Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

StartseiteAugenzeugenberichte → Kuhn


Kriegsgefangen in Japan. Ernstes und Heiteres aus meiner „Furionenzeit" [Teil 2: Aonogahara]

Von Adalbert Freiherr von Kuhn, Linienschiffsleutnant a. D., Budapest
 

Der folgende Beitrag erschien 1931 in dem zweibändigen, in Österreich publizierten Sammelwerk "In Feindeshand". Der Verfasser kam als Offizier (Fregattenleutnant) auf k.u.k. Kreuzer Kaiserin Elisabeth 1913 nach Ostasien. Seine Darstellung der Zeit der Gefangenschaft in Japan ist deutlich negativ geprägt, ähnlich dem, was andere Offiziere hierüber berichtet haben.

Der Redakteur hat den Beitrag, des Umfangs wegen, in zwei Teile gegliedert und Zwischenüberschriften eingefügt. Schreibfehler im Original wurden korrigiert, Abkürzungen aufgelöst Anmerkungen in [...] oder als Fußnoten hinzugesetzt.
 

Übersicht Teil 1
Übersicht Teil 2
Freizeit, "Stacheldrahtkrankheit"
Schikanen, vergebliche Beschwerden
Besucher im Lager
Finanzielle Probleme
Heimkehr
Anhang
 

Freizeit, "Stacheldrahtkrankheit"

Am 10. Oktober 1915 wurden wir nach Aonogahara abtransportiert.1 Zuerst mit der Bahn bis Kakogawa, einem kleinen Ort der Vizinalbahn2, dann per pedes nach Aono, wie es kurz genannt wurde. Gegen Mittag kamen wir an. Das Lager war nun allerdings nicht besonders groß – im Umfang hatte es 480 Meter –, aber für uns Offiziere war es doch viel, viel besser. Erstens waren wir mit unserer Mannschaft zusammen, für die wir uns kümmern konnten. Die Leute waren in langen Baracken untergebracht, wir Offiziere in einer eigenen Baracke, in kleinen Zimmern, gewöhnlich zu zweien.
Jeder ging nun daran, sich hier so gut als möglich einzurichten, als ob wir es geahnt hätten, daß wir volle vier Jahre da verbringen würden. Die Leute begannen sich Gärten anzulegen, Hühner- und Kaninchenzucht wurde angefangen und erreichte bald einen ungeahnten Aufschwung. Mit der größeren Freiheit war es natürlich nichts, und auch die zwei Tage in der Woche, an denen wir außerhalb des Lagers Fußball spielen sollten, reduzierten sich auf ungefähr zwei im Monat, und fielen, was das Schlechteste war, im Sommer oft monatelang weg, da das übrige Lager von übenden Truppen besetzt war. Immerhin konnten wir uns aber im Lager zwei Tennisplätze bauen und Turngeräte aufstellen, so daß es gegen Himeji doch bedeutend besser war.
Aber je länger die Gefangenschaft dauerte, um so schwerer wurde es, sie auszuhalten. Besonders der allerdings kurze Winter und die Regenzeit waren greulich. Wenn es da tagelang und wochenlang ununterbrochen regnete, so daß man im Lehm des Lagers versank, da wurde es einem sehr schwer, mit der Zeit etwas anzufangen. Die meisten begannen Sprachen zu lernen. Da zeigte es sich bald, daß das geflügelte Wort, welches uns schon in der Schule eingebläut wird, "Aller Anfang ist schwer", falsch ist, denn angefangen haben sehr viele, aber durchgehalten nur sehr wenige. Am Anfang lernten alle 8 bis 10 Stunden täglich, aber mit den Jahren wurden es immer weniger, die dabei aushielten und immer größer die Zahl jener, die der "Stacheldrahtkrankheit" zum Opfer fielen. Ihre Symptome, meist völlige Stumpfsinnigkeit und äußerste Reizbarkeit, sind wohl jedem, der in Kriegsgefangenschaft war, bekannt. Ich glaube, keiner ist von ihr verschont geblieben.
Typisch ist z. B. folgende Erscheinung, die ich an mir selber beobachtet habe. Ich war mit einem Kameraden zusammen in einem Zimmer untergebracht. Als wir Offiziere uns gegenseitig schon gar nicht mehr sehen konnten, baten wir die Lagerbehörde um die Erlaubnis, unsere Zimmer durch eine Holzwand auf eigene Kosten in zwei Teile zu teilen. Dies wurde bewilligt. Wir beide beschlossen, in unsere Scheidewand eine Schiebetür einzubauen, um, falls einer zum anderen hinüber wollte, im Winter nicht auf den kalten Gang hinausgehen zu müssen, und dann auch, um die Zimmer besser lüften zu können, da jedem von uns nach der Teilung nur ein halbes Fenster verblieb. Diese Tür war tagsüber mehr offen als zu. Aber das bloße Bewußtsein, daß man sich, wenn man wolle, von dem anderen absperren könne, daß man einen Raum für sich allein habe, genügte, um die Nerven wesentlich zu beruhigen.
 

