Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Kriegsereignisse

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Das Adlernest

von Max Bunge

Der folgende Text fand sich im Nachlass von Max Bunge. Der Vergleich mit dessen umfangreichem Kriegstagebuch legt die Vermutung nahe, dass der Text ebenfalls von Bunge verfasst wurde. Er war allerdings kein Augenzeuge, sondern musste sich an das halten, was einige der wenigen Leute, die wieder die eigenen Linien erreichten, berichtet haben.
Der Textkörper wird hier unverändert wiedergegeben, orthographische Eigenheiten wurden stillschweigend korrigiert. Der Redakteur hat Zwischentitel und einige Anmerkungen eingefügt sowie einen ergänzenden Hinweis ans Ende gestellt.

Inhalt
[1] Einrichtung des Vorpostens
[2] Beobachtung und Feuerleitung
[3] Vergebliche Verteidigung des Vorpostens
[4] Ergänzende Hinweise des Redakteurs
 

[1] Einrichtung des Vorpostens

»Antreten« rief eines Morgens der Feldwebel mit klarer Kommandostimme in der Kasematte des Infanterie-Werkes IV vor Tsingtau. Eilig bauten sich die kernigen Burschen der Besatzung in Linie zu zwei Gliedern vor der Kompagniemutter auf.1
Sechzig Mann und einige Unteroffiziere sollten unter Führung eines Offiziers zur Besetzung einer wichtigen Stellung in den Prinz-Heinrich-Bergen ausgesucht werden.2 Das war bald geschehen.
Mit fliegender Hast eilten sie zurück in die dumpfen Unterkunftsräume des Werkes und suchten ihr weniges Gepäck zusammen. Tornister und Brotbeutel waren schnell gepackt, die Patronentaschen mit scharfer Munition nachgefüllt. Bald darauf stand die kleine Abteilung auf dem Hofe vor der großen Kasematte feldmarschmäßig zum Abmarsch bereit.

»Mit Gruppen rechts schwenkt, Marsch« kommentierte der Leutnant3, und dann ging's im strammen Tritt mit »Augen rechts« am Werkkommandanten vorbei, der ernst grüßend sich von den Leuten verabschiedete. Leicht war es ihm nicht geworden, die sechzig Gewehre von seiner schwachen Besatzung abzugeben. Aber in der Abteilung war jeder froh, aus dem Einerlei des Werkdienstes herauszukommen.
Als sie die spanischen Reiter, die wie ein zusammengerollter Igel vor dem Tor am Werkhindernis lagen, hinter sich hatten, wurde »Marschordnung« befohlen. Bald schwatzte, rauchte und lachte alles. Kampfeslust und Tatendrang leuchtete auf den jungen Gesichtern... »Mensch, da haben mer aber Schwein g'habt, mit dabei sein zu dürfen...« »Ja, ja, die Stellung soll da oben so gut wie uneinnehmbar sein, sagte der Alte zum Leutnant.« »So des is mer schon recht, wenn es recht lange dauert.« Ein anderer wollte wissen, dass die steilen Felswände zum Überfluss mit grüner Seife eingeschmiert werden sollten. »Da wird im Leben keiner von den Munkis hinauf kommen...« Unter solchen und ähnlichen Gesprächen und fröhlichen Soldatenliedern langte der kleine Trupp nach einem äußerst mühsamen Aufstieg gegen Abend auf einer Felsplatte der Prinz-Heinrich-Berge an.

