden, gleichgültig wie. Die U-Boote sollen an die Alliierten ausgeliefert werden« usw.

Narashino, 7.11.1918 — Es gehen Gerüchte um von einer Revolution in – Frankreich und England. Bestimmtes darüber können wir nicht erfahren, in den englischen und japanischen Zeitungen steht nichts davon. Brusinski, ein Lagerpolitiker mit zweifelhafter patriotischer Gesinnung, sagte, dass die Gerüchte nur von unseren Offizieren in Umlauf gesetzt wurden, um uns Mannschaften in gute Stimmung zu versetzen oder wenigstens »dämlich« zu machen.

Narashino, 9.11.1918 — Selbst unsere blindesten Optimisten glauben nach den neuesten Nachrichten aus Europa nun an den Zusammenbruch der Mittelmächte. Der Reichstag hat einen Aufruf an das Volk erlassen, in dem es heißt: »Die erste Pflicht ist, die Ruhe zu bewahren!« In der englischen Zeitung »Advertiser« vom 8. November stand, dass man sich in Bayern mit dem Gedanken trage, einen Separatfrieden mit den Alliierten zu schließen. Unsere preußischen Kameraden schimpfen oder lächeln mitleidig über Bayern. Wir Bayern können das verstehen von den Preußen. Leider muss man auch den bayerischen Politikern zutrauen, dass sie noch immer so rückständig sind, sich zeitweise von Deutschland trennen zu wollen und dann von fremden Völkern Achtung oder Vorteile erhoffen. Man müsste sich als Bayer vor allen anderen deutschen Kameraden schämen, wenn die Nachricht vom Advertiser wahr sein würde.

Narashino, 11.11.1918 — Bayern ist Republik geworden. Es wird nichts mit einem Separatfrieden. Das haben die Bayern nun doch eingesehen. An der Wasserkante, in Schleswig-Holstein, Wilhelmshaven und Cuxhaven haben sich »Rote Garden« gebildet. Die Kieler Matrosen sollen gemeutert haben. Unruhen in Berlin, München, Leipzig und Dresden. Der deutsche Kaiser soll entthront, Prinz Max von Baden Reichskanzler sein. Prinz Max hat einen Erlass an die Auslandsdeutschen gerichtet: »Unsere Truppen haben heldenhaft ihre Pflicht getan bis zum Äußersten. Wir müssen, nachdem unsere Verbündeten zusammengebrochen sind, den Kampf einstellen. Der erwartete Sieg ist uns nicht zuteil geworden. Dafür hat Deutschland einen großen moralischen Sieg errungen, indem es den Glauben überwunden hat, dass Macht allein Recht sei. Auf dieser Grundlage, dem Standpunkte der Ungerechtigkeit, können auch die Auslandsdeutschen, deren Herz schwer sein mag, auf die Zukunft des deutschen Volkes vertrauensvoll bauen.«

Soeben kam die Nachricht: »Der deutsche Kaiser ist nach Holland geflohen.« Wir alle, die fanatischen Monarchisten unter uns sowie die gegen die Monarchie sonst Gleichgültigen, sind einfach baff. Alles hätten wir eher erwartet, Kampf des Kaisers gegen die Umstürzler, schlichte Abdankung, Aufruf zur »nationalen Verteidigung« nach französischem Muster von 1870, ja eher noch Selbstmord, als wie Flucht ins neutrale Land. Doch was wissen wir im fernen Osten von den näheren Umständen, die den Kaiser zur Flucht getrieben haben mögen. Es kam auch die Nachricht, dass der Waffenstillstand unterzeichnet sei.

Narashino, 13.11.1918 — Die Waffenstillstandsbedingungen sind uns bekannt. Sie wurden uns aus der japanischen Zeitung übersetzt. Ein Grauen ging wohl durch jeden von uns, als wir die Bedingungen hörten, Ein Reserveoffizier von unserem Lager, Dr. Überschaar, hielt in einer Baracke einen Vortrag über die Lage in der Heimat. Wir hörten still zu, dankbar dafür, dass man uns unterrichtet. Wenn sich mehr Offiziere auch um unser Interesse an der Lage kümmern würden, könnte sich manches Missverständnis zwischen den Parteien, die sich im Lager bilden, leicht aufklären. Dr. U. sprach nur davon, wie der Umsturz in der Heimat vor sich ging, enthielt sich jeder Stellungsnahme gegen eine Regierung oder Partei und schloss: »Bei der jetzigen Lage der Dinge kann man nur wünschen, dass die neue Regierung, deren Kanzler der gemäßigte Sozialist Ebert ist, die Kraft haben wird, die Ruhe im Lande aufrecht zu erhalten.«

Narashino, 20.11.1918 — Aus einer englischen Zeitung wurde übersetzt, König Ludwig III. von Bayern sei von der Revolution überrascht worden, als er im Englischen Garten in München spazierenging. Er sei dann gänzlich unvorbereitet im Auto aus München geflohen. – Diese eigentlich wenig bemerkenswerte Nachricht wirkte auf uns Bayern im Lager wie ein beschämender Schlag, obwohl ja auch der deutsche Kaiser, wie es schien, von der Revolution überrascht worden war. Mein Freund Gleixner, sonst ein fanatischer Verteidiger bayerischer Eigenart und offener Bekenner zur Monarchie, sagte: »Hast gehört? Die Fürsten sind überrascht! Wir in Hintergschertindien wissen vom Krieg nur aus der Zeitung. Wer von uns war noch überrascht? Hat ein König daheim kein Telephon? Hat er keinen Adjudanten und keinen Minister? Sag mir nur grad, wie kann er überrascht werden?« – Wir hoffen, in zwei bis drei Monaten die Heimreise antreten zu können. Aber wo bleibt die gute Stimmung?

Narashino, 1.12.1918 — In den Lagern Nagoya und Bando ist die sogenannte Spanische Grippe, angeblich eine gefährliche Krankheit, ausgebrochen. Dreihundert Gefangene sollen erkrankt und acht in wenigen Tagen gestorben sein. Bei uns ist es zur Zeit sehr kalt, aber wir dürfen unsere Öfen noch nicht heizen. Seit dem Zusammenbruch unserer Heimat behandeln uns die Japaner nicht schlechter und nicht besser. Keine Miene von den Japanern verrät, ob sie sich über den »Sieg« der Entente und die Niederlage der Mittelmächte freuen oder sich einen anderen Ausgang des Krieges erhofften.

Narashino, 6.12.1918 — Maat S. von unserer Kompagnie ist im japanischen Lazarett an Lungenentzündung gestorben. Ich erinnere mich, wie er vor sechs Jahren bei unserer Abreise nach Ostasien am Bahnhofe in Cuxhaven von seiner Braut Abschied nahm, wie sie ihm einen großen Strauß weißer Rosen mitgab und wie sie dann weinend unserem Zuge nachblickte.

(Ein Brief mit trauriger Nachricht aus der engeren Heimat und die [hiernach: zwei durchgestrichene Zeilen] alarmierenden Meldungen über die Niederlage Deutschlands Iießen mir die Weiterführung eines Tagebuches als kleinliche Spielerei erscheinen.)
 