Schikanen, vergebliche Beschwerden

Einen anderen, sehr erschwerenden Umstand, der mit der Zeit immer ärger wurde, bildete die schlechte Verbindung mit der Heimat. War doch die Post das einzige, was den Kriegsgefangenen mit der Heimat und der Außenwelt verband, und je weiter er von der Heimat weg war, um so mehr lebte er nur von ihr. Was war das für eine Aufregung, wenn es hieß, Heimatpost ist da, und wie selten kam sie in den letzten Jahren! So ein Brief, der schon vier Monate auf der Reise [gewesen war], wurde immer wieder gelesen, bis man jedes Wort auswendig kannte, bis vielleicht nach 3 bis 4 Monaten wieder ein neuer kam.
Hier bot sich nun den Lagerbehörden ein dankbares Betätigungsfeld zur Ausübung der Zahnstocherpolitik, mit Hilfe der Zensur. An diesen Briefen, die in den letzten Jahren 3 bis 4 Monate unterwegs waren, die außerdem in der Heimat schon zu Tode zensuriert worden waren, wurde nun weiterzensuriert. Das heißt, zuerst ließ man die Post ein paar Tage liegen. Entweder kam hier ein Feiertag zu Hilfe – die Japaner hielten pünktlichst nicht nur ihre Feiertage, die recht zahlreich sind, sondern auch die unsrigen ein und arbeiteten an solchen nicht einen Pinselstrich – oder der Dolmetsch trat in Aktion. Entweder war er krank oder hatte eine besonders wichtige Arbeit für den Lagerkommandanten, kurz, er zog die Herausgabe der Briefe möglichst in die Länge. Was das für uns bedeutete, da in den letzten Jahren ungefähr viermal im Jahre Heimatspost kam, kann sich jeder vorstellen!3 Einmal trieb er es so arg, daß ihn die Mannschaft in einem unbeachteten Moment in eine Baracke drängte und ihm eine Tracht Prügel in Aussicht stellte, falls er es noch lange so machte! Dies wirkte, und am selben Tag kam die ganze Post heraus!
Eine andere Art, die Leute zu schikanieren, waren die vielen Appelle und die Runden bei Nacht. Jede Nacht, bis zum Tage vor unserem Abtransport Ende 1919, kam zwei- bis dreimal die Patrouille der Wache, um sich zu überzeugen, ob man auch auf seiner Matratze liege. Wenn man nicht schon durch den Lärm und das recht geräuschvolle Öffnen der Schiebetüren aufwachte, so besorgte dies die Wache dadurch, daß sie einem mit der Papierlaterne möglichst lang ins Gesicht leuchtete. Im Sommer, wenn man unter Moskitonetzen schlief, da sahen die tapferen Krieger des Mikado nichts und benützten dann ein anderes Mittel., um sich unserer Gegenwart zu vergewissern. Da wurde einfach mit dem Seitengewehr so lange herumgestochert, bis der eventuell noch Schlafende durch einen kräftigen Fluch seine Anwesenheit kundtat!
Uns war diese stete Angst, einer könne durchgehen, unverständlich, denn ein Fluchtversuch war, besonders nach dem Eintritt Amerikas in den Krieg, der reinste Wahnsinn. In einem Lande, wo man ja schon als Angehöriger einer fremden Rasse auffiel, man sich also nicht unter das Volk mischen konnte, hatte ein Fluchtversuch schon von Haus aus wenig Aussicht auf Erfolg. Von den wenigen – ich glaube im ganzen zehn – Fluchtversuchen, die von den Gefangenen in Japan unternommen wurden4, fallen die meisten in die Zeit, als noch für die Europäer – egal welcher Nation – im Lande keine Paßkontrolle bestand. Als diese im Jahre 1915 unterschiedslos eingeführt wurde, waren die Aussichten auf einen Erfolg gleich Null. Von all diesen ist es nur einem gelungen, durchzukommen. Hier spielte der günstige Umstand mit, daß in der Stadt, in der das Lager war, eine große Aussstellung stattfand, die von sehr vielen Fremden besucht wurde.5

Ein anderer Umstand, der einem jede Lust zu einem Fluchtversuch nahm, war die barbarische Art und Weise, wie solche Delikte geahndet wurden. In allen kriegführenden Ländern Europas, in denen man es als Pflicht des Offiziers ansah, zu fliehen, wurde ein Fluchtversuch nur im Disziplinarweg bestraft und nur bei Wiederholungen gab es Festung. Die Japaner stellten jeden Flüchtling, den sie wieder einfingen, vor das Kriegsgericht und bestraften ihn wegen "Schädigung japanischen Staatseigentums", begangen z. B. durch das Aussägen einer Latte aus dem Zaun, mit einem Minimum von 10 Monaten Zuchthaus oder mit Zwangsarbeit! Da saß man nun im ziegelroten Sträflingskleid, kahlgeschoren und mit einer Nummer versehen, in trautem Beisammensein mit Mördern und Einbrechern und hatte Zeit und Muße, über die "die Gerechtigkeit achtenden japanischen Truppen" nachzudenken. Im Winter fror man ganz abscheulich, denn die Zellen waren recht luftig, im Sommer erstickte man vor Miasmen, da nach gut japanischer Sitte die Latrine aus einer Grube im Boden der Zelle selbst bestand, die Japaner es aber mit der Reinigung derselben nicht sehr eilig hatten. Mit der Zeit stieg das Ausmaß der Strafen. Die Kameraden, die im Sommer 1918 – oder war es gar 1919 – einen Fluchtversuch machten und alle eingefangen wurden, erhielten zwei Jahre!6

Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, daß wir uns alle nur erdenkliche Mühe gaben, hier, mit Betonung der heimatlichen Verhältnisse, eine Änderung zu erreichen, doch vergeblich. Alle unsere Beschwerden, die wir mündlich und schriftlich, teils den japanischen Behörden, teils diplomatischen Vertretern, die sich den Anschein gaben, als ob sie sich für unser Wohlergehen interessierten, überreichten, wandelten den Weg alles Irdischen, in den Papierkorb. Ich möchte nur wissen, wozu denn überhaupt alle diese Herren, besonders die diplomatischen Vertreter, kamen. Für uns war es nur eine Schererei, die Japaner aber benutzten solche Anlässe, um sich fein herauszustreichen. An solchen Tagen gab es immer bessere Kost, die Leute mußten Fußballspielen gehen, ob sie wollten oder nicht. Getan haben die Diplomaten aber für uns nie etwas.7 Versuchte es aber ausnahmsweise einer von den Herren einmal, in unserem Interesse ein Wort einzulegen, so hatten die Japaner eine ganz famose Methode, um sich aus der Affäre zu ziehen. Einmal wagte der spanische Gesandte, der damals die österreichisch-ungarischen Interessen vertrat, an das japanische Kriegsministerium die Bitte, daß doch den Offizieren mehr persönliche Freiheit, so wie denen in der Heimat, gewährt würde. Die Japaner antworteten, sie könnten leider die Bitte nicht erfüllen, denn, "da es keine kriegsgefangenen japanischen Offiziere in Österreich-Ungarn gäbe, bestünde nicht das Verhältnis der Reciprocität".8 Es blieb also alles schön beim Alten, und wir saßen weiter hinter Schloß und Riegel, konnten uns dafür weidlich über die Artikel der heimischen Zeitungen ärgern, die immer wieder erklärten, uns ginge es in Japan herrlich.9
Ich bin überzeugt, daß mancher brave Bürger, der dies las und Japan nur aus Pierre Loti'schen oder, was noch böser ist, aus Lafcadio Hearn'schen Büchern kannte10, uns im Stillen um unser herrliches Leben beneidete und der felsenfesten Ansicht war, daß wir dort in reizenden kleinen Papierhäuschen wie der Herrgott in Frankreich lebten, umgeben von den schönsten Geisha's und sonstigen niedlichen Musme's. Diese Ansicht habe ich nach unserer Heimkehr von verschiedensten Seiten zu hören bekommen, und bin dabei, ich muß es sagen, immer in nicht gelinde Wut geraten. Außer den eher seltenen sogenannten "Ausflügen", bei denen wir unter starker Bedeckung in Doppelreihen herumgeführt wurden, ist keiner von uns, nicht nur in unserem, sondern auch in keinem anderen Lager, auch nur eine Minute hinausgekommen, außer ungefähr zwei Wochen vor unserem Abtransport, im Dezember 1919, als uns ein zwölfstündiger Urlaub nach Kobe – von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends – bewilligt worden war.
Eine Ausnahme mag vielleicht das Musterlager in Bando auf der Insel Shikoku gewesen sein. Dieses Lager wurde von den Japanern 1917 errichtet. Auf einer kleinen Insel der Binnensee gelegen11, war es das Reklamelager der Japaner, das sie womöglich jedem Fremden zeigten. Es war weitaus das größte,12 umfaßte einen recht großen Teich, in dem die Leute nach Belieben baden konnten, und sogar das Baden im Meer war erlaubt. Aus dem Lager heraus kamen sie aber auch dort, so viel ich weiß, nicht. Ein Gegenstück zu Bando war das Straflager Kurume, das 1917 aufgelöst wurde.13 Die Herren, die in diesem Jahre aus Kurume zu uns kamen14, erzählten uns Begebnisse, die jeder Beschreibung spotten. Daß z. B. ein Offizier oder eine Mannschaftsperson auf das Lagerbüro gerufen wurde, wo dann sämtliche anwesenden Japaner über ihn herfielen und ihn durchprügelten, zählte nicht zu den Seltenheiten. Erschwerend wirkte der Umstand, daß die Kurume-Infanterie-Division den Tsingtaufeldzug mitgemacht und eines seiner Regimenter beim Forcieren des Überganges über den Litsunfluß sehr schwere Verluste erlitten hatte. Wenn dieses Regiment die Lagerwache bezog, drangsalierte es die Gefangenen auf jede nur erdenkliche Art!
 

