Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Aonogahara

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Das Lager Aonogahara im Jahre 1916

Aus dem Bericht von Sumner Welles

Auf diplomatischen Druck erlaubte die japanische Regierung 1916 einem Vertreter der US-amerikanischen Botschaft in Tokyo, die Gefangenenlager zu inspizieren. Aus dem Bericht des Botschaftssekretärs Sumner Welles wird hier der Aonogahara betreffende Teil wiedergegeben. (Quelle: Bundesarchiv/Militärarchiv; die Übersetzung wurde 1916 vom Auswärtigen Amt besorgt. Unterstreichungen wurden weggelassen).
 

Am 3. März [1916] um 12 Uhr traf ich in Aonogahara1 ein. Das Lager ist etwa 5 (engl.) Meilen von der Bahnstation entfernt auf einer freien Hochebene gelegen. Es ist verhältnismäßig neu, und die Gefangenen sind erst vor einigen Monaten2 von Himeji hierher übergeführt worden, wo sie in einem Tempel untergebracht waren und nicht genügend Platz für körperliche Ausarbeitung3 hatten.

Ich wurde am Eingang zum Lager vom Lagerkommandanten und dem Vertreter des Garnisonkommandanten empfangen. Das Lager, in dem sich insgesamt 413 Gefangene befinden, ist groß und geht auf ein weites Feld hinaus, wo sich die Gefangenen täglich zum Spielen usw. aufhalten können. Auf dem Lagergelände selbst befinden sich zwei Tennisplätze zur Benutzung durch die Offiziere. Auf der einen Seite des Lagerplatzes steht ein für die acht gefangenen Offiziere bestimmtes besonderes Gebäude aus Fichtenholz mit Steinfußboden. Major Drachenthal, der älteste unter ihnen, bewohnt ein Zimmer allein, die übrigen Offiziere haben gemeinsame Schlafräume. Ein Speisezimmer und besondere, außerordentlich gut gehaltene Küchen und Badeeinrichtungen stehen ihnen zur Verfügung. Die Bedienung und die Küche wird von den Offiziersburschen besorgt. Auf dem übrigen Raum des Lagerplatzes sind die Gebäude für die Unteroffiziere und die Mannschaften reihenweise angelegt. Je 50 Gemeine und Unteroffiziere bewohnen ein solches Gebäude, und je 5 Unteroffiziere haben einen viereckigen Raum inne, der sich an jedem Ende dieser Gebäude befindet. Die Abmessungen dieser Häuser betragen je etwa 100 zu 25 Fuß. Eine große Küche mit Steinfußboden, in der dazu bestimmte Gefangene für alle kochen, ist zur Verfügung; die Kantine ist täglich drei Stunden geöffnet. Die Bade- und sanitären Einrichtungen sind ausgezeichnet.

Den Offizieren ist gestattet, sich nach Belieben mit Möbeln zu versehen, die Mannschaften dürfen jedoch nur die vorschriftsmäßigen Strohmatratzen als Lagerstätten benutzen. Diese Matratzen liegen in den Schlafräumen außerordentlich dicht neben einander auf einer erhöhten Plattform, die sich an jeder Seite des Gebäudes entlang zieht; dazwischen läuft statt eines Holzfußbodens ein mit Kies bestreuter Gang, auf dem die Tische zum Essen und Arbeiten aufgestellt sind.

Die Gefangenen schienen alle ausreichend bekleidet zu sein. Wie ich hörte, haben sie sich aus Tsingtau alle wenigstens 2 Paar Stiefel und 2 warme Anzüge mitgebracht; für die heiße Zeit versieht die Regierung die Gefangenen mit leichterer Kleidung. Jeder Gemeine erhält 6 Decken; die Räume, in denen die Mannschaften wohnen, waren tagsüber alle gut geheizt.