3. Weltuntergangsstimmung

Eine Art Weltuntergangsstimmung herrschte im Lager. Wozu noch ein Tagebuch? Der große Krieg war für Deutschland verloren. Schlag auf Schlag kamen die Nachrichten von der Revolution und den furchtbaren Forderungen der Feinde. War schon der Krieg, wie er in den letzten Jahren geführt wurde, Wahnsinn gewesen, so wurde von den Feinden, die nichts dabei gewonnen hatten, nun der Friede im Wahnsinn diktiert. Konnte man sich noch ehrlich einreden, dass die Feinde nun ihre Macht nicht rücksichtslos gegen Deutschland anwenden würden? Hat der Wahnsinnige noch einen Begriff von Recht und Unrecht?

Andererseits, das niedergedrückte, hungernde deutsche Volk sah seine Rettung nur mehr im Frieden. Es war zudem verwirrt von den Phrase seiner neuen Eührer, die Friede, Freiheit, Brot und Völkerversöhnung versprachen. Die alten Führer, soweit sie nicht geflohen oder sich verkrochen hatten, mochten gut Einigkeit und Widerstand gegen den äußeren Feind predigen, die neuen Führer für Unterwerfung reden, die Folgen sowohl des weiteren Widerstandes wie der Unterwerfung konnte keiner überschauen. Die Ketten waren zunächst unzerreissbar. War es die Gier einzelner Führer in Deutschland, im Lande zur Macht zu kommen, war es persönlicher oder Parteiegoismus oder ehrlicher Wille, die Nation zu retten, was sie bewog, für die Monarchie, für die Republik, für den Weltbolschewismus oder ohne weitere Ziele nur gegen Plünderer und Raubgesindel zu kämpfen? Die Tatsache, dass das Volk das alte Regime nicht verteidigte und sich nur noch mit letzter gesunder Kraft gegen das Chaos, das vom Kommunismus drohte, zur Wehr setzte, war entscheidend für den Sieg der neuen, sozialistischen Regierung. Es kämpfte keine kaiserliche Truppe gegen eine republikanische. Kaiser und König hatten ihren Nimbus verloren, das Volk war sich seiner Zusammengehörigkeit nicht mehr bewusst, war zu schwach, vielleicht auch schon zu misstrauisch gegen die alten Führer, um sich noch zu einem Widerstand gegen den äußeren Feind aufraffen zu können. So kam zwangsläufig die republikanische sozialistische Partei zur Herrschaft [hiernach: eine durchgestrichene Zeile].

So sahen wir Gefangene – weit vom Schuss – die allgemeine Lage. Von meinen Kameraden, die ich näher kannte, war gewiss keiner, der von irgendeiner parteipolitischen Gesinnung verblendet war, keiner, der nicht aufrichtig unseren Sieg gewünscht hätte und der nicht von den furchtbaren Nachrichten aus der Heimat erschüttert war. Wir kannten nicht die näheren Umstände, die Einzelheiten, die zum Zusammenbruch und zur Revolution geführt hatten, und sahen darum ein, wenn auch um die Schuld gestritten wurde, dass dieser Streit müßig war. Aber gerade aus diesem höchst überflüssigen Streiten bildeten sich erst bei uns auch scharfe Gegensätze, politische Parteigesinnungen, die von Nachrichten aus der Heimat weiter genährt wurden. Unter den Mannschaften, soweit diese nicht stumpfsinnig sich mit den Tatsachen abfanden, war ein großer Teil bald mehr oder weniger deutlich der neuen deutschen Regierung zugeneigt, die offenbar noch zu retten suchte, was zu retten war, ein kleinerer Teil, der sich fanatisch für das alte System einsetzte und kaisertreu gebärdete. Doch lösten sich die Streitigkeiten beider Parteien meist in »Wohlgefallen« auf, in der Erkenntnis, dass wir nicht den geringsten Einfluss auf die Lage in Deutschland haben konnten und in Gefangenschaft dieser Streit noch überflüssiger als daheim war.

Es war nur natürlich, dass sich in diesen Tagen voll Spannung mehr als sonst die Aufmerksamkeit der Mannschaften auf die Haltung und Meinung unserer Offiziere, die ja bei uns im Lager waren, richtete. Aber unsere Offiziere hielten sich, wie immer, auch jetzt etwas allzuviel abseits von uns. Bisher war uns dies weniger aufgefallen, ja eigentlich selbstverständlich gewesen, dass wir in erster Linie Untergebene waren, die es als besondere Ehre anerkannten, wenn der Offizier einmal zum Gemeinen als Mensch sprach.4 In diesen Tagen aber suchten die Mannschaften, wenn sie es auch nicht zeigten, den Vorgesetzten als Mensch kennenzulernen. Bei der allgemeinen Achtung, die unsere Offiziere genossen, wäre es für sie leicht gewesen, mit wenigen Worten und unparteiisch uns über die Lage in der Heimat zu unterrichten und unsere Gesinnung wenigsten in einigen Punkten mit ihrer Gesinnung zu vereinigen. Nur an zwei unserer Offiziere erinnere ich mich, von denen jeder einmal einen sachlichen Vortrag über die Lage in der Heimat in einer Baracke hielt. Alles hörte ruhig und gespannt zu, alles war sich einig mit den Vortragenden in der Ansicht, dass wir jetzt nicht auf vergangene Fehler der Kriegsführung und Politik schauen, sondern auf die Stützung der gegenwärtigen Staatsform um der Einigkeit des Volkes und der Aufrechterhaltung der Ruhe willen bedacht sein sollten. Was war auch vorläufig mehr zu wünschen, sagte man sich [hiernach: sieben durchgestrichene Zeilen].

Unglücklicherweise wurde zu der Zeit bekannt, dass aus Ostasien und aus Deutschland eingetroffene Liebesgabenpakete und Gelder, die für die Allgemeinheit bestimmt waren, in krassen Abstufungen unter den Unteroffizieren, Offizieren und Mannschaften verteilt werden sollten und dann auch so verteilt wurden, dass für jeden Mann nur eine Kleinigkeit blieb, während für jeden Offizier und Unteroffizier davon das Dreifache oder Doppelte zutraf. Man witterte eine Willkür von oben und verlangte mitreden zu dürfen bei der Verteilung der Liebesgaben. Unglücklicherweise wurden zu der Zeit auch noch Schiebereien aufgedeckt, die zugunsten einzelner Chargen in der Lagerküche vorgekommen waren. Solche Ungerechtigkeiten waren auch früher, sowohl in Gefangenschaft wie in Tsingtau, vielleicht in kleinerem Maße, vorgekommen und bekannt geworden. Man hatte die krassen Fälle sachlich abgestellt und sich mit humoristischer Kritik begnügt. Nun aber, in den Tagen des Umsturzes, fühlten sich einige Unzufriedene plötzlich berufen, Führer gegen ein »System der Korruption« zu spielen. Die Unzufriedenen erblickten in den »Ungerechtigkeiten« einen Despotismus von oben, die Kritik wurde gehässig, die Kluft zwischen Offizieren und Mannschaften vergrößerte sich. Aber man einigte sich nach langen Verhandlungen auf die Weise, dass die Offiziere den Mannschaften das Recht zusagten, Vertrauensleute zu wählen, und diesen gestatteten, in den »Wirtschaftsfragen« mitzureden, bei der Verteilung von Liebesgaben mitzubestimmen, was der Einzelne bekommen sollte. Die Mannschaften waren wieder zufrieden, aber das ganze Verhältnis zwischen Mannschaften und Offizieren hatte einen politischen Hintergrund bekommen [hiernach: acht durchgestrichene Zeilen].

