Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Kriegsereignisse

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Letzte Kriegstage in Tsingtau

von Hans Kolster

Die folgenden Aufzeichnungen hat der Leutnant der Reserve Hans Kolster an seinem 30. Geburtstag zu Papier gebracht bzw. abgeschlossen. Er schildert darin die Ereignisse vom 5. bis 9. November, also der drei letzten Kriegstage bis zur Totenfeier auf dem Tsingtauer Friedhof. Kolsters Darstellung ist militärisch knapp und nüchtern bis kritisch; insofern unterscheidet sie sich von anderen.

Das handschriftliche Original wurde von Kolsters Sohn in Maschinenschrift übertragen, dem dafür herzlich gedankt sei! Schreibfehler (in Original oder Abschrift) wurden korrigiert, eigene Zusätze des Redakteurs in [ ] oder als Anmerkungen hinzugesetzt.


Taitungschen, 12. November 1914

Meine lieben Bielefelder! (Eltern u. Geschwister)

Hab' heute meinen Geburtstag – wollte ihn eigentlich mit den Kameraden der 6ten Kompanie, wie es üblich, gefeiert haben, nun sind aber die 6er weit von hier, vielleicht schwimmen sie schon Japan zu – und ich sitze hier einige Kilometer von Tsingtau als Kriegsgefangener der Japaner. Am 7. 11. 14 war Tsingtau über, schade drum, das allerletzte hatte ich mir etwas anders vorgestellt.

Am 5. November gingen ich und Rollhausen als Freiwillige zum linken Flügel als Ersatz für Ausfall (Kleinschmidt wollte nicht recht) bei der 3. Kompanie zwischen Infanterie-Werken 4 und 5. Es ging zu einem der Brennpunkte oder vielmehr zu dem Brennpunkt. Wir sollten in der ersten Feuerpause los, doch Buttersack schien es zu herzlos und ließ uns erst gegen 6 Uhr im Dunkeln los. Na, dieser Rechts-Links-Marsch war einer, den man nicht so leicht vergisst. Dicke Luft, wie man sich immer so bezeichnend fragte und zurief, vom Anfang bis zum Ende. Auf dem Wege, nach Passieren der Bismarck-Kaserne, prasselte es man immer nur so rechts und links, beim Artillerie-Depot erinnere ich noch einen ganz gefährlichen Krepierer, er ging tiefer als die Strasse, so hatten wir Glück. [Ein] Blindgänger später bumste beileibe nicht weit von uns. An der Moltke-Kaserne wusste auch kein Mensch, wo Kompanie 3 war – der österreichische Offizier meint nur: dicke Luft heute Abend, und wünschte viel Glück. In Taitungschen ist ein Pfeifen, Sausen und unheimliches Krachen in der Luft. Wir beiden trotteten ganz fidel zum jenseitigen Ausgang – es ist merkwürdig, hatte immer so das Gefühl, mittenmang all diesen Brummern ist keiner, der für mich bestimmt ist.

An dieser Seite von Taitungschen wurde es nun brenzlich. Laufschritt ging es über die Strasse in den Strassengraben - links sollte unsere Kompanie liegen - und kriechender Weise ging es vorwärts. Doch halt, einige 100 m vor uns sehen wir die weiße Mauer, und Rollhausen sagt, hier rennen wir den Japsen direkt in die Finger. Nach reichlicher Überlegung wieder zurück, verliere dabei alles, was ich mir um den Leib gebunden, Patronentasche, Säbel - muß also noch mal zurück. Na kurz und gut, dann ging es links querfeldein, kommen glücklich zu einem Scheinwerferstand und von da zu den Verbindungsgräben zu unserer Stellung. Ein Soldat fährt uns noch an, weil wir nicht Hals über Kopf in die Gräben springen und beinahe knietief durchs Wasser wateten, recht hatte er, gelernt haben wir das noch.