Die Offiziere sorgen alle selbst für ihre Beköstigung. Die übrigen Gefangenen haben gewöhnlich Tee und Brot zum Frühstück, Fleisch oder Fisch oder Suppe mit Gemüse oder Kartoffeln als Mittagsmahlzeit und Fleisch mit Tee und Brot als Abendessen. Die meisten Gefangenen schienen in guter Verfassung zu sein, der Gesundheitszustand im Lager ist seit der Überführung nach Aonogahara fortgesetzt gut gewesen. Zur Zeit meines Besuches befanden sich in dem gut eingerichteten Krankensaal drei Gefangene, von denen der eine an einem schweren Nierenleiden darniederlag, während die beiden anderen leichter erkrankt waren.

Bei meinem Rundgang durch das Lager besuchte ich zunächst die Unterkunftsräume der Offiziere. Major Drachenthal sagte mir nach wenigen Worten, daß ich von Unteroffizier Hennig, wenn ich mit ihm sprechen würde, ein zusammenfassendes Verzeichnis der Beschwerden der Gefangenen erhalten könnte. Als ich den Unteroffizier Hennig traf, übergab er mit eine mit der Schreibmaschine geschriebene Liste von Klagen. Ich bat den Kommandanten um Erlaubnis, das Schriftstück an mich zu nehmen, was er mir auch unter der Bedingung gestattete, daß ich ihm Zeit zur Anfertigung einer Übersetzung ließe. Der Kommandant schien aber sehr ungehalten über dieses Vorkommnis zu sein und sagte, er hätte keine Ahnung gehabt, daß irgend ein Anlaß zu Klagen vorhanden sei.

Nachdem er das Verzeichnis der Beschwerden durchgesehen hatte, erklärte mir der Kommandant, daß, soweit es sich um das Schlagen von Gefangenen handelte, die Klagen in lächerlicher Weise übertrieben seien; niemals sei ein Gefangener von einem Wachtsoldaten geschlagen worden, sondern er habe lediglich einen leichten Stoß bekommen. Die übrigen Beschwerden wurden im großen und ganzen als richtig zugegeben, mir wurde jedoch erklärt, daß sie auf Anordnungen des Kriegsministeriums zurückzuführen seien, für welches die Lagerverwaltung nicht verantwortlich sei.

Die nach meiner Ansicht weitaus ernsteste Einzelbeschwerde, deren Prüfung für mich aber unmöglich war, betrifft den Gesundheitszustand des Gefangenen Krusinger, von dessen Nierenerkrankung ich bereits gesprochen habe. Der Mann, dessen Leiden sich zu verschlimmern scheint, klagt über ungeeignete Kost und über Mangel an ärztlicher Behandlung. Der Lagerarzt, der nach dem Gefangenen sieht, sagte mir, daß der Zustand von Kranken, die er unter seiner Pflege habe, sich unmöglich verschlechtern könne. Die Erfahrungen der Gefangenen stimmten aber mit dieser Ansicht nicht überein, und es scheint dringend geboten, daß dieser Kranke von einem Facharzt untersucht wird.

Die Gefangenen in Aonogahara haben reichlich Gelegenheit zu körperlichen Übungen, und Bücher und Lesestoffe stehen ihnen nach Belieben zur Verfügung. Sie haben aber keine Gelegenheit, irgend ein Handwerk auszuüben oder sich in ähnlicher Weise zu beschäftigen, und ich verstehe, daß sie die Erlaubnis hierzu dringend ersehnen.

Im allgemeinen scheinen die Verhältnisse in diesem Lager gut zu sein. Die Fälle von Mißhandlung Gefangener halte ich entweder für Ausnahmefälle oder für sehr übertrieben. Die Gebäude des Lagers und die Gelegenheit zu körperlicher Bewegung und zu gesundheitsdienlicher Lebensweise, die es bietet, sind ungewöhnlich gut. Während meines Besuches fiel mir jedoch die Abwesenheit freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Offizieren und Mannschaften einerseits und den mit ihrer Bewachung beauftragten japanischen Verwaltungsbeamten andererseits auf.

Um 4 ½ Uhr verließ ich Aonogahara.

Das bereits erwähnte Verzeichnis der Beschwerden erlaube ich mir hier beizufügen.