Jeder Offizier, der von früher her schon nicht gut bei den Leuten stand, wurde nur nachlässig gegrüßt oder ganz ignoriert, wenn man ihm begegnete. Aber trotz allem waren die Mannschaften weit entfernt davon, sich an den Phrasen der radikalen »Volksführer« der Heimat für die neue Zeit, die diese Führer versprachen, zu begeistern. Ja, ein »Genosse« aus unserer Baracke, der einmal allzudeutlich seine Sympathie für die deutschen »Umstürzler« in einer Rede von der neuen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu erkennen gab, wurde sofort und unter einmütigem Beifall aller Barackengenossen hinausgeworfen [hiernach: vier durchgestrichene Zeilen].

Die Allgemeinheit war weitblickend genug, über die kleinen Streitigkeiten, die meist die Magenfrage betrafen und um wirtschaftlichen oder »sozialen« Ausgleich geführt wurden, hinwegzusehen, vor allem das Unglück der Heimat in seiner Gesamtheit ins Auge zu fassen, sich selbst nach Möglichkeit vorzubereiten, um den Kampf in der Heimat, der ein Kampf ums liebe tägliche Brot, um das Notwendigste sein würde, mit gesundem Geist und Körper aufnehmen zu können. Jeder war sich wohl dessen bewusst, dass er einem schweren Kampfe um die Existenz in der Heimat entgegenging, aber jeder harrte auch mit brennender Ungeduld des Tages der Erlösung aus der Gefangenschaft. Hatten wir uns nicht frei und stolz gefühlt, als wir noch in Tsingtau kämpften, und da war noch dazu wenig Aussicht, mit dem nackten Leben davonzukommen! Konnte uns in der Heimat Schlimmeres erwarten? Wir fürchteten nichts... Wenn wir nur erst aus der Gefangenschaft wären, frei!

Wir gaben uns nach Eintreffen der Nachricht vom Waffenstillstand der kühnen Hoffnung hin, in zwei, drei Monaten die Heimreise antreten zu können. Die Nachrichten aus der Heimat lauteten von Woche zu Woche trauriger, Spartakistenkämpfe in Berlin, Leipzig, Halle, München, im Süden Deutschlands und an der Wasserkante. Die deutsche Flotte war nach England ausgeliefert, Deutschland bis an den Rhein von feindlichen Truppen besetzt. Wer mochte in unserem Lager sich noch mit kleinlichen Sorgen, wie sie uns die Verteilung von Liebesgaben oder kühle Zurückhaltung der Offiziere bereitet hatten, herumärgern! Je trauriger die Nachrichten aus der Heimat lauteten, desto brennender wurde unser Wunsch nach Freiheit, unsere Gier nach der Welt der Kämpfenden, unsere Sehnsucht nach unseren Lieben. Aber wir sollten noch lange auf die Erfüllung warten, noch manche Enttäuschung bis dahin erleben.
 

4. Die große Epidemie

Der Januar 1919 brachte ungewöhnliche Schneefälle. Im Lager, das ohnehin auf weltabgelegenem Gelände lag, wo weit und breit auf der von winterlichem Gebüsch umsäumten Ebene außer den Baracken kein Gebäude zu sehen war, fühlte man angesichts der metertiefen Schneemassen die Abgeschlossenheit von der Welt noch deutlicher als sonst. Um diese Zeit trat plötzlich im Lager die bisher nur vom Hörensagen bekannte Krankheit, die genannte Spanische Grippe auf, die zunächst, da man sie für eine gewöhnliche Influenza hielt, weder von den Gefangenen noch von den Japanern besonders beachtet wurde. Nach wenigen Tagen aber lagen von tausend Mann des Lagers etwa neunhundert krank darnieder, und innerhalb zwei Wochen waren 25 Gefangene an der Grippe gestorben. Die von der Krankheit verschont Gebliebenen und die nach kurzer Krankheit Genesenen hatten in diesen äußerst trüben Wochen mit der Pflege der Kameraden alle Hände voll zu tun. Schließlich konnte man nur mehr den Schwerkranken einige Pflege zuteil werden lassen; die übrigen mussten sich meist selbst zu helfen suchen. Auch die Japaner wussten keinen Rat und keine Hilfe mehr, als in jeder Baracke fast alle Insassen mehr oder weniger im Fieber lagen, in ihre Decken gehüllt, hustend und röchelnd und ohne Aussicht auf Hilfe. Der japanische Stabsarzt, der öfters durch die Baracken ging, suchte zuweilen durch Späße die Kranken zu erheitern, wusste keinen Rat, fragte nach Wünschen der Kranken, erhielt die seltsamsten, verworrensten Antworten und lachte abweisend, wenn die meiste Kranken nur Bier oder Schnaps verlangten. Es wurden nur weiße, bitter schmeckende Tabletten verteilt. Es gab aus der Küche nur mehr Schleimsuppe. Einmal ging auch unser Gouverneur Meyer-Waldeck mit seinem Stabschef durch die Baracken, und alles freute sich offensichtlich über das Mitgefühl, das aus den Fragen der Offiziere sprach. Die Schwerkranken wurden meist in kleinen Sonderräumen der Baracken untergebracht. Selten, dass noch einer dieser Kranken lebend aus einem dieser Kämmerchen, die wir bald Totenkammern nannten, herauskam. Als diese Sonderräume nicht mehr ausreichten, verbrachte man die Schwerkranken in das japanische Militärlazarett, wo bereits viele Japaner an der Grippe erkrankt lagen.

In den ersten Tagen des Auftretens dieser Epidemie konnte ich mich um die Kranken bemühen, fiel aber plötzlich, über Nacht, in starkes Fieber und verbrachte vier Tage und Nächte, in Decken gehüllt, auf dem harten Strohsack am Boden liegend, mich nur von etwas Tee und einigen der weißen Tabletten ernährend, größtenteils in einer Art Halbschlaf, mit einem ständigen, widerlich süßlichen Geschmack im Munde und Fäulnisgeruch in der Nase, oft von wilden Phantasien geplagt, mich auf dem Lager wälzend. Ich empfand es kaum, dass sich Kameraden nicht viel um mich kümmern konnten. In meiner Ermattung wies ich, wie mir später gesagt wurde, öfters gutgemeinte Hilfsangebote unwillig ab. Ich werde nie vergessen, mit welcher Sorgfalt und Mühe sich die wenigen Gesunden um ihre Kameraden bemühten, den Kranken Tee, Suppe und Tabletten eingaben, ihre Lippen kühlten und ihr Lager zurechtmachten.