Klar gezeichnet stiegen die ernsten Wipfel der felsigen Berge ins dunkle Blau des wunderschönen Abendhimmels. Nach kurzer Rast wurden Zelte aufgeschlagen und notdürftige Verteidigungsstellungen hergerichtet. Am nächsten Tage war in aller Herrgottsfrühe schon alles wieder auf den Beinen. Eine emsige Arbeit begann. Alles was irgendwo zu einer längeren Verteidigung von Nutzen sein konnte, wurde herbeigeschleppt. Proviant, Munition, Wasser, Sandsäcke und die sonstigen vielerlei Kleinigkeiten, die für eine von der übrigen Welt für längere Zeit abgeschnittene Abteilung unbedingt zum Leben erforderlich waren.
Leider reichten die sechzig Paar Soldatenhände nicht, diese Arbeit zu bewältigen. Vor allen Dingen machte der Transport von Munition und Wasser den steilen Bergpfad hinauf riesige Schwierigkeiten. Unsere Jungs packten zwar an, dass die Knochen knackten. Aber die Zeit drängte. Meldungen von unseren Vortruppen berichteten, dass der Feind mit starken Kräften immer weiter gegen das schöne deutsche Tsingtau drückte. So entschloss sich dann der Führer des Kommandos schweren Herzens, die Hülfe chinesischer Kulis in Anspruch zu nehmen. Dass in dieser Bande, die schmutzig und faul, nur durch äußerste Strenge und mit Geld anzutreiben ist, der Verrat schlummerte, war nur zu bekannt. Aber die Truppe mußte so schnell wie möglich mit dem Nötigsten versehen werden. Strenge Aufsicht konnte nicht verhindern, dass sich einige von den schlitzäugigen Burschen bald drückten. Wohin, war nur zu klar.

Von unserer luftigen Höhe, die irgend jemand »Adlernest« getauft hatte, bot sich uns eine wunderschöne Fernsicht. Im Norden liegen die gewaltigen und schroffen Gebirgszüge des Lauschan in aschgrauer Farbe im Schleier eines fahlen Nebeldunstes. Vor dem Gebirge ziehen sich im mattem Grün die sanften Wellen der Litsuner Höhen hin, und vor diesen erstreckt sich eine Ebene bis zum Fuß der Prinz-Heinrich-Berge. Ärmliche chinesische Ortschaften liegen vereinzelt hier und da zwischen gelben, herbstlich gefärbten Hirsefeldern. Aus den niedrigen Lehmhütten stiegen dünne Rauchfäden kerzengrade empor. Ein Flüßchen, sonst in seinem Bette nur gelben Sand zeigend, war von den Regenströmen der letzten Tage bis zum Ufer angeschwollen und zog wie ein silbernes Band blinkend durch die Ebene. Auf der großen breiten Straße, die gen Norden führt, sauste ein Automobil mit rasender Geschwindigkeit hin. Radfahrer und Meldereiter belebten die Straßen. Hoch oben im blauen Äther zog unser kühner Fliegeroffizier mit seiner Rumpler-Taube in majestätischem Flug dorthin, wo der Feind stand.
Gegen Tsingtau gewandt, sah das Auge die reizenden Höhen der Iltis- und Moltke-Berge im saftigen Grün, davor das wie aus einem Baukasten hingestellte chinesische Dorf Taitungtschen mit seinem gelb angetünchten Polizeistationsgebäude. Die fünf Infanteriewerke verrieten sich durch ihre Stacheldrahthindernisse, die wie ein graues Stachelschwein hier und da das Gelände durchbrachen.
Die Innenbucht lag gleich einem großen Inlandsee in friedlicher Ruhe da. Auf dem weiten Meere, das sich in gleichmäßigen Atemzügen gegen die harte Brust des Landes drückte, schwammen die Kolosse der feindlichen Blockadeflotte mit mächtig qualmenden Schloten. Schnell laufende Torpedoboote huschten hin und her, weißen Gischt am scharfen Bug. Lange Batzen schwarzen Rauches blieben in der reinen Sommerluft hängen.

Wohl kein Punkt konnte geeigneter sein, die feindlichen Bewegungen zu beobachten, als das Adlernest. Mit dem Festungskommando waren wir telephonisch verbunden. Sollte es des Schicksals Tücke fügen, dass uns eines Tages eine feindliche Granate die Strippen des Fernsprechers zerriss oder dass sie von den verräterischen Chinesen kurzerhand zerschnitten wurden, dann hatten wir immer noch den Heliographen zur Verfügung.
Es schien alles aufs Beste vorbereitet zu sein. Nur die Befürchtung, von den Chinesen dem Feinde vorzeitig verraten zu werden, störte die Hoffnung in das Gelingen unserer Aufgabe etwas.
 