Besucher im Lager

Doch kehren wir zu den häuslichen Penaten Aonogaharas zurück. Wie schon gesagt, wurden wir des öfteren von Würdenträgern besucht, die unsere Bitten und Beschwerden meist sanft lächelnd anhörten und Besserung versprachen, die aber nie kam. Von den diplomatischen Vertretern will ich gar nicht reden, denn die waren überhaupt Null. Solange Amerika nicht zu unseren Feinden trat, war der amerikanische Botschafter mit der Wahrung unserer Interessen betraut. Da waren wir an den richtigen Mann geraten. Der Schweizer und der Spanier, die dann kamen, haben bei sicherlich vorhandenem guten Willen auch nichts erreicht. Am ehrlichsten meinten es noch die japanischen Großköpfe, die uns besuchten, denn die sagten es wenigstens klipp und klar heraus, wir sollten das Beschweren als zwecklos lieber bleiben lassen.
Von den Divisionskommandanten der 10. Division, die uns in Aonogahara jährlich mit ihrem Besuch beglückten, sind mir zwei in besonderer Erinnerung geblieben. Der eine – ich glaube, er hieß Yamaguchi – war ein japanischer "Grandseigneur". Er kam in unsere Messe, hielt uns eine Ansprache, in der er es auf das Heftigste bedauerte, daß er uns, anstatt beim kaiserlichen Kirschblütenfest im kaiserlichen Park von Tokyo, hier in einer einfachen Baracke begrüßen müsse – es war gerade im Mai –, versicherte uns aber, daß wir auch hier seine lieben Gäste seien, für deren Wohl er Tag und Nacht sorge. Zum Schluß wünschte er uns eine baldige Heimkehr und verschwand, bevor wir nur unsererseits den Mund aufmachen konnten. Der andere gehörte zu der Sorte derjenigen Asiaten, die sich das Fußtrittegeben um keinen Preis nehmen lassen. Bevor er kam, wurden wir alle auf dem freien Platz zwischen den Baracken zusammengetrommelt. Hier warteten wir zuerst einmal eine gute Stunde, denn die Herren kamen prinzipiell nie zur angesetzten Zeit. Als der Allmächtige erschien, wurde ein Tisch vor uns hingestellt, auf den Seine Exzellenz – ein kleiner und dicker Herr – mit einiger Schwierigkeit und Hilfe hinaufturnte. Scheinbar wollte er uns besser überblicken. Hierauf ließ er eine lange Rede vom Stapel, die der neben ihm auf dem Tisch stehende Adjutant uns dann auf Deutsch vorlas. Seine Exzellenz hatte die Güte, uns mit Ochsen zu vergleichen – ob dies nun schmeichelhaft war oder nicht, entzieht sich bei der verdrehten Auffassung der Japaner, die doch "dumm wie ein Fuchs" und "schlau wie ein Karpf" sagen, meiner Beurteilung – und erklärte, daß man brave Ochsen gut behandle, wir seien aber böse Ochsen, die er ins Joch spannen müsse.
Uns Offiziere nahm er sich nachher noch besonders vor und erklärte uns auf unsere Beschwerde, warum wir uns nicht in Tsingtau erschossen haben, wenn es uns hier so gar nicht paßt. Da kommt eben wieder diese Bushido-Anschauung zur Geltung, nach der es für einen Offizier nichts Ehrloseres geben kann, als unverwundet gefangen zu werden. Den Gefangenen mehr Freiheiten geben, sie besser zu behandeln, sei schon darum unmöglich, weil dann zu befürchten wäre, daß in einem zukünftigen Kriege japanische Soldaten sich eher gefangennehmen lassen würden! Es käme einer Untergrabung des Bushido-Geistes gleich, der noch immer mit aller Macht dem Volke eingehämmert wird, für welche Idee auch große Männer, wie z. B. General Nogi, als Kaiser Meiji starb, Harakiri begangen haben.15 Während wir noch in Himeji waren, wurde ein japanischer Offizier, der vor Tsingtau Harakiri begangen hatte, als Nationalheld bestattet. Der Grund seines Selbstmordes war folgender: Er war vor Tsingtau mit der Sicherung der rückwärtigen Telephon-Verbindungen eines vorgeschobenen Truppenteils betraut gewesen. In einer Nacht gelang es einer unserer Patrouillen, unbemerkt diese Verbindungen zu zerstören. Aus Schande über diese Schmach verübte er Selbstmord. Heute steht dieser Bushido-Geist schon auf sehr wackligen Füßen, aber in den fünf Jahren unserer Gefangenschaft haben wir ihn genug zu spüren bekommen. Nur so erklärt sich auch der Unterschied, wie die Japaner die Gefangenen in Sibirien behandelten. Dort war man nicht im eigenen Lande, brauchte also eine demoralisierende Wirkung, die eine gute Behandlung der Gefangenen auf das Volk ausüben würde, nicht zu befürchten.

Daß aber auch unsererseits alles getan wurde, um die Japaner zu ärgern, ist sicher. In dieser Hinsicht waren unsere Leute von einer unerschöpflichen Erfindungsgabe. Dabei kam ihnen das miserable Physiognomiegedächtnis, das die Japaner im Anfang hatten, zu Hilfe. Übrigens geht es uns Europäern ja genau so. Anfangs ist jeder Japaner dem andem gleich. Gefährlich konnte die Sache nur dann werden, wenn die Wachorgane zu tief in die Sake-Schale geguckt hatten, was meistens bei japanischen Festen der Fall war. Bei einer solchen Gelegenheit kam einmal einer der Aufsichtsoffiziere sternhagelvoll in eine der Mannschaftsbaracken – es war im Sommer, spät nachts –, sprang abwechselnd bei einem der ebenerdigen Fenster hinein, beim anderen hinaus, brüllte andauernd "ich heute Teufel, ich alle töten" und prügelte jeden, dessen er habhaft wurde, mit der Säbelscheide! Damals führte noch Oberstleutnant Noguchi das Lagerkommando, und die Beschwerde, die die Mannschaften am nächsten Tage einreichten, hatte so ziemlich als einzige eine Wirkung.