Begrüßung in dem engen Unterstand, 10 Minuten Esspause (Brot, Cornedbeef, Rum), dann rein zur Wache in die Schützenstellung. Oberleutnant Dobenecker sagt mir, Feldwebel Hofmann wird ihnen alles sagen, was nötig ist, jawoll, ich ging hin und fand nicht einmal eine richtig gehende Wacheinteilung vor. War überhaupt manches faul, na – die letzten 14 Tage andauerden Wassertretens und Wachdienstes machen vieles erklärlich. – Die unglaubliche Gleichgültigkeit, viele Schäden in den Schützengräben wurden nicht ausgebessert, um den Gegner glauben zu machen, die Stellung sei geräumt. Die Eisenkästen, respektive die eisernen Platten daraus, habe ich wenigstens noch ranschaffen lassen, und Dienste haben sie noch geleistet (besonders bei mir). Die Nacht über kaum geschlafen, der Unterstand war außerdem zu voll. Morgens zurück durch die nassen Verbindungswege zum Unterstand in dem gedeckten Weg. Hauptmann Berndt hier, Arzt Dr. Höfling [1], mit dem ich durch Sibirien kam. Kleemann und Biester hatten Tageswache. Einige von den Wachleuten werden durch Sprengstücke verwundet. Die Wachhabenden melden: Stellung und Unterstände unhaltbar. Auf kritische Rückmeldung bitten sie um persönliche Inaugenscheinnahme durch Hauptmann Berndt. – Na, er geht nicht, die beiden werden jedoch zurück gezogen und nur ein Unteroffizier und 2 Mann bleiben vorne. Später, als Berndt die Meldung über Zustand der Stellung an Kuhlo weitergeben will, bekommen die beiden aber noch einen auf den Hut und mit Recht.

Rollhausen und ich verbringen den Tag meist mit Schlafen. Gegen Mittag sollen wir erst noch nach vorne. Essen gab es nicht besonders viel - der Mann, der uns fürsorglich die Butterbrote strich, bekam sogar noch einen auf den Hut. Abends gab es aber was Warmes. Bei Dunkelwerden ging es wieder auf Wache, zuerst hatte ich Befehl, am Holzstapel mit meinem Zug zu warten, wurde aber bald nach vorne gezogen, wo Feldwebel aus dem größeren Unterstand heraus die Wache für meine Schützenstellung stellte. Ich ging mit den Marinern, die mir zugeteilt waren, in den längeren aber engen Unterstand. Rum und Zigarren wurden spendiert. Es dauerte nicht lange, da beginnt eine ungeheuere Kanonade, die Luft fauchte nur so, ein unausgesetztes Schwingen wie bei Kirchenglocken, dazu von unserer und [der] gegnerischen Seite ein ununterbrochenes Maschinengewehrfeuer. Das Geschützschnellfeuer ging teils nach Tsingtau und teils [nach] Infanterie-Werk 4 und 5. Hallier wurde mir vom Oberleutnant zugeschickt, um zu erfahren, was ich gemacht hätte. Blieb eine Zeitlang bei mir, schickte [ihn] aber schließlich, als es wieder etwas stiller wird, mit der Meldung fort, dass ich in etwa 10 Minuten die Leute wieder in die Unterstände schicken würde und nur eine verstärkte Wache zurück lassen würde.

So mache ich es denn auch, nur bleibe ich selbst vorne, weil es immer noch recht lebhaft blieb; vorne wusste man nun die Japaner auf der Mauer und im genommenen Blockhaus vor meiner Stellung, höre ihre Schüsse und musste sie arbeiten lassen, ohne etwas dagegen tun zu können. Verdammt, diese ekligen japanischen Gewehre. Gar keine Feuer- und Rauchentwicklung, nur ein Knall ist zu hören, deutlich von dem unserer Gewehre zu unterscheiden – aber nun mag der Deubel wissen, wo dieser Knall her kam. Leuchtpistolen hatte ich auch nicht – aus dem einzigen Grunde, um die Stellung nicht zu verraten – na, das Vorgelände oder die Mauer sah man auch erscheinen bei den vielen Erleuchtungen, die von Kompanie 1 kamen, ja Sandsäcke sah man, immer neue, und in diese mit meinen Maschinengewehren reinzupfeffern hatte keinen Zweck, dem Maschinengewehr traute ich nicht. – Außerdem wurde rechts und links die Mauer andauernd mit Maschinengewehr bestrichen. Oberleutnant kam auch einmal her, auf seinen Rat habe ich das Maschinengewehr ganze Nacht in Stellung gelassen. Später kam Hallier, es müsste so gegen 12 bis 1 Uhr sein, um mir zu sagen, dass ich nur die gewöhnlichen Posten in Stellung lassen sollte, was mir aber nicht ratsam schien. Er konnte schon gar nicht mehr auf der Grabenkante zu mir herankommen, weil das Rückenfeuer (meist Maschinengewehr), das wir schon lange bekamen, sich unheimlich verstärkt hatte. Man hörte nur immer so die Kugeln über einem schwirren und auch einschlagen, eine schlug nicht schlecht an mein Schutzschild. Für mich war keine Kugel da!