Was konnte man mehr tun, als höchstens noch Trost zuzusprechen oder bei manchem durch Humor und Ungezwungenheit die Täuschung zu erwecken suchen, dass es gut um ihn stand. Wenn zeitweise in unserer Baracke ermüdete und abgespannte Kameraden für kurze Zeit vom Pflegedienst abgelöst waren, setzten sie sich um den schwachgeheizten Ofen, der auf dem Lehmboden in der Mitte der Baracke stand, und sprachen vom Stande der Krankheit. Da hörte man nur wieder: »Der A. ist heute gestorben«, »der X. auch...« »Badet nicht, gebt auf die anderen Obacht!«... Die Kranken hatten scharfe Ohren. Wie irrsinnig starrte manches vom Fieber flackernde Augenpaar auf die Sprecher. Aber sogar komische Situationen gab es. B., ein unermüdlicher Krankenwärter, saß eines Abends mit einigen Kameraden um den Ofen. Man war fast stumm. B. lauschte stumpfsinnig den kurzen pessimistischen Bemerkungen seiner Kameraden und seufzte plötzlich so nebenbei: »Ach ja, wo kämen die Toten her, wenn keiner sterben wollte...« Selbst die Kranken lachten hellauf. W., ein ehemaliger Fremdenlegionär, der ebenfalls unermüdlich im Pflegedienst sich bemühte, war dauernd angeheitert und steckte mit seiner Heiterkeit meist alle an, zu denen er kam. Er lobte stets als unfehlbares Mittel gegen die Grippe den Schnaps. Wo er ihn immer auftrieb, weiß der Teufel. Aber eines schönen Tages war auch W. krank und schon zwei Tage später tot. Jeden Tag wurden ein paar Tote, in einfache Holzsärge gebettet, auf Zweiräderkarren von uns aus dem Lager nach dem nahen Walde gefahren. Dort legte man die Särge mit den Toten auf Scheiterhaufen und verbrannte sie, während ein Offizier oder Mann von uns Gebete sprach. Sonst wurde nicht viel geredet dabei. Doch in manchen Augen standen Tränen. Die Asche jedes Toten kam in eine Urne, um mit uns später nach der Heimat befördert zu werden.

Als ich von meinem Krankenlager aufstehen und mich wieder der Pflege der Kameraden widmen konnte, kam ich öfters dazu, bei Sterbenden, die bereits allein in Sonderräumen waren, Nachtwache zu halten. So kam ich zufällig an das Sterbebett eines meiner besten Kameraden, des Obermatrosen B., der in Fieberphantasien mit keuchender Lunge und weitgeöffneten Augen auf seinem Strohsack lag. Er erkannte mich nicht mehr. Seine flackernden dunklen Augen auf die Barackendecke gerichtet, brachte er unter pfeifendem Atmen stoßweise nur meist unverständliche Worte zwischen den fiebernden bläulichen Lippen hervor. Ich verstand immer nur »Lotte«. So hieß seine Braut, die in Berlin lebte und von der er mir früher oft erzählt hatte. Ich konnte nichts Besseres für ihn tun, als andauernd seine glühenden Lippen mit einem nassen Tuche anfeuchten und immer wieder seine Decken, die er mit Händen und Füßen zerknüllte und verschob, zurechtzerren, wobei er zuweilen zu sich zu kommen schien, mich verwundert ansah, offenbar ohne mich zu erkennen, worauf er dann meist mit irrem, schrillem Lachen wieder in seine Phantasien zurückfiel. Der japanische Arzt machte ihm zuweilen Einspritzungen auf der Brust, die B. aber immer nur für kurze Zeit beruhigten. Als ich in der dritten Nacht den Pfleger im Raume ablösen wollte, war B. schon tot.

Ein anderer guter Bekannter von mir, S., bei dem ich Nachtwache hielt, war zeitweise bei Besinnung, konnte aber nur heiser reden. Er aß dann auch wohl eine Orange oder einen Apfel, hatte aber, wie mir von dem abgelösten Pfleger vorsorglich gesagt wurde, schon einige Male versucht, das Messer, mit dem man die Frucht zerteilte, in die Hand zu bekommen, um sich den Hals abzuschneiden, was er selbst sagte. Auch als ich bei S. war, griff er in einem Augenblicke, in dem ich ihn für ganz vernünftig hielt und ruhig mit ihm sprach, nach dem Messer. Als ich es in aller Ruhe wegräumte, um ihn nicht aufzuregen, sank er mit verzweifeltem Stöhnen zurück, wandte sein Gesicht von mir ab und war nicht mehr zu einem Worte zu bewegen. Auch er war nach zwei Tagen von seinem Leiden durch den Tod erlöst.

Zweimal machte ich einen Totentransport nach dem Walde mit und sah bei der Leichenverbrennung zu. Einmal waren es drei, das andere Mal zwei Särge, die wir auf verschneiter, ausgefahrener und schlammiger Strasse mit Zweiräderkarren hinausfuhren, von japanischen Posten und einigen unserer Mannschaften und Offiziere begleitet. In dem weichen Schnee, der nur zwei schmale Fahrrinnen freiließ und in der aufgetauten, schmutzigen Straße sanken die Räder der Karren oft bis an die Achsen in den Schlamm. Kränze aus Föhrenzweigen mit weißen Papierschleifen wurden mitgeführt. Im Wald angekommen, sah man in einer Lichtung einen etwa 3 Meter breiten Graben, in dem mehrere Stöße Scheitholz zusammengeschichtet lagen. Auf diese Reihe der Scheiterhaufen stellten wir die Särge und legten an diese die Kränze. Ein Offizier hielt eine kurze Ansprache, in der er unser Versprechen zum Ausdruck brachte, die Kameraden nie zu vergessen, und ihnen ein besseres Jenseits wünschte. Ein japanischer Leichenwarter übergoß das Holz mit Petroleum und zündete es an. Unser Offizier sprach ein Vaterunser und aus einem Gebetbuche ein Gebet. Dann blieb alles stumm und sah zu, wie die Flammen über die Särge zusammenschlugen und Holz und Leichen langsam verbrannten. Es dauerte wohl über eine Stunde, bis alles zu einigen Häuflein Asche geworden war, in denen von den toten Kameraden nur mehr einige Knochen zu erkennen waren. Asche und Knochen wurden dann von uns in die bereit gestellten Urnen getan, die im Leichenhaus des Militärlazaretts bis zu unserer Heimreise aufbewahrt wurden.

So überraschend schnell, wie die Grippe sich im Lager verbreitet hatte, so rasch erlosch die Epidemie auch wieder. Mitte Februar hatte wir nur noch wenige Grippekranke, und am 22. Februar fand in der Österreicher-Baracke ein Gedächtnisgottesdienst für die 25 verstorbenen Kameraden statt. Dabei wurde ein von Lagerkünstlern entworfenes Gedenkblatt mit den Namen der Verstorbenen an alle Gefangenen verteilt. Diese Kameraden, die jeder von uns kannte, die mit uns den Gang der Friedensverhandlungen voller Hoffnung verfolgten und wie wir den Tag der Heimkehr nach Deutschland nahe sahen, wird keiner von uns jemals vergessen. Die trüben Winterwochen, in denen der Todesschatten über allen Gefangenen lag, hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck in uns.