Doch fünf Jahre sind eine lange Zeit, und allmählich hatte man zu gar nichts mehr die nötige Energie. Die immer spärlicheren und schlechteren Nachrichten aus der Heimat lagen wie ein drückender Alp auf uns allen. Man hatte zu gar nichts mehr Lust. Das Einzige, was einen noch aufrüttelte, waren die allerdings recht spärlich gesäten sogenannten Tagesausflüge. In der weiteren Umgebung unseres Lagers waren vier Ausflugsorte, die wir der Reihe nach ungefähr zweimal im Jahre aufsuchten. So ein Ausflug begann um 8 Uhr früh und gegen 4 Uhr kam man ins Lager zurück. Abgesehen von einer zweistündigen Mittagsrast, wurde die ganze Zeit fest marschiert. Die Umgebung war wirklich sehr schön, und jeder von uns nahm die verschiedenen Schikanen, die nun einmal zu jedem Ausflug gehörten, wie in Doppelreihen marschieren, unzählige Appelle, bei denen die Zahl der Ausflügler nie stimmen wollte, in Kauf, um sich endlich einmal auslaufen zu können. Wenn man so während der Rast im Schatten eines der immer malerisch gelegenen Tempel saß, womöglich so, daß man keinen der Wachposten zu sehen bekam, so konnte man beinahe das Bittere der eigenen Lage vergessen. Landschaftlich schön ist ja dieses Land wirklich, wenn es nur bloß von einer andern Rasse bewohnt wäre! Sogar unser ödes Hochplateau und die Wellblechbaracken unseres Lagers hatten ihre landschaftlichen Reize. Gar oft saßen da einige gute Kameraden beisammen, an manchen schönen Sommerabenden, wie schön sie eben nur in den Tropen sein können, und haben bei einem Glas japanischen Biers, oder wenn es der Herr Finanzminister gestattete, bei einem Glas Whisky-Soda Zukunftspläne über Heimkehr und andere Sachen gesponnen, die dann im Herbst 1918 alle zunichte wurden.
 

Finanzielle Probleme

Ja, mit den "Finanzen" sah es allmählich auch sehr schwach aus. Nach den bestehenden Abkommen bekamen die Offiziere dasselbe Gehalt wie die japanischen Offiziere derselben Rangsklasse. Als Fregattenleutnant bekam ich also 54 Yen. Das war in den ersten Jahren reichlich, denn mit 30 bis 40 Yen monatlich konnten wir uns gut verköstigen, und es blieb immer noch etwas für Extraausgaben übrig. Doch während der Jahre stiegen die Preise in Japan – warum, das weiß der Himmel – auf das Drei- bis Vierfache, so daß wir mit unserem immer gleichbleibenden Gehalt sehr schwer ein Auskommen fanden. In den letzten Jahren war es wirklich eine Kunst, die Menage so zu führen, daß man irgendwie auskam. Für Extrasachen blieb einem natürlich nichts mehr übrig. Die deutsche Regierung hatte eben deshalb schon im Jahre 1917 für ihre Offiziere in Japan als Minimum den Hauptmannsgehalt – d. i. 75 Yen – festgesetzt und zahlte durch den Unterstützungsfond in Tokio ihren Offizieren monatlich die Differenz aus. Außerdem erhielten alle deutschen Offiziere zu Weihnachten desselben Jahres einen deutschen Monatsgehalt mit Auslandszulage als einmalige Unterstützung, was ein Minimum von 200 Yen pro Kopf ausmachte. Den Deutschen gegenüber waren wir österreichisch-ungarischen Offiziere die reinsten Bettler, denn daß wir während der ganzen 5 Jahre von staatswegen nicht einen „roten Maravedi"16 bekommen haben, braucht ja nicht eigens erwähnt zu werden. An dieser Stelle ist es mir eine Pflicht, in aufrichtiger Dankbarkeit des Unterstützungsfonds für Kriegsgefangene in Japan zu gedenken. Dieser wurde größtenteils von den in Japan wohnenden Deutschen und Österreichern und Ungarn aus eigenen Mitteln erhalten und erhielt nur manchmal Unterstützungsgelder aus Deutschland.

Unsere Landsleute in Japan, meist Großkaufleute, waren ja auch nicht auf Rosen gebettet. Das Geschäft stand vollkommen still, ihre Guthaben waren alle gesperrt, und doch haben es unsere Mannschaften nur ihnen zu verdanken, wenn sie in den letzten Jahren bekleidet und ernährt werden konnten. Die Japaner hatten für jeden Mann eine Kopfquote festgesetzt, entsprechend der Quote in der japanischen Armee, welche Summe für Verpflegung, Beheizung und Kleidung dienen sollte. In den ersten zwei Jahren reichte dieser Betrag auch aus. Infolge der Teuerung aber genügte in den letzten Jahren diese Summe absolut nicht mehr, die Japaner waren aber unter keinen Umständen geneigt, sie zu erhöhen. Da halfen eben nur die Gelder des Unterstützungsfonds, aus welchen Mitteln in großzügiger Weise den gefangenen Mannschaften geholfen wurde. Zum Schluß war ja die Lage schon die, daß das japanische Verpflegungsgeld nur für 2–3 Tage der Woche reichte, für die übrigen Tage aber die Mittel des Fonds herhalten mußten. Außerdem erhielt jeder Mann seinem Range nach entsprechend ein wenn auch bescheidenes Taschengeld, dies allerdings aus deutschen Reichsmitteln.
Diese Unterstützung erhielten alle Mannschaften bis zum letzten Tage ihrer Gefangenschaft ohne Unterschied der Nationalität. Als ich als Vertreter unserer Mannschaften gegen Mitte 1919 beim Hilfsfond anfragte, ob die jugoslawischen Mannschaften – die sich bis zum Schluß mustergültig benommen hatten, für die sich aber jetzt die französische Botschaft bereits interessierte –, auch weiterhin von den Liebesgaben bedacht werden sollten, erhielt ich die Antwort, daß der Hilfsfond nur Tsingtaukämpfer kenne und keine Nationalitäten. Außerdem halfen unsere Landsleute in Japan soweit als möglich auch den Gefangenen in Ostsibirien. So wurde u. a. der ganze Erlös des Verkaufes des deutschen Klubs in Kobe – es waren an die 40.000 Yen – dem Sibirienfond zugewiesen. Diesen Menschen mit ihrem goldenen Herzen sollten wir Gefangenen ein ewiges Denkmal setzen. Einzelne zu erwähnen wäre ungerecht, da sie uns alle in gleicher Weise halfen. Als einzigen Österreicher will ich hier Herrn Bruno Müller erwähnen, Vertreter der Böhlerstahlwerke in Tokyo, der sich natürlich unser noch ganz besonders annahm. Ohne diese Hilfe wäre es unseren Mannschaften sehr schlecht gegangen, denn die Hilfe der Heimat versagte. Uns ging es ja doch so gut in dem herrlichen Japan!

