Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Wirtschaft und Kultur Tsingtaus

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»Der letzte Konzertbericht aus Tsingtau« [1914]

von Dr. Georg Crusen

  1. Einleitung
  2. Bericht

 

I. Einleitung

Nach dem Willen der Reichsleitung sollte Kiautschou auch ein »Schaufenster« sein, welches im Fernen Osten die Leistungen Deutschlands auf wirtschaftlichem, aber auch auf kulturellem Gebiet zeigte. Darüber hinaus war es ein wichtiges Anliegen sowie der Marineleitung als auch der Gouvernementverwaltung vor Ort, die Attraktivität Tsingtaus zu fördern, um deutsche und internationale Neubürger zu gewinnen.
Besonders gut entwickelte sich bis Kriegsausbruch das Musikleben im Pachtgebiet. Es wurde durch eine Reihe engagierter Bürger getragen, die sich im »Verein für Kunst und Wissenschaft« (VKW) organisierten, und enorm gestärkt durch die Präsenz eines Orchester, das aus den Hoboisten des III. Seebataillons gebildet wurde und unter der Leitung von Otto K. Wille nicht nur am Ort, sondern auch in den angrenzenden Regionen Konzerte gab.
Der langjährige VKW-Vorsitzende Dr. Georg Crusen, im Zivilberuf Kaiserlicher Oberrichter, hat für die führende deutsche Musikzeitschrift »DIE MUSIK« regelmäßig aus Tsingtau berichtet. Seinen hier vorliegenden letzten Bericht schrieb er noch während der Belagerung der Stadt durch die Japaner.

Der Entschluss zum Abdruck des Artikels wurde durch eine Zuschrift des Göttinger Musikwissenschaftlers Dr. Steffen Fahl ausgelöst. Der Original-Artikel wurde in »DIE MUSIK«, 14. Jahrgang (1914/15), 2. Februarheft 1915 [= Band LIV], S. 175-176 veröffentlicht. Der Redakteur hat den Text stärker gegliedert und Anmerkungen hinzugesetzt.
 

II. Bericht

TSINGTAU (Kiautschou), den 19. Oktober 1914.

Aus einer vom Feinde belagerten und seit zwei Monaten vom Verkehr mit der Außenwelt abgeschnittenen Festung lassen sich Konzertberichte schlecht schreiben. Die Stimmung fehlt, und die Aussicht der Ankunft an die Adresse der verehrlichen Redaktion ist gering.1 Wenn ich trotzdem meine Chronistenpflicht zu erfüllen versuche, so tue ich es, weil gerade aus der letzten Zeit Erfreuliches zu berichten ist.

Während in früheren Jahren die wenigen Konzerte, auch wenn die Namen tüchtiger Kräfte das Programm zierten, schlecht besucht waren, fanden die erheblich vermehrten musikalischen Veranstaltungen nicht nur guten Besuch, sondern auch die lebhafte Anteilnahme eines zum großen Teil aus Stammgästen bestehenden Publikums. Und zwar gilt das nicht nur für den Verein für Kunst und Wissenschaft, dessen Mitglieder freien Eintritt haben, sondern erfreulicherweise auch für alle Konzerte der Bataillonskapelle (einschließlich der populären).

Herr O. K. Wille hatte sich für die letzten vier Symphoniekonzerte an größeren Werken zur Aufgabe gesetzt: die Phantastische Symphonie von Berlioz, Beethovens Erste, Raffs »Lenore« und Haydns G-dur No. 13; kleinere Werke wie das »Meistersinger«-Vorspiel, Liszts Preludes, Ouvertüren von Mozart und Cherubini, Humperdincks »Königskinder«-Vorspiel, Luiginis Ägyptisches Ballett umrahmten sie, und zweimal sorgten Solisten für Abwechslung. Beide erschienen am Flügel: der fleißige und technisch begabte Karl Bicknese (Mitglied der Kapelle) spielte Webers Konzertstück, und die talentvolle Magda von der Leithen aus Shanghai machte das Publikum mit Griegs a-moll-Konzert bekannt.2

Aus dieser benachbarten Großstadt hatte auch der Verein für Kunst und Wissenschaft, dessen 24. Konzert den Romantikern (Schubert, Mendelssohn, Schumann), und zwar ihren typischen Klavierwerken gewidmet war, die Solistin für sein 25. Konzert gebeten, die junge Geigerin Margaret Richard, die außer einigen Kleinigkeiten Bruchs klangvolle Romanze und die interessante, aber nicht besonders dankbare d-moll-Suite von Eduard Schütt spielte. Vorher sang der Gemischte Chor unter Leitung des Berichterstatters den »Sommerabend«, Liederkreis für Chor, Soli und Klavier von Robert Kahn, und verschaffte dem formvollendeten, melodiösen Werke einen vollen Erfolg. Um die Solopartien hatten sich Minna Brücher, Elsa Schindewolf, August Meinke und Robert Berger, um die Begleitung Dr. Erich Michelsen verdient gemacht. Die Aufführung hatte ein heiteres Nachspiel: ein Moralfex beschwerte sich in der Presse über die Aufführung derartig »schamloser Dirnenlieder«; der damals noch lebende feinsinnige Dichter des harmlosen Textes, Christian Morgenstern, würde darüber einigermaßen überrascht gewesen sein.