Ein von Kameraden gezeichnetes Bild brachte die Tragik unserer Einsamkeit in jenen Wochen zum Ausdruck. Es zeigt die niederen Baracken im Schnee, ein Stück Stacheldrahtzaun; ein Wagen, mit einem Sarge beladen, von vier dunklen, wie schleichend dahingehenden Gestalten begleitet, zieht über den verschneiten Lagerplatz, der wie ausgestorben liegt, einige Raben huschen, wie von Grauen aufgeschreckt, über den Platz, ein schwarzer Wolkenhimmel hängt tief hernieder und fließt am Horizont mit der einförmigen, trostlosen Schneefläche zusammen, verschließt die Welt der Gefangenen vor der Welt der Freien, von der wir kaum mehr zu träumen wagten.
 

5. »Das letzte Jahr in Gefangenschaft«

Ein sonniger Frühling kam. Die Friedensverhandlungen in Europa zogen sich ungewöhnlich lange hin. Von Woche zu Woche schleppte sich unsere Hoffnung auf eine Nachricht vom Friedensschluss dahin. So traurig und gewiss es auch war, dass die Heimat den Frieden, der ihr von den Feinden diktiert wurde, bald auf sich nehmen musste, so erhaben und gewiss war es für uns, dass wir bald in den Strom des freien Leben zurückkehren konnten. Mit der Frühlingssonne lebten im Lager auch Sport und Spiel, Konzertbetrieb und Bühnenkunst wieder auf. Obermaat Millies, ein stiller freundlicher Schleswiger, ehemaliger Dirigent am Konservatorium in Shanghai, gab mit seiner nun etwa 60 Mann starken Musikkapelle fast jeden Sonn- und Feiertag ein großes Konzert, immer nach einem Programm und in einer künstlerischen Vollendung, wie ich es auch später, in Freiheit, besser noch von keinem prominenten Orchester in der Heimat gehört habe. Um die in der hohen Kunst klassischer Musik weniger verständnisvollen Kameraden auch in Stimmung zu bringen, setzte Millies zuweilen »volkstümliche Konzerte« an.

Die Japaner hatten erlaubt, dass eine Bühne im Freien gebaut wurde. Die Gefangenen brachten auf einem der Turnplätze ein großes »Schauspielhaus« aus Brettern fertig, der Zuschauerraum war allerdings der freie Turnplatz, ungedeckt, hatte aber den Vorteil, dass alle Gefangenen und die vielen japanischen Gäste, die sich immer für unser Theater interessierten, gute Aussicht auf die Bühne hatten. Es gab unter anderem Ibsens »Die Stützen der Gesellschaft«, »Gespenster«, Goethes »Die Geschwister«, Ludwig Thomas »Erste Klasse«. In diesem Schwank spielte Intendantur-Rat Grießmeyer, ein Altbayer, den Josef Filser so gut, dass selbst die Japaner, Offiziere wie Mannschaften, vor Lachen brüllten. Selbstverständlich gab es auch Varietéabende, an denen Akrobaten, Tänzer und »Tänzerinnen«, Zauberkünstler, Kunstturner und Clowns auftraten. Hier spielten einige Ungarn von der Kaiserin Elisabeth mit ihren Nationaltänzen eine große Rolle. Eine gefeierte Person war auch der Reservist Sato, ein Rheinländer, als »Kölscher Tünnes«. Rezitationsabende wurden abgehalten, an denen Offiziere wie Mannschaften meist klassische Gedichte oder auch Prosadichtungen vortrugen.

Den tiefsten Eindruck machten aber wohl die von unserem Sängerchor unter Mitwirkung des Gesamtorchesters vorgetragenen Lieder: »An der schönen blauen Donau« (Donau so blau, so schön und blau...), Schuberts »Deutsche Tänze« (Hörst du der Fiedel hellrufenden Klang...), »Am Wörthersee« (Bua sei g'scheit, fahr nit z'weit...). Als hervorragender Solosänger zeigte sich Kapitänleutnant Freiherr von B., besonders mit seinem Goetheschen Liede »Lasst mich nur auf meinem Sattel gelten...« (West-östlicher Diwan: Freisinn), sowie Obermatrose W., der Gesangsdirigent, mit dem Liede von F. Freiligrath: »Zelte, Posten, Werdarufer, lust'ge Nacht am Donauufer...« Ein besonderes Verdienst um die Unterhaltung der Gefangenen erwarb sich Kapitänleutnant G., der genannte Filserspieler, indem er die sogenannten Filserabende einführte. Da wusste er den Briefwexel eines bayerischen Abgeordneten so vorzulesen, dass die Landsleute aus allen deutschen Gauen, wenn manche auch nicht alles wörtlich verstanden, einen Riesenspaß hatten und im Lager sich einzelne kräftige Redewendungen des Ökonoms Filser einbürgerten und lange hielten.

Viel Ablenkung von dem allgemeinen Elend des vergeblichen Wartens auf die Freiheit brachten auch Sport und Spiel. Wir hatten »offiziell anerkannte« und »wilde« Turnvereine, Fuß- und Faustballmanschaften, einen Fußballplatz, zwei Turnplätze und einen Faustballplatz. Es gab da Wettspiele, große »Entscheidungskämpfe«, Schauturnen, es gab Sportfanatiker, die sich scheinbar, nur scheinbar, um keine Nachricht von der Heimat und um keine Politik mehr kümmerten, und wer diese Sportskanonen länger und tiefer beobachtete, konnte oft bemerken, dass sie ihre Wut über die traurige Zeit am Fußball, Faustball oder in den verwegensten Turnkunststücken ausließen. Immerhin waren Sport und Kunst die wirksamsten Mittel, kleinliche Streitigkeiten unter Kameraden und zwischen Vorgesetzten und Mannschaften vergessen zu lassen, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu erhalten, Geist und Körper noch frisch zu halten. Auf die Dauer aber konnte es auch unser großer Kunst- und Spielbetrieb nicht verhindern, dass immer mehr Gefangene wieder die Köpfe hängen ließen, sich zeitweise vom Umgang mit den anderen absonderten, sich in wirre, fixe Ideen zu verlieren schienen und manchmal wie geistesabwesend im Lager herumirrten.

Hatte er eine daheim eine Jugendliebe, die nichts mehr von sich hören ließ, so hatte ein anderer schlimme Nachrichten von den Lieben, von Todesfällen, wirtschaftlichen Nöten, zerstörten Hoffnungen und weiß Gott was erhalten. Wer wußte, was manchen Kameraden seelisch zermürbte. In den meisten Fällen war es das ständige Bewußtsein, allen Ereignsisen, von denen man aus der Heimat hörte, untätig zusehen zu müssen. Es war Ende Mai 1919 geworden, und man hörte noch nicht das geringste, was auf eine baldige Befreiung von unserer Lage hoffen ließ. Die Anzeichen der zunehmenden seelischen Depression mehrten sich. Innerhalb kurzer Zeit waren mehrere Selbstmordversuche vorgekommen. Jeder beobachtete scharf die Kameraden, die durch seltsames Benehmen, allzuvieles Träumen oder auffallende Lustigkeit zu zeigen schienen, das sie die Kraft verloren, ihr seelisches Gleichgewicht zu halten. Japanische Anordnungen wurden nachlässig befolgt oder auch ignoriert, ungebührliches Benehmen gegen japanische Offiziere oder Posten war an der Tagesordnung. Es gab viel Arreststrafen, aber manchem Gefangenen schien Arrest oft nur eine angenehme Abwechslung zu sein.