Das letzte Jahr der Gefangenschaft war wohl das schwerste von allen. Nachrichten aus der Heimat bekam man kaum, und jeder hatte so viel mit seinen eigenen Sorgen und der Frage, was nun werden würde, zu tun, daß eine Art Lethargie über das ganze Lager kam. Dazu kam noch die Grippe, die in unserem Lager zwar nur zwei Todesopfer forderte17, aber dennoch furchtbar drückend auf der allgemeinen Stimmung lastete. Da die Japaner trotz des Waffenstillstandes und Friedensschlusses nicht geneigt waren, durch Gewährung kleiner Freiheiten Abhilfe zu schaffen, so mußte von uns aus etwas getan werden. Rechtsanwalt Klinke, ein deutscher Kriegsfreiwilliger, mit seltenen schauspielerischen Talenten begabt und ein geschickter Regisseur, nahm sich der Sache an und verschaffte durch heitere Vorträge und Theateraufführungen den Leuten etwas Zerstreuung. Außerdem gab die Lagerkapelle jeden Sonntagabend ein Konzert. Auf diese Weise hatten die Leute etwas weniger Zeit zum Nachgrübeln, was in solchen Verhältnissen immer nur gut ist. Eine Frage blieb allerdings immer auf der Tagesordnung, die Frage, wann wir endlich nach Hause kommen würden! Im Grunde hatte jeder von uns das Gefühl, daß man es in der Heimat mit unserem Heimtransport gar nicht so eilig habe, und so kursierten über dieses Thema die wildesten Gerüchte. Am gemütlichsten war eigentlich der Standpunkt unserer Regierung. Während die anderen Nachfolgestaaten, Tschechen und Kroaten, den Heimtransport der ihrigen regelten und schleunigst durchführten, einigte man sich scheinbar bei uns auf den Standpunkt, daß uns, da wir in Tsingtau für deutsche Interessen gekämpft hätten, auch die Deutschen nach Hause zu bringen hätten. Und die Deutschen nahmen uns auch mit, sonst säßen wir vielleicht heute noch dort, außer wir wären mit eigenen Mitteln nach Hause gefahren.
 

Heimkehr

Die Deutschen sorgten also auch für unseren Heimtransport, und zwar gründlich und gut. Im August 1919 kamen die ersten Nachrichten, daß Japan dem Abtransport der Gefangenen zugestimmt habe, und bald begannen die Vorbereitungen hiezu. Aus Ingenieuren des Gouvernements Tsingtau wurde eine Kommission gebildet, die in Japan Dampfer chartern und zum Heimtransport herrichten sollte. In jedem Lager wurde eine Abtransportkommission gebildet, die mit der Zentrale in Narashino in Verbindung stand. Die Korrespondenz dieser Behörden wurde nicht zensuriert. Die Japaner waren klug genug, um einzusehen, daß die Deutschen die Organisation des Abtransportes viel besser verstünden als sie selbst und ließen uns hier vollkommen freie Hand. Nur in Kleinigkeiten mischten sie sich ein. Als z. B. die Abtransporttermine und die Verteilung der einzelnen Lager auf die Transporte bestimmt war, kehrten sie das Ganze um. Sie mußten doch bis zum letzten Augenblick zeigen, daß sie noch zu kommandieren hatten!

Für uns in Aonogahara schlug die Stunde der Befreiung am 29. Dezember 1919 früh. So hatten wir also noch ein fünftesmal Weihnachten in Gefangenschaft verbracht, doch die Aufregung der Abreise ließ keine Weihnachtsstimmung mehr aufkommen. Fast nirgends war ein Baum zu sehen, die Leute waren mit dem Einpacken ihrer Sachen und der baldigen Abreise beschäftigt, und auch wir Offiziere hatten nur darum einen Baum, weil dieser doch nun wirklich der letzte in Japan sein sollte. Am 29. ging es in der Frühe unter strenger Bewachung – es konnte doch immer noch einer durchgehen und beim Appell in Kobe fehlen – zu Fuß nach Kakogawa und von dort per Bahn nach Kobe. Hier marschierten wir durch die Stadt bis zum Hafen, wo unser Dampfer, die Kifuku Maru, lag.18 Vor dem Dampfer am Molo wurden wir nochmals appelliert. Der japanische Offizier zog eine amtliche Liste aus seiner Tasche heraus und las jeden namentlich vor. Neben ihm stand je ein Vertreter der schweizerischen und der spanischen Gesandtschaft mit einer ähnlichen Liste in der Hand, auf der er fein säuberlich jeden Aufgerufenen, der sich meldete, ausstrich. Als der Japaner fertiggelesen hatte, verneigte er sich grinsend, die Beamten bestätigten, so und soviel Stück Gefangene richtig übernommen zu haben, und unsere Karriere als kaiserlich japanische Kriegsgefangene war aus.