Aonogahara, 3. März 1916

1. Die Art, wie hier die Mannszucht durchgeführt wird, entspricht nicht den Grundsätzen, die gemäß den Abmachungen über Behandlung von Kriegsgefangenen nach dem Völkerrecht zur Anwendung kommen müßten. Schwere Bestrafungen werden für geringfügige Vergehen verhängt, Haftstrafen im Wachthause, dessen Gefängniszelle aus Holz ist und sogar im Winter nicht geheizt wird, obgleich sie nur sehr leicht gebaut ist. Ferner ist diese Zelle nur durch eine dünne Holztür von den unregelmäßig gereinigten Aborten getrennt. Außer früheren sind in neuester Zeit zwei Fälle bekannt geworden, in denen die zwei Arrestanten, Reservisten von 37 und 38 Jahren, mit je 5 Tagen schweren Arrests bestraft worden sind, obgleich die Gefängniszellen aus sanitären Grunden infolge der üblen Ausdünstungen aus den Aborten zur Benutzung als Strafzellen gänzlich ungeeignet sind. Trotz der bitteren Winterkälte mußten die in Arrest gesteckten Leute die Nächte ohne Decken und, entsprechend den japanischen Vorschriften, mit den Füßen im Block zubringen. Eine Untersuchung des Körperzustandes, die sonst vor der Inhaftsetzung stattzufinden pflegte, wurde bei dieser Gelegenheit nicht vorgenommen.

2. Noch viel weniger sollte es nach den Grundsätzen des Völkerrechts erlaubt sein, daß Gefangene von japanischen Offizieren und Wachmannschaften geschlagen werden. Unter anderen Fällen sollen die folgenden aufgeführt werden, um als Beispiel zu dienen.
Während eines kurzen allgemeinen Spaziergangs geschah es, daß eine japanische Hängebrücke infolge des Darüberhinwegmarschierens zu schwingen anfing. Der japanische Oberleutnant, der dem Trupp folgte, gab den Befehl zum Halten, und als diesem Befehl nicht sogleich gehorcht wurde, schlug er einen ruhig neben ihm Stehenden, den Matrosen Schlotterbeck, mit seiner Faust in das Gesicht, sodaß ihm die Mütze herunterfiel. An einem anderen Morgen ging der österreichische Unteroffizier Casa Piccola an das japanische Wachlokal, um nach der Uhr zu sehen, die dort hängt, was niemals verboten und durchaus üblich war. Plötzlich sprang einer der japanischen Wachleute zu ihm heraus und ohrfeigte ihn. Auf Einwendungen, die gegen solche Fälle von Mißhandlungen gemacht worden waren, wurden die Antworten erteilt, daß entweder solche Behandlung im japanischen Heer üblich sei oder, im letzteren Falle, daß das Wachtlokal ein Heiligtum für die Japaner darstelle. Es ist wiederholt vorgekommen, daß die Wachen die Gefangenen schon einige Zeit vor dem morgendlichen Wecken mit Knüppelschlägen aus den Betten getrieben haben. Vor kurzem hat der Obermaat Urbansky gegen eine solche Behandlung Einspruch erhoben.

3. Auch die Leitung des Hospitals ist durchaus nicht einwandfrei gewesen. Der Gefangene Raschdorf hat sich darüber beklagt, daß ihm nur die sehr fette und schwerverdauliche gewöhnliche Gefangenenkost gereicht worden sei, obgleich er an einer Magenerkrankung leide. Es ist auch verschiedentlich vorgekommen, daß die Gefangenen, um geeignete Behandlung zu erhalten, verschiedene Summen für Arzneien bezahlt haben, die ihnen auf Verlangen des Arztes geliefert wurden, wie z.B. der Gefangene Krusinger, der jetzt an einem schweren Nierenleiden erkrankt ist.