Die Zunahme der gedrückten Stimmung mochte schließlich auch den Japanern aufgefallen sein. Es wurde Arbeitsdienst angeordnet, der außerhalb des Lagers getan werden sollte und im Abtragen von alten Schießstandwällen, Umgraben von größeren Rasenflächen und Gräbenziehen auf dem Truppenübungsplatz bestand. Ein Teil des Übungsplatzes sollte urbar gemacht werden. Täglich sollten von jeder Baracke 30 Mann, im ganzen also etwa 200 Mann, von morgens 8 bis 12 Uhr und nachmittags von 2 bis etwa 6 Uhr draußen mit Spaten und Pickel arbeiten. Es hieß, das pro Mann und Tag 2 Sen (4 Pfennig) Lohn gewährt würde, der jedoch nicht ausbezahlt, sondern als Küchenzuschuss verwendet werden sollte. Zunächst schimpfte natürlich alles über die Zumutung, dass wir für die Japaner arbeiten sollten und über die zweifelhafte Vergütung. Im Grunde aber war wohl jeder auch froh, nun einige Tage aus dem Lager zu kommen, wenn auch mit Pickel und Spaten und unter Bewachung. Die Arbeit war ja verhältnismäßig leicht, das Wetter Tag für Tag heiter, und die Aufsichtsposten drängten im Allgemeinen nicht zu großen Leistungen Nach mehreren Arbeitswochen empfand man es als misslich, dass man sich die wenigen Kleider, die man besaß, bei der Arbeit verdarb und dass das Leben nicht besser wurde, obwohl die Japaner unseren Arbeitslohn angeblich unserer Küchenverwaltung zukommen ließen. Als sich unsere Vertrauensleute im Büro darüber beschwerten, dass keine bessere Kost geliefert wurde, sagte der japanische Dolmetscher, die Lebensmittel seien teurer geworden, durch den Arbeitslohn könne aber unsere Verpflegung auf dem alten Stand erhalten bleiben, sonst würde das Essen schlechter werden. Immerhin war die Arbeit in der freien Natur für uns eine angenehme Abwechslung. Die Frühlingsluft, die Scholle, der frische Erdgeruch, das gab neuen Lebensmut.

»Es gibt keinen Zufall.« Ich glaube, Wallenstein sagt es in dem bekannten Drama von Schiller. Es war ein schwüler Tag, Ende Juni 1919. Schwarze Gewitterwolken zogen über den Truppenübungsplatz Narashino und unser Lager auf, mit Blitz und Donner. Ein Wolkenbruch ging nieder und kühlte die Luft gegen Mittag etwas ab. Abends strahlte die sinkende Sonne wieder in voller Pracht über die weite gewellte Ebene, während die dunklen Wolken langsam nach Osten abzogen. Vor dieser Wolkenwand erstand ein herrlicher Regenbogen mit seltsam klar abgegrenzten Farbenstreifen. Wohl eine Stunde stand der Bogen in unverminderter Leuchtkraft und Schönheit im Osten. Allen Gefangenen fiel das prachtvolle Himmelsbild auf, und einige meinten scherzhaft, dass könne ein Zeichen sein, dass der Friede in Europa geschlossen sei. Allzulange hielt sich jedoch niemand mit der Bewunderung des Naturschauspiels auf, und es war am nächsten Tage wohl schon vergessen.

Zwei Tage darauf kam die Nachricht, der Friede sei am 28. Juni in Versailles unterzeichnet worden. Einigen von uns fiel der Regenbogen wieder ein. »Wann war er zu sehen?« fragte man. »Vorgestern.« »Nein, am Tage vorher.« Es stimmte: Am 28. Juni sahen wir den herrlichen Regenbogen über dem Lager. »Zufall«, sagten die meisten und hatten auoh diesen Zufall bald wieder vergessen.

Nach dem Eintreffen der Nachricht von der Unterzeichnung des Friedens wurde im Lager wieder mehr als gewöhnlich politisiert. Alles schien nun wieder mehr als in den vorhergegangenen, stillen Wochen im Geiste an den Vorgängen der Heimat beteiligt zu sein. Das Leben rief. Die Freiheit schien endlich in absehbare Nähe gerückt zu sein. Jeden Tag erwartete man die Nachricht, dass wir in zwei, drei Wochen die Heimreise antreten könnten. Die Zeitungen meldeten auch schon, dass aus England und Frankreich Gefangenentransporte nach Deutschland abgegangen seien. Aber die Wochen vergingen und wir hörten nicht das Geringste, was auch nur darauf hindeutete, dass sich die deutsche Regierung oder Japan darauf vorbereitete, uns nach der Heimat zu bringen. Die Heimat hatte wohl weder genügend Transportmittel noch Geld noch Kredit noch Zeit, den Heimtransport aller Gefangenen zugleich in Fluss zu bringen. Man musste sich mit der Tatsache der verarmten Heimat abfinden und musste wieder warten und Tee trinken. Die Japaner behaupteten, von ihrer Seite aus bestehe kein Hindernis für unsere Freilassung. Es vergingen die Monate Juli und August, die Nervosität der Gefangenen nahm sichtlich zu. Man hörte nichts von Heimreise. Einzelne sprachen kühn die Meinung aus, es könne noch ein Jahr dauern, bis Deutschland für uns Dampfer zur Verfügung habe oder Dampfer von fremden Ländern chartern könne. Vielen wurde diese Ansicht bald zur fixen Idee. »Noch ein Jahr!» Gegen den Gedanken dieser Möglichkeit konnte man kaum mehr mit Ruhe ankämpfen. Die Depression der Gemüter musste sich auf irgendeine Weise entladen.