Zuerst ging es nun auf den Dampfer, wo die deutsche Transportleitung mustergültig für unsere Unterkunft gesorgt hatte. Das Schiff war ein Frachtdampfer, aber für Truppentransportzwecke gebaut, mit durchgehenden Ladedecks. Wahrscheinlich ist noch mancher Kamerad, der in Sibirien saß, auf diesen Dampfern – es waren im ganzen vier gechartert worden – nach Hause gekommen, denn sie wurden nach unserer Heimkehr von den Deutschen zum Heimtransport der Sibiriengefangenen benützt. Da wir erst am nächsten Morgen in See gehen sollten, hatten wir beinahe den ganzen Tag frei. Es war ein geradezu komisches Gefühl, in Kobe wieder frei umherzulaufen – nach mehr als fünf Jahren Gefangenschaft. Die meisten von uns verbrachten Nachmittag und Abend bei deutschen Familien, die während unserer Gefangenschaft so aufopfernd für uns gesorgt hatten. Mit einigen deutschen Kameraden verbrachte ich den Abend bei Herrn und Frau Kropp. Diesen ersten Abend in einem wirklichen Heim werden wir sicherlich nie vergessen! Im Salon stand noch der Weihnachtsbaum, und als es dunkelte, wurden die Lichter angezündet und die kleinen Töchter des Hauses sangen das schöne heimatliche Weihnachtslied, von der Mutter am Klavier begleitet. Wir alle standen um den Baum, und als ich so in die Runde blickte, da schimmerten in jedem Auge Tränen. Da standen wir nun, die das Schicksal wirklich abgehärtet hatte, unter dem Baum und weinten Tränen der Freude und des Kummers zugleich.

Am 30. Dezember um 6 Uhr früh verließ die Kifuku Maru den Hafen von Kobe. Durch die Inlandsee, [dann] durch die Straße von Shimonoseki ging es zuerst nach Tsingtau. Silvester wurde bei schwerer See in der Tsushimastraße gebührend gefeiert. In Tsingtau blieben wir drei Tage. Mit gemischten Gefühlen betraten wir die Stätte unserer kriegerischen Tätigkeit. Den ersten Tag hielt der ehemalige Garnisonspfarrer einen Gottesdienst in der Gouvernementskirche. In seiner Predigt gedachte er vor allem derjenigen, die ihr Leben für die Verteidigung Tsingtaus und die Ehre der deutschen Flagge gelassen. Sie ruhen nun alle auf dem kleinen Heldenfriedhof, und über sie wacht das japanische Siegesdenkmal. Zu den ehemaligen Werken und Schützengräben der Kämpfe von 1914 hinauszugehen, hatte von uns wohl niemand Lust. Die Japaner hatten die alten Stellungen so gelassen, wie sie am letzten Tage der Kämpfe ausgesehen hatten und betrieben wohl einen schwunghaften Handel mit der Besichtigung der Schlachtfelder durch die vielen Badegäste, die ebenso wie früher im Sommer Tsingtau wieder aufzusuchen pflegten.

Von Tsingtau ging es nach drei Tagen weiter durch die Straße von Malacca nach Sabang, einem malerisch kleinen Hafen auf der nordwestlichen Spitze Sumatras, wo wir Kohle nahmen, und von dort in einer Tour durch den Suezkanal und Gibraltar nach Wilhelmshaven. Am 3. März 1920 betraten wir nach siebenjähriger Abwesenheit europäischen Boden.19 Über den erhebenden Empfang in Wilhelmshaven, über unsere Unterbringung dort, über unsere Reise durch Deutschland, wo wir Österreicher, die wir ja doch nur die ehemaligen Bundesgenossen waren, in jeder größeren Stadt, wie in Oldenburg, Leipzig oder Regensburg, in herzlicher, gastfreundlicher Weise empfangen wurden, brauche ich Anerkennenswertes nicht erst hervorzuheben, und über die Art des Empfanges in der Heimat will ich lieber schweigen. Diese Erinnerungen sind so traurig und bitter, daß man sie besser ruhen läßt und allmählich vergißt.

Schon sind es mehr als 10 Jahre, daß sich für uns die Tore des Gefangenenlagers wieder öffneten. Was ist wohl aus allen denen geworden, die diese fünf langen Jahre zusammen mit mir gebangt und gehofft haben, und wohin mag sie der Kampf um das Dasein verschlagen haben? Schwere Jahre sind seither über uns alle gekommen, die vielleicht noch härtere Anforderungen an die Energie und Ausdauer jedes Einzelnen stellten als damals. Doch was bedeuten 10 Jahre im Leben einer Nation! Werden doch noch einige 10 Jahre vergehen, bis auch für uns, die Schiffbrüchigen des großen Ringens, die Sonne wieder scheinen wird. Und wenn es manchmal schwer fällt, durchzuhalten und nicht zu verzagen, dann mögen wir zurückdenken an unsere Leidenszeit und die Worte beherzigen, die einst Friedrich der Große in den schwersten Momenten seines Lebens gefunden hat: "Es ist nicht nötig, daß ich lebe, wohl aber, daß ich meine Pflicht tue, daß ich kämpfe, um mein Vaterland zu retten, wenn es noch zu retten ist."
 