[2] Beobachtung und Feuerleitung

Die ersten Tage verliefen bei fleißiger Schanzarbeit unter herrlichem Wetter verhältnismäßig ruhig.
Da hörten wir eines Abends, ganz ferne hinter den dunklen, drohenden Bergen des Lauschans, grollenden Geschützdonner. Unsere schwache Vorhut stand dort mit dem Feinde in hartem Kampfe. Die Wachtposten wurden vorsichtshalber bei uns verstärkt, und alle anderen Mannschaften lagen während der Nacht mit dem Gewehr im Arm alarmbereit im Zelt.
Es war eine herrliche, milde Sommernacht. Über uns am Firmament funkelte das Milliardenheer der Sterne. Der Mond breitete sein fades Licht über das Land, in dem tausend und abertausend Zikaden zirpten. Die Kanonen schwiegen. Ruhe ringsum. Scharf spähte der Doppelposten in die Nacht hinaus. Ein Häslein sprang verschüchtert vor der Ablösung auf. Leise gab das Echo den widerlichen Schrei einer Eule wieder. Langsam vergingen die Stunden...

Mit dem ersten Dämmern des jungen Tages drohte von Norden her wieder der dumpfe Bass der Geschütze. Das ging den ganzen Tag in kurzen Zwischenräumen: bumm bumm bumm...
Fernsprechermeldungen aus der Festung berichteten, dass unsere kaum tausend Mann trotz feindlicher Übermacht noch das Vorland hielten. Aber wie lange noch?
Auf der großen Straße nach Norden war heute ein ganz besonders lebhafter Verkehr von Kraftfuhrwerken und Reitern. Mit dem Glase konnten wir deutlich das Rote Kreuz auf weißem Grunde an einzelnen Wagen erkennen.
Am Abend kam die Meldung, dass der Gegner unsere Truppen von den Tsangkauer Höhen zurückgedrängt hatte. Kämpfend hatten sich die Unsrigen in der Nacht bis zu den Litsuner Höhen zurückziehen müssen.

Der Morgen erwachte eben mit silbernem Funkelgesicht, als der Feind mit starken Kräften nachdrängte und unsere dünne Linie auf die Waldersee-Höhen und Taschen-Berge drückte.
Jetzt konnten auch wir auf unserem Posten in Tätigkeit treten. Prächtig, wie ein herrliches Gemälde, lag das Gewoge des Kampfes zu unseren Füßen.
Kolonne auf Kolonne des Feindes brach über die Litsuner Höhen in dicken, gewaltigen, gelben Klumpen vor. Seine Artillerie galoppierte heran, protzte ab und feuerte. Bald entwickelte er Schützenschwärme. In langer Linie, Reihe hinter Reihe, gingen sie vor.

Unser Telephon arbeitete ohne Unterlass. Scharfe Augen lugten durch das Scherenfernrohr. »Quadrat X – feindliche Kolonnen!« ruft der Mann am Schalltrichter des Fernsprechers. »Pass auf, gleich wird wieder einer unser dicken Brummer drin sitzen.« »Einschlag gut!« schreit der Telephonmann und wieder grelle Blitze in weißen Wolken. Dann ein Fauchen, Zischen, Donnern und Krachen. Hohe Säulen schwarzer Erde stieben dort unten hoch. Wo eben noch eine Kolonne heran marschierte, laufen und rennen die Menschen, hierhin, dorthin, regellos durcheinander, gegen das tödliche Eisen Deckung suchend. Schmutzig gelbe Staub- und Pulverwolken überall in den feindlichen Linien. Auch unsere Batterien auf dem Iltis- und Moltkeberg werfen das glühende deutsche Eisen dem Gegner entgegen. Gierig lecken die roten Strahlen des Mündungsfeuers durch das matte Grün am Hange der Berge. Dank der vorzüglichen Beobachtung, die von unserer Stellung aus gemacht wird, liegen alle Einschläge unserer Batterien ausgezeichnet. Auch von der Kiautschou-Bucht, vom Tsangkouer Tief her, wird jetzt der Gegner unter Feuer genommen. Schuss auf Schuss kracht von SMS Jaguar und aus den Kanonen unseres Bundesgenossen, die von Bord ihrer Kaiserin Elisabeth mit großer Bravour trotz heftigen gegnerischen Feuers ihre gutgezielten Schüsse in die feindlichen Reihen legen. Dieses Flankenfeuer wird dem Gegner gefährlich. Sein weit vorgenommener rechter Flügel muss wieder zurück genommen werden.