Ende August »kriselte« es im Lager. Wir wollten uns bemerkbar machen. Aber wie konnten wir dieses? Wir waren bisher fast täglich bei drückender Hitze mit Spaten und Pickel zur Arbeit gegangen, die nach wie vor nicht entlohnt wurde. Da es auch keine bessere Kost gab, fand man bald einen Grund, die Wut nicht über die Arbeit oder über die mangelhafte Kost, sondern über die Nachlässigkeit der Regierungen, auszulassen. Wir beschlossen, die Arbeit zu verweigern, zu streiken. Mochte kommen, was da wollte, eine Abwechslung würde es immerhin geben, sagte man. An einem schönen Morgen, als das Hornsignal am Lagerplatze, das den ersten dreißig Mann der X-Baracke galt, ertönte, trat kein Mann zur Arbeit an. Der Hornist war überrascht und blies das Signal noch einige Male, aber niemand kam. Die Posten verständigten den Oberleutnant Tanaka, der im Büro Dienst hatte. Tanaka und der alte Dolmetscher kamen im Geschwindschritt in die Baracke, wo die Leute seelenruhig beim Tee, Kartenspiel oder bei häuslichen Arbeiten saßen. »Warum treten Sie nicht zur Arbeit an?«, fragte der Dolmetscher den nächstbesten Gefangenen. »Weil Friede ist.« »Sie?« »Und Sie?« Jeder gab die gleiche Antwort: »Weil Friede ist.« Tanaka alarmierte die Wache und die dreißig Streikenden wurden in den Arrest abgeführt. Einfache Lösung, zu einfach für unser Sensationsbedürfnis. Im Arrest hatten wohl nicht viel mehr Gefangene Platz. Bei uns war die Parole ausgegeben: »Keiner geht zur Arbeit, mag kommen was da will!« Der älteste Feldwebel von uns wurde ins Büro geholt, wo die Japaner nun verhandelten. Nach etwa einer Stunde ertönte das Hornsignal zum allgemeinen Appell. Alles trat an. Tanaka ließ uns durch den Dolmetscher bekanntgeben, wir sollten sowieso nur noch zwei Tage draußen arbeiten, er hoffe, dass wir vernünftig sein werden, und er warne uns vor Widersetzlichkeiten. Das klang versöhnlich. Unsere Rädelsführer des Streiks machten auf unser Anraten den Vorschlag, wir seien bereit, noch zwei Tage zu arbeiten, aber nur, wenn die dreißig Mann aus dem Arrest beifreit wurden. Unser Feldwebel verhandelte wieder lange mit den Japanern. Wir durften wegtreten. Die Arrestanten kamen nachmittags frei und – wir arbeiteten noch zwei Tage. Mein Freund Gleixner sagte: »Da sieht man wieder, wie gut sich Deutsche und Japaner verständigen können. Wären wir bei den Franzosen gefangen, da hätten wir was erlebt.« Wir alle fanden auch diesen »Kompromissfrieden« geradezu rührend, sodass die Allgemeinheit wenigstens im Hinblick auf unsere Behandlung durch die Japaner wieder zufrieden war.

Der Sommer 1919 verging, nichts rührte sich, was auf unsere Heimkehr hindeutete. Inzwischen waren die Elsass-Lothringer aus unserem Lager entlassen und vom französischen Gesandten in einer Baracke außerhalb des Lagers empfangen worden, da sie ja nun nach dem Friedensvertrag französische Staatsangehörige waren. Es war ein seltsamer Abschied gewesen. Als sie zum Tore hinaus marschierten und wir ihr Abschiedswinken erwiderten, merkte man, dass noch Kamerad zu Kamerad, Mensch zu Mensch grüßte. »Wir können es nicht ändern«, riefen einige noch zurück. »Wir vergessen Deutschland nicht, wir bleiben eure Kameraden...« Auch die Gefangenen, die in den Abstimmungsgebieten, in Deutschpolen und Schleswig-Holstein, beheimatet waren, konnten im September 1919 die Heimreise antreten. Mit ihnen ging auch unser Musikdirigent, Obermaat Millies, als Schleswig-Holsteiner von uns fort. Er und ein älterer, ergrauter Seebär, ein Original von einem Nordseefischer, wurden beim Abschied besonders gefeiert. Ihr letzter Gruß, als sie zum Tore hinausgingen, war: »Schleswig-Holstein up ewig ungedeelt!«

Eine kleine Lagersensation brachte uns noch Ablenkung von der allgemeinen Missstimmung, die wieder überhand genommen hatte. W., ein ziemlich robuster Schlesier, ging eines Abends nach 9 Uhr noch außerhalb der Baracke rauchend spazieren, wurde von einem Posten, vielleicht etwas unsanft, angehalten und zum Mitgehen nach der Wache aufgefordert. W. setzte sich zur Wehr, kam mit dem Posten ins Handgemenge und entriss ihm das Gewehr. Auf das Geschrei des Postens kamen sechs oder acht Mann der Wache angestürmt, und unser Held schlug mit dem erbeuteten Gewehr um sich, warf dieses schließlich in den Drahtzaun, flüchtete in die dunkle Baracke und wurde dort von den Posten nicht mehr gefunden oder nicht mehr erkannt. Am nächsten Morgen wussten alle Gefangenen bald von der nächtlichen Raufszene, auch, dass W. der Held war. In allen Baracken und besonders in der Lagerkantine wurde der Fall viel besprochen und belacht. Sogar der japanische Kantinenwirt wusste, wer der Übeltäter war, vorsprach aber, ihn nicht zu verraten. »Ich wissen, die große Mann mit die dicke Gesicht, von Seebataillon, ich nichts verraten«, sagte der Japaner, der schon wegen seines Geschäfts zu uns hielt. Er verriet wirklich nichts. Die Wache war an dem Morgen sichtlich grimmig gelaunt. Ein Posten hatte die Hand verbunden, einige andere sah man mit »blauen Augen« herumlaufen, Man tat besser, jedem von der Wache aus dem Wege zu gehen. Das Lagerkommando hüllte sich noch in Schweigen. Oberleutnant Tanaka lief mit eiserner Miene in den Baracken herum, sah sich alle Leute scharf an, fragte aber nichts, Das war Gewitterschwüle.

Erst nachmittags ertönte das Signal zum Antreten. »Am Fussballplatz, in einer Reihe im Viereck, nicht am Appellplatz!« wurde befohlen. Die Aufstellung war seltsam. Der Dolmetscher, der Lagerkommandant, den wir sonst selten zu sehen bekamen, und mehrere andere Offiziere, darunter der Stabsarzt, erschienen am Platze. Der Kommandant, der wenig Deutsch konnte, ließ durch den Dolmetscher bekanntgeben: »Jeder Gefangene muss Hose, Schuhe und Strümpfe ausziehen.« Etwas überrascht, aber unter allgemeiner Heiterkeit führten wir den Befehl aus und standen ungefähr wie schottische Hochländer in Nationaltracht da. Man hörte – oder erriet vielmehr –, die Posten hätten angegeben, der widerspenstige Gefangene sei bei dem Raufhandel an den Beinen verletzt worden und müsse an den Verletzungen erkennbar sein. Aber W. hatte vorgesorgt. Wohl eine Stunde lang suchten die Japaner an den Beinen der tausend Gefangenen herum. Etwa zwanzig Mann, durch Beinverletzungen verdächtig, wurden aus der Reihe geholt und ins Büro verbracht. W., der wohl mit gemischten Gefühlen in der Reihe stand, war nicht bei den Verdächtigen. Er hatte seinen blauen Fleck am Bein mit rosafarbenem Zahnputzpulver, das uns die Japaner immer lieferten, so kunst-, vielmehr naturgerecht überschmiert, dass er nicht aufgefallen war. Von den Verdächtigen war natürlich nichts herauszukriegen. Bei den meisten stimmte schon die Personalbeschreibung nicht, die die Posten von dem Täter abgegeben hatten. Alle aber wussten selbstverständlich anzugeben, wie und wo sie sich ihre Verletzungen zugezogen hatten: bei der Arbeit mit Pickel und Späten, beim Fußballspiel, beim Turnen... Der Lagerkommandant zog schließlich die ganze Affaire ins Spaßhafte und ließ unserem Feldwebel sagen; »Die Deutsehen sind doch sehr schlau.« Aber ein dickes Ende kam noch nach, für alle. Die eingelaufene Post wurde einige Wochen lang im Büro zurückbehalten, und es gab einige Wochen lang fast jeden zweiten oder dritten Tag Nachtappell; meist um Mitternacht, wenn alles im tiefstem Schlafe lag, schmetterte der Hornist das Signal zum Antreten über den Hof. War die Postsperre auch besonders schmerzlich empfunden, wir freuten uns schimpfend, wieder eine Abwechslung zu haben, wie mancher Kranke von dem nächstbesten Experiment, mag es eine Rosskur sein, Besserung seiner Lage erhofft. Und wieder schienen uns einige Wochen rascher zu vergehen.