Die nächsten beiden Konzerte brachten Werke für zwei Klaviere: Saint-Saens' Variationen über ein Thema von Beethoven, Mozarts D-dur Sonate und die Haydn-Variationen von Brahms (Ausführende: Herren Dr. Michelsen, Rosenberger, Berger und Dr. Crusen) und einen Versuch, die hiesigen Musikfreunde in das Verständnis der hier noch völlig unbekannten Symphonien Bruckners einzuführen. Es gelangten in vierhändiger Klavierbearbeitung zur Aufführung: der zweite und erste Satz aus der »Siebenten« (E-dur) und das Scherzo aus der Sechsten (B-dur) Symphonie, denen das Publikum mit Interesse folgte. Zwischen den Nummern waren Gesangvorträge eingeschoben: Arie aus der Krönungskantate von Konstanz Berneker (Emma Nicolai), zwei Lieder von Liszt (August Meinke) und Gebet der Elisabeth aus »Tannhäuser« (Anna Tostmann).

Den Schluß der Spielzeit bildete eine Aufführung der »Jahreszeiten« von Haydn. Robert Berger (Simon), Anna Tostmann (Hanne) und Julius Hammer (Lucas), ferner die Kapelle des III. Seebataillons und der Gemischte Chor bemühten sich unter Leitung des Berichterstatters, die unvergänglichen Schönheiten des sachgemäß gekürzten Werkes dem zahlreichen und beifallsfreudigen Publikum zu übermitteln.

So konnten wir am Ende einer erfolgreichen Spielzeit den hiesigen Musikfreunden für den nächsten Winter ein 18 Konzerte umfassendes Programm vorlegen,3 dessen Ausführung weniger der große Krieg, als die unerwartete Teilnahme Japans daran nun verhindert. Augenblicklich regiert Mars die Stunde, und die einzige hörbare Musik ist die der Fliegerbomben, der Schrapnells und der Granaten beider Parteien. Bis diese Zeilen gedruckt werden können, ist das Schicksal der Kolonie längst entschieden. Aber selbst wenn sie, was wir alle holfen, deutsch bleibt, werden wir auch mit allen Kulturbestrebungen fast von vorne anfangen müssen; mancher der Mitwirkenden wird fehlen, und das Publikum wird auf lange Zeit hinaus andere Interessen und Sorgen haben. In diesem Sinne bilden die Ereignisse, die jetzt die Welt in atemloser Spannung halten, auch für die Musik in Tsingtau einen Markstein.
 

Anmerkungen

1. Fußnote der MUSIK-Redaktion im Original: »Der Bericht gelangte über Shanghai am 22. Januar in unsere Hände. Auf welch hoher Stufe das musikalische Leben in unserer aufblühenden ostasiatischen Kolonie gestanden hat, wissen die Leser der ›Musik‹ durch die regelmäßigen Referate unseres langjährigen Tsingtauer Mitarbeiters. Mag sich das weitere Schicksal unserer ehemaligen Besitzung gestalten, wie es wolle, mag es wirklich der ›letzte‹ Tsingtauer Musikbericht sein, den wir veröffentlichen können – die deutschen Männer und Frauen, die im fernen Osten unermüdlich und selbstlos für Pflege deutscher Bildung und Kultur tätig waren, dürfen überzeugt sein, daß das Vaterland ihre aufopfernde Arbeit nie vergessen wird.« – Hinweis: Crusen hatte Ende 1914 nach Shanghai ausreisen dürfen.

2. Zu den hier und im Folgenden erwähnten Protagonisten, soweit keine Kurzbiographie vorhanden ist: Über Magda von der Leithen, Margaret Richard und Minna Brücher ist nichts bekannt; Elsa Schindewolf (Frau eines Bankdirektors), August Meinke (Kaufmann), Emma Nicolai und Anna Tostmann wohnten in Tsingtau.

3. Eine Fußnote im Original verweist auf auf die Rubrik »Nachrichten«, wo für Kiautschou (Tsingtau) berichtet wird: »Der Verein für Kunst und Wissenschaft hatte an musikalischen Veranstaltungen für die Zeit vom September 1914 bis Ende 1914 vorläufig das folgende Programm aufgestellt: Dvorak (Stabat Mater), Gade (Erlkönigs Tochter), Mendelssohn (Walpurgisnacht), Brahms (Schicksalslied, Altrhapsodie; Der Abend), Wolf (Feuerreiter, Frühlingschor aus ›Manuel Venegas‹), ferner ein Kirchenkonzert am Totensonntag, fünf Liederabende, zwei musikalisch-dramatische Abende, vier Klavierabende, einen Kammermusik-Abend sowie Konzertaufführungen von ›Figaros Hochzeit‹ und dem ›Fliegenden Holländer‹.«
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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