Weiter funken unsere Artilleristen in das vom Beobachter gemeldete Ziel. Krachend und brüllend schaffen unsere Granaten sich blutige Bahn. Doch immer wieder schließen sich die Lücken mit neuen Menschen. Neue Kolonnen, neue Schützenschwärme tauchen hinter der vordersten Linie auf, stürzen, rennen und springen vorwärts mit Todesverachtung. Verdammt, die Burschen haben Schneid...
An einer Stelle räumt eine Salve unserer schweren Feldhaubitzen mächtig auf. Der Gegner weicht. Seine Massen fluten in ein Dorf zurück. Doch unser Beobachter am Scherenfernrohr ist auf dem Posten. Wieder rasselt der Fernsprecher. Bald darauf liegen die Salven unserer Artillerie mitten in dem chinesischen Drecknest. Für Minuten ist da unten in dem Dorf alles in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt. Salve auf Salve folgt. Mauerwerk, Balken, Trümmer von Hausgerät, Menschen fliegen, in Fetzen zerrissen, wie Spreue in die Luft, als ob der chinesische Bauer seinen Weizen im Winde reinigte. Gierige Feuerzungen lecken und springen aus dunkler Rauchwolke über die strohgedeckten, erbärmlichen Lehmbuden. Als sich die Rauchschwaden verzogen hatten, sah man nur noch Trümmerhaufen.
Aber auch die gegnerische Artillerie ist nicht untätig. Überall aufblitzendes Schrapnellfeuer über unserer Linie. Schwarze Wolken von Granateinschlägen dazwischen. An der ganzen Linie entlang zeigen sich kleine, helle Staubwolken der einschlagenden Infanterie- und Maschinengewehr-Geschosse. Deutlich hören wir den hellen Klang unseres Kleingewehrfeuers und das Rattern unserer Maschinengewehre.
 

[3] Vergebliche Verteidigung des Vorpostens

Wir waren noch ganz vertieft in die Beobachtung des Kampfes, als plötzlich die Meldung kam: »Wir werden von feindlichen Kräften angegriffen.« Unmöglich, dass der Feind uns auf unserm Felsennest schon entdeckt haben könnte. Kein Zweifel, die verdammten Chinesen hatten uns verraten...4 Nun werden die Gelben uns schnell auf den Pelz rücken. Jetzt ruhig Blut. Komme, was kommen mag. So leichten Kaufes sollen sie uns denn doch nicht bekommen.
Ruhig erteilt unser Führer seine Anordnungen. Die Stellungen werden besetzt, Patronen und Handgranaten werden klar gelegt. Lange brauchen wir nicht mehr untätig zu warten. Bald ist die erste Linie der Gegner in Gewehrschußweite heran, und wir eröffnen ein gutgezieltes Schützenfeuer. Auch der Feind überschüttet uns mit seinem Gewehrfeuer. Pfeifend und singend, murrend und klatschend fliegen uns die Geschosse um die Köpfe, schlagen gegen den harten Fels, dass die Funken stieben...