Im November 1919 kam die große Nachricht, in Tokyo fänden Verhandlungen über die Charterung japanischer Dampfer zwecks Heimtransport der Gefangenen statt. Der Schweizer Gesandte sei Vermittler zwischen der deutschen und der japanischen Regierung5. Bei uns zeigte sich äußerlich kaum noch besondere Aufregung über die Nachricht. Große Erwartung und Freude können verstummen machen. Die innere Bewegung jedes Gefangenen zeigte sich höchstens in einem Aufleuchten der Augen, einem stillen Lächeln von eigener Art, wie man es von Menschen sehen kann, die gelernt haben, sowohl einem großen Glück wie großer Gefahr mit Ruhe entgegenzusehen. Zu übergroßen Gefühlsausbrüchen ließ man sich bei uns nicht mehr so leicht hinreißen, im Voraus schon gar nicht. Die jahrelang stumm ertragene Erbitterung über die verlorene Zeit ließ keine »Vorfreude« mehr aufkommen. Wir waren vorsichtig im Schwärmen geworden. Es war äußerlich auch keine besondere Veränderung in der Stimmung bemerkbar, als endlich auch die Nachricht kam, Ende Dezember würden die ersten Gefangenentransporte aus Japan abgehen. Es wurde Fußball gespielt, politisiert, musiziert, geturnt, über kleine Unannehmlichkeiten im Lager geschimpft wie bisher. Es war, als würde jeder ein großes Geheimnis im Innern hüten, jedem zeigen, er glaube nicht an das Wunder der Freiheit. Anfang Dezember hieß es: »Am 27. Dezember werden zwei große Dampfer mit Gefangenen von Japan nach Deutschland abgehen. Die Gefangenen von Narashino kommen mit einem dieser Dampfer weg. Die beiden letzten Dampfer werden Mitte Januar abgehen.«

Schließlich wurde noch bekanntgegeben, zwanzig Mann von unserem Lager müssten noch bis Mitte Januar auf den Abgang des dritten Dampfers warten. Die Japaner stellten uns anheim, uns selbst darüber einig zu werden, wer von uns noch für die paar Wochen zurückbleiben wollte. Natürlich wollte keiner. Große Beratungen begannen, und man fand einen Ausweg: Es wurde eine Geldsammlung abgehalten, die eine ansehnliche Summe ergab, für die man dann zwanzig Freiwillige zum Warten fand. »Einige Wochen früher oder später daheim, was macht es schon aus«, sagten sie. Mir schien ihr Entschluss dennoch heldenmütig.

Am 24. Dezember 1919 leuchtete der Himmel klarblau über dem Truppenübungsplatz Narashino; die Luft war mild, und die Sonne schien warm wie im Frühling. Auf der weiten braunen Ebene um das Barackenlager herrschte seltsame Stille, und die niederen, herbstlichen Gebüsche, die am Horizonte träumten, konnten melancholisch stimmen. Weit im Norden ragte der bläulich flimmernde Kegel des Fuji-san mit seiner Schneekappe über die gelben Gebüsche in den hellblauen, sonnigen Himmel.

Im Barackenlager war großes Aufräumen. Wir packten unsere Bordkisten und Kleidersäcke für die Reise nach der Heimat. Die Welt war uns wieder heiterer geworden. Draußen lockte die Freiheit. Was waren noch Baracken und Drahtzäune! Morgen war der große Tag! Morgen ging es auf nach der Heimat. Wer dachte noch an anderes? Auf Befehl der Japaner mussten die Baracken nach der japanischen Kasernenordnung aufgeräumt, alle von uns angebrachten Einrichtungsgegenstände entfernt werden. Wir rissen unsere Schreibtischchen und Wandschränke ab, machten Kleinholz davon, schlichteten es säuberlich auf, säuberten Wände und Boden noch einmal gründlich. Nie arbeiteten wir gewissenhafter und fröhlicher als an dem Tage. Die Posten und Offiziere sahen uns schmunzelnd zu. Abends sah man in den Baracken nur noch die leeren gelben Holzwände, die blanken Lehmböden mit den ausgerichtet stehenden Tischen und Bänken, an den Seiten die Bretterböden mit den roten japanischen Wolldecken, unsere gepackten Kisten daneben und – Gefangene mit geradezu feierlichen Gesichtern.

Heiliger Abend war. Niemand dachte noch an eine Feier. Wozu noch äußerlich feiern! Ziemlich still saßen wir beisammen. Geschenke von den Japanern wurden verteilt. Der japanische Frauenverein vom Roten Kreuz hatte für jeden Gefangenen zwei Kunstdruckbilder mit Widmung in japanischer Schrift gestiftet, die japanische Regierung für jeden Gefangenen ein Teeservice aus feinem Porzellan. Wir verpackten die Sachen sorgfältig in unsere Kisten. Spät in der Nacht legten wir uns zum letzten Mal auf unser hartes Lager in der Baracke. Draußen blies uns zum letzten Male der japanische Hornist das uns wohlbekannte Signal zum Zapfenstreich, das in einem langgezogenen, immer schwächer werdenden Tone verklingt. Im Geiste hörten wir die Weihnachtsglocken der Heimat. Heiliger Abend war.
 

Anmerkungen

1. Lechner war weder Feldwebel noch Lagerältester. Das Namensproblem stellt sich im Folgenden häufiger, wobei es nicht klar ist, ob der Verfasser für einige Leute Spitz- oder Ersatznamen statt Klarnamen verwendet hat oder schlicht ein Schreibfehler vorliegt. Der Redakteur verzichtet auf weitere Anmerkungen in solchen Fällen.

2. Richtig ist, dass anfänglich zwölf Lager bestanden bzw. vor der Verlegung nach Narashino noch acht.

3. Hier liegt eine Verwechslung vor: Die Zahl 300 bezieht sich auf das Lager Aonogahara; in Narashino waren nur 46 österreich-ungarische Staatsangehörige, wovon die meisten ebenfalls Anfang August 1918 aus Kurume dorthin verlegt wurden.

4. Die eigentlich erstaunliche Einschätzung, es sei »eine besondere Ehre« für einen einfachen Soldaten gewesen, vom Offizier »als Mensch« angesprochen zu werden, wird vom Verfasser nicht weiter kommentiert.

5. Die Schweiz handelte hierbei – seit April 1917 – als diplomatische Schutzmacht für die Deutschen; Österreich-Ungarn wurde durch Spanien vertreten.
 

© Jakob Neumaier: für diese Fassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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