Anhang

Im Anhange seien hier einige Programme von Veranstaltungen im Lager von Aonogahara wiedergegeben; sie sind durchwegs künstlerisch gezeichnet und mit Hektographen vervielfältigt.20 Jenes der "Kleinstädter" zeigt ein altes Stadttor mit der Signierung F.L. und die beiden vom "Nachtwächter" bzw. "Zerbrochenen Krug" und "Zuguterletzt" allegorische Bilder und Rahmenzeichnung mit dem Signum L.F. Sie rühren also alle von einer Hand her.21 Das "Wohltätigkeitskonzert" zugunsten der notleidenden Gefangenen in Ostsibirien, Sonntag, 30. März 1919, zeigt folgendes Programm: Raymond-Ouvertüre von Thomas, Reverie von Vieuxtemps, Solvejgs Lied von Grieg, Norma-Ouvertüre von Bellini, Pilger-Chor aus "Tannhäuser" von Wagner und einen Militärmarsch von Schubert. — Am 7. Juli 1919 fand die Aufführung von Kotzebues "Die deutschen Kleinstädter" statt, das auch über viele andere Gefangenenbühnen ging. Das Programm bringt auch eine kurze, ganz treffliche literarische Würdigung des Dichters. — Am 31. August 1919 erfolgte die Aufführung von Theodor Körners Schwank "Der Nachtwächter" und Heinrich Kleists klassischem Lustspiel "Der zerbrochene Krug". Das Orchester gab als Vorspiel einen Marsch und die Ouvertüre zur Operette "Im Reiche des Indra" von Linke und als Zwischenspiel "Der Rose Hochzeitszug" von Jessel und die Ouvertüre zur „Herbstkönigin" von Bigge. — Zuguterletzt gab es noch am 14. Dezember 1919 "zugunsten unserer in Sibirien zurückbleibenden Kameraden", veranstaltet von Herrn Klinke und der Lagerkapelle unter Leitung des Herrn Steglich, einen "Vortrags- und Musikabend" mit reichem Programm, das eine Groteske von Klinke, "Zuguterletzt", abschloß.
 

Anmerkungen

1.  Richtig ist, dass die Verlegung bereits am 20.09.1915 stattfand.

2.  In Österreich u.a. Bezeichnung für eine Neben-/Kleinbahn.

3.  Vom Verfasser nicht erwähnt: Betroffen waren vor allem die nicht deutschsprachigen Gefangenen, weil ein Übersetzer für Tschechisch usw. häufig nicht zur Verfügung stand.

4.  Die angegebene Zahl ist sicherlich zu niedrig.

5.  Es ist nicht klar, wer gemeint ist.

6.  Siehe den Bericht von Meller.

7.  Siehe auch den nächsten Abschnitt sowie, als Gegenbeispiel, den Bericht von Welles.

8.  Bei Kriegführenden, die gegenseitig eine größere Zahl von Gefangenen genommen hatten, war ein Interessenausgleich – notfalls unter dem Druck von Repressalien – in der Regel eher möglich.

9.  Siehe etwa den Bericht von Gerlach.

10.  Pierre Loti schrieb in den 1880er Jahren drei vielgelesene Japan-Romane. Lafcadio Hearn hatte um die Jahrhundertwende einen noch größeren Erfolg mit japanbezogenen Romanen, Geschichten und Sachbüchern. Beide zeichneten ein stark idealisiertes Bild von Japan.

11.  Hier liegt möglicherweise eine Verwechslung mit Ninoshima vor.

12.  Richtig ist, dass Bando nach Fläche und nach Belegung das zweitgrößte Lager war.

13.  Richtig ist, dass das Lager Kurume bis 1920 bestand.

14.  Es kann sich um die kleine Gruppe handelt, die am 04.08.1918 von Kurume nach Aonogahara verlegt wurde, oder um die größere Gruppe, die am 20.10.1916 eintraf.

15.  General Nogi, der Anfang 1905 die russische Festung Port Arthur erstürmt hatte, wählte 1912, 6 Wochen nach dem Tod von Mutsuhito, den Freitod.

16.  "Roter Maradevi" ist eine selten verwendete Bezeichnung für "Geld", ähnlich dem "roten Heller", und abgeleitet von einer spanischen Münze, die auch noch im 19. Jh. ausgegeben wurde.

17.  Der Freitod eines Gefangenen wird hier korrekterweise nicht mitgezählt.

18.  Auf diesem Schiff wurde 222 Gefangene aus Aonogahara heimtransportiert, 99 weitere auf Hudson Maru; das Transportmittel der übrigen ist unklar.

19.  Kifuku Maru legte bereits am 28.02.1920 in Wilhelmshaven an; vielleicht liegt eine Verwechslung mit Himalaya Maru vor.

20.  Die Programme sind im Original nicht abgedruckt.

21.  Die Bedeutung des Akronyms ist unklar.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
Zuletzt geändert am .