4. Ferner wissen die Gefangenen nicht, ob sie ohne Rücksicht auf Alter, persönlichen Rang und Erziehung und ohne angemessene Vergütung zu Arbeiten außerhalb des Lagers verwendet werden dürfen, wie es z.B. gerade jetzt bei gewisssen Feldarbeiten geschehen ist.4

5. Da die Kost der meisten Gefangenen nicht immer zufriedenstellt, war ihnen früher die Erlaubnis eingeräumt worden, sich Lebensmittel von der Firma Dick u. Bruhn in Kobe zu bestellen.5 Die Ausführung dieser Bestellungen erlitt bald eine Verzögerung, und jetzt sind unmittelbare Aufträge vollständig verboten, vielmehr [ist] angeordnet worden, daß die Bestellungen durch die Lagerkantine gehen müssen. Die auf diese Weise bestellten Nahrungsmittel können einen Vergleich mit den unmittelbar bestellten nicht aushalten, auch nicht mit Bezug auf den Preis, so z.B. kostet
bei der Firma in Kobe
Butter – 0.95 Yen
Kaffee – 0.75 Yen
Speck – 0.40 Yen
beim japanischen Kaufmann
1.00 Yen
0.90 Yen
0.50 Yen

6. Auch die Handhabung der ein- und ausgehenden Post sollte nicht unerwähnt bleiben. Außer der Tatsache, daß Briefe von Kriegsgefangenen, die nicht deutsch sprechen, sondern slawisch sprechende Österreicher sind, unter der Begründung zurückgehalten werden, daß es unmöglich sei, einen Zensor dafür zu finden, sollen auch die folgenden Beispiele von ungerechter Behandlung angeführt werden:
Der Gefangene Müller schrieb vor Weihnachten eine Postkarte, die er vor 10 Tagen in dem Zimmer eines japanischen Dieners wiedersah; Matrose Frinke empfing im März 1915 laut der in seinen Händen befindlichen Bescheinigung 200 Zigarren und 500 Zigaretten, die ihm in kleinen Teilen ausgehändigt wurden. Als er den Rest von 100 Stück zu erhalten wünschte, erklärte der Dolmetscher, daß ihm nicht mehr gegeben werden würden. Matrose Busch empfing am 23. November 1915 ein Paket, wie er selbst und der Gefangene Janssen in der Kanzlei feststellten; als er es sich am 24. November 1915 abholen wollte, sagte ihm der Dolmetscher, daß bis jetzt kein Empfangsschein da wäre; am nächsten Tage war das Paket, wie der Gefangene vermutet hatte, verschwunden. Am 7. Januar sandte der Matrose Thiele an einen Freund in Fukuoka einen Brief, auf dessen Rückseite er Briefmarken im Werte von 42 Sen geheftet hatte, damit sein Freund ihm für den Gegenwart Federn schicken sollte. Der Brief wurde abgegeben und als gewöhnlicher Brief angenommen; auf Anfrage erhielt der Gefangene auch später die Versicherung, daß der Brief abgesandt worden sei. Gestern wurde der Brief zufällig im Zimmer eines japanischen Dieners im Kohlenkasten aufgefunden; die Rückseite trug zwar keine Marken mehr, zeigte aber noch die Stellen, an denen sie befestigt worden waren. Dieses Schriftstück wird gegenwärtig einer Prüfung durch die japanische Lagerverwaltung unterzogen.

Außer diesen verschiedenen Fällen haben sich die Gefangenen Speicher6, Bahlke, Janssen und viele andere darüber beschwert, daß Briefe, die sie vor 3 Monaten nach Ostasien gerichtet haben, nicht angekommen sind, wovon sie durch eine außerhalb des Lagers befindliche Stelle Kenntnis erhalten haben.
 

Anmerkungen

1.  Welles bzw. der Übersetzer schreibt durchgängig "Aonagahara"; wir bleiben im Übrigen bei "Aonogahara".

2.  Der Umzug war am 20.09.1915 erfolgt.

3.  Gemeint ist "Training" (im Original: "workout").

4.  Es geht um die Anwendung des Artikels 6 HLKO.

5.  Vermutlich handelt es sich um die Firma Dick, Bruhn & Co. in Kobe.

6.  Ein Gefangener dieses Namens ist nicht bekannt; vielleicht ist Streicher gemeint.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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