Wieder und wieder gehe [ich] ganz an den rechten Flügel meines Zuges und lasse mir vom Feldwebel (oder war es Absicht) einreden, es muss das Maschinengewehr von Kompanie 1 sein. Meinen Leuten rede ich es denn auch wieder ein und lasse alle – gegen 4 Uhr habe ich wieder alles alterniert – nach vorne und hinten volle Deckung nehmen und nur einen aus jeder Gruppe beobachten. Diese Leute lasse ich auch einzelne Schüsse abgeben, wenn sie glauben etwas zu sehen. – lm Morgengrauen fängt ein mörderisches Geschieße unserer Batterien an, das Vorgelände raucht, der Gegner schießt nach Tsingtau wild hinein, beiderseits die Absicht, die Anmarschwege unter Feuer zu halten, das schläfert nach 3/4 Stunden allmählich ein, und als ich gerade auf dem äußersten linken Flügel bin und meinen Leuten nochmals einschärfe, volle Deckung zu nehmen, kommt plötzlich der Feldwebel mit den Leuten vom rechten Halbzug auf mich zu rufend: Japanische Kolonne mit Offizier an der Spitze ist drin am Zuge [?]. Erst noch unschlüssig, was zu tun, sehe ich auch schon einen Japaner auf der Böschung, mindestens in Höhe M.G., durch die Holzdeckung schwer erreichbar. In der Längsrichtung des Grabens wieder vor ist zwecklos; also zurück bis zum Unterstand, 50 m etwa (ziemlich schnell). Vorwärts aus dem Graben und mit meinen Leuten Stellung genommen. Feuerabgabe, und da fällt auch schon der japanische Offizier, wie ich glaube – wie ruhig man doch zielen kann – und diese bleiben mir vom Halse. Doch da tauchen rechts von uns, also in Wirklichkeit im Rücken von Taitungschen her, mehrere japanische Abteilungen auf, sehr deutlich erkennbar durch ihre Flaggen.

Verstärkt durch Marinezug nehme ich nun auch dahin Stellung, feure, japanischer Offizier zu Pferd, hab auch Erfolg – hatte zwei Stellungen dort – die Leute lagen auch ruhig und gut – nur jemand neben mir und ein Feldwebel (der aktive war überhaupt verschwunden, glaubte mir nachher weis zu machen, er hätte die schlafenden Leute aus den Unterständen raus gekloppt) redeten andauernd von keinen Zweck haben, die Sache wurde aber anders, als wir Schrapnell- und Granatfeuer (vor und hinter) bekamen und ich dummer Weise den rechten Halbzug zurück gehen lassen wollte in Stellung 30 m zurück aus dem Artilleriefeuer; sah gleich die Schlammassel und suchte noch wieder gut zu machen durch Gegenbefehl: einzeln zurück kriechen. Unordnung war aber doch da – um diese Zeit war übrigens eine merkwürdige Gefechtsstille eingetreten – Kleinschmidt quakte mir nun noch immer dazwischen von keinem Zweck haben und sonstiges Zeug (er war mit seinen Marinern, Revolver in der Hand, ein recht klägliches Bild, aus den Unterständen zu mir gekommen), da hab ich die ganze Sache von mir geworfen. Machen Sie es, ich mach nicht mehr mit, Sie sind außerdem der älteste. Fragte er noch vorsichtiger Weise nach meinem Patent. Den Verwundeten mit dem Schenkelschuss habe ich noch ziemlich barsch behandelt – sagte ihm, solle liegen bleiben, Japaner würden ihn schon aufnehmen (ich hatte noch das Kommando).

Nun ging es also zurück. Bald sahen einige weiße Flagge, Bismarkberg. Ich hatte mich etwas seitwärts von den anderen gehalten, warf mein auseinander genommenes Gewehr fort und schlängelte mich dann auch zu den schon gefangenen Abteilungen; hoffte meinen Revolver zu behalten – Irrtum, schade, dass ich ihn nicht vorher in die Tasche gesteckt habe. Mein Säbel lag in irgendeinem Unterstand, nun hatte ich keine Waffe mehr, elendes Gefühl. Erfahre Rollhausen schwer verwundet, schade um ihn – ihn eben noch gesehen, war ganz munter.