»Ruhig feuern, gut zielen. Jeder Schuss muss sitzen!« feuert uns unser Postenführer, Sergeant Pauly, an. Und die schönen deutschen blauen Bohnen saßen. Keine verfehlte ihr Ziel. Mancher Japs schlug einen schönen Purzelbaum, den letzten in seinem Leben, den steilen Felsenhang hinab. Aber es kamen immer mehr aus den Felsspalten und Ritzen gekrochen. Sie fassten Fuß, kamen höher hinauf, obgleich wir wie verrückt schossen. Ab und zu stockten sie, kauerten sich hinter einen Felsbrocken oder stellten sich tot, doch dann ging es unter wütendem »Banzai«-Gebrülle immer weiter. Schritt für Schritt mussten sie sich erkämpfen. Unten folgten weitere Linien. Herrgott, da kommen so viele von den Kerls in ihren gelben flatternden Kitteln herausgekrabbelt, dass sie uns trotz unseres mörderischen Schnellfeuers einfach erdrücken werden, wenn sie oben sind.
Immer weiter feuern, nur keine Pause machen. Da, dort, überall kommen sie... Stundenlang lagen wir uns so gegenüber. Immer näher kamen die Japaner. Einige wurden aus ganz naher Entfernung abgeknallt. Unsere Gewehrläufe waren schon glühend heiss geworden. Kaum vermochte man sie noch anzufassen. Als der Gegner wieder einen Versuch machte, höher hinauf zu kommen, schrie uns der Sergeant zu: »Handgranaten!« »Handgranaten! Handgranaten!« lief es weiter durch die Schützenlinie. Krachend flogen die kleinen Päckchen den Angreifern zwischen die scheeläugige Fratze. Hah, das zog! Für eine kurze Zeit gab es Luft. Aber dann versuchten sie wieder unter Ausnutzung der natürlichen Deckung weiter hinauf zu kommen. Wieder wurden sie mit einer Ladung Handgranaten empfangen. Einige sprangen zurück, andere verkrochen sich eiligst hinter Felsklotzen.

Doch auch auf unserer Seite hatte das feindliche Blei die Reihe gelichtet. Drei brave Kameraden lagen schon mit starren Gliedern da.5 Andere waren verwundet, kämpften aber weiter mit. Da kam von einem anderen Posten die Meldung, dass er bereits völlig umzingelt sei. »Oberleutnant Grabow verwundet, an ein weiteres Halten der Stellung nicht mehr zu denken«, hieß es. Bald darauf hörten wir, dass auch Telephon- und Signaltrupp in hartbedrängter Lage seien. Wir kämpften mit dem Mute der Verzweiflung weiter. Dann kam die Meldung, dass ein Posten und der Telephon- und Signaltrupp vom Feinde überrannt sei. Auch wir waren von allen Seiten, wie es schien, umschlossen. Es war jedem klar, dass wir in einigen Minuten der feindlichen Übermacht erliegen mussten. Tod oder Gefangenschaft schien uns sicher. Nur nicht gefangen! Noch einmal feuern wir mit rasendem Schnellfeuer in den sich heranschiebenden Feind, werfen Granaten dorthin, wo sie am frechsten werden, und dann geht's auf Befehl des Sergeanten den steilen Felshang hinunter. Wir wollen uns durchschlagen nach Tsingtau, in dem jedes Gewehr so bitter notwendig gebraucht wird. Auf Bauch, Knie oder Gesäß geht's im schnellsten Tempo über Steingeröll, durch Gestrüpp und über Klippen bergab. Vom Feinde sahen wir nichts mehr. Wohl gab's blutige Risse und zerrissene Uniformen, aber wir kamen weiter.
Als wir schon weit unten waren, setzte ein wütendes Verfolgungsfeuer ein. Doch treffen taten sie nichts, die Schlumpschützen. Nur dem Sergeanten zerschossen sie das Gewehr. Wie die Ratten rannten, krochen und kletterten wir weiter, bis wir endlich außer Schussweite waren. Hier konnten wir uns für kurze Zeit verschnaufen, und dann setzten wir unseren Marsch weiter nach Tsingtau zu unserem Infanterie-Werk fort.
Als wir gerade das Haupthindernis vor Werk I überschreiten wollten, setzte zu unserer großen Überraschung das feindliche Geschwader mit einem kräftigen Bombardement ein. Der Deibel, sollten wir nun so dicht vorm Ziel doch noch abgeschmiert werden? Das wäre doppeltes Pech gewesen. Zunächst warfen wir uns einmal platt auf den Boden