Nun erfuhr ich den erklärenden Hergang des ganzen Schlamassels. Infanterie-Werk 3 war gegen 1 Uhr überrumpelt. Unter dollem Granat- und Schrapnellfeuer, dass man dort Wachen und Posten vernachlässigte, und plötzlich waren die Japaner trotz eigenem Feuer im Hofe, schlagen die Tore ein – und dann verhandeln und übergeben [durch] Ramin. Infanterie-Werk 4 wurde gegen 4 Uhr nach heftiger Verteidigung genommen. – Von all diesem hatte ich keine Ahnung – der Oberleutnant wusste wahrscheinlich davon und hatte sich mit Kompanie zurück gezogen; wenn er Meldung geschickt hat, ist sie nicht zu mir gekommen. Kompanie 1 rechts von mir war auch fort, und so konnten die Kerls mir in die Flanke kommen. 6 Uhr 23 soll die Flagge auf Bismarckberg gehisst sein, wir haben nach 7 Uhr noch geschossen.

Sammeln auf Strasse, finde mein Kleiderpaket noch wieder. Vorbeizug Japaner, Inder, Engländer ganz hinten. Höre noch: Infanterie-Werk 3 hatte gar keine Posten ausgestellt, einfach doll. Außerdem waren die Leute von den Zwischenstreifen, Major Kleemann, Trendelburg, in den Werken zum Schlafen, unglaublich. So konnte die Leitung nicht wie beabsichtigt die Sache bis zum Morgen hinziehen und kapitulieren, nachdem die Artillerie sämtliche Munition verschossen, so mit den IW's sämtlich intakt, das Ende war höchst unrühmlich. Vieles hatte an den Aktiven gelegen, lustlos, pessimistisch; die Reserveoffiziere hatten bessere Stimmung, bei der Kompanie 3 war es allerdings übel. B.'s Aussehen [2], doller als Handwerksbursche "Haltung". – Im Morgengrauen war noch interessant das Arbeiten der Japaner mit Handgranaten, kürzeres Geräusch als bei Schrapnells. Infanterie-Werke 2 und 3 soll[en] schon ziemlich unterminiert gewesen sein, lose Erde, in 2 Tagen würde es so weit gewesen sein, meint man. [Unter] Infanterie-Werk 1 war Fels.

Abführen der Gefangenen, mussten lange auf Straße warten. Verwundetenbesorgung. Den Japanern schienen die Toten oder das Sehen ganz gleichgültig, Engländer und Inder kamen zuletzt, früherer englischer Konsul mit Rückendrehen unserer Leute. Engländer in Artilleriedepot untergebracht, dürfen nicht nach Tsingtau rein; ich möchte nicht in des englischen Kommandeurs Haut stecken. Englische Kaufleute versuchen nach Tsingtau rein zu kommen, dürfen auch nicht. – Das Grüßen mit den Japanern kam nicht zu Stande. Plündernde Japaner, Österreicher auch – das O.M.D. hat vorher auch nichts Rühmliches gemacht. Eger [3] Batterien, Leute alle niedergemacht, barbarisch behandelt. Das Umherschleppen der Gefangenen, erst Bismarck-Kaserne, Lazarett, Urlaub zum Essen mit Bewachung, dann wieder Warten, Infanterie-Werk 4, dann zurück Bismarck-Kaserne, Trupps Gefesselter. Wohnung Kaffee [?] Below Kompanie 1, Abend bei Krankenschwestern.

Dienstag Abmarsch Bismarck-Kaserne. Rede Kessingers, sehr nette Sicht als Besiegte; Hurra, Meldung an Gouverneur. Garnison steht bereit, Tsingtau zu verlassen, kann aber nicht und nahm nur Aufstellung am Wege, auch bei Totenfeier, kein Wort geredet. Pfarrers Racheworte.
 

Anmerkungen
1. Dieser Arzt konnte nicht identifiziert werden; möglicherweise ist Dr. Jüngling gemeint.
2. Die Identität von "B." ist unklar – evtl. Buttersack?
3. Damit könnte Oberleutnant Aye gemeint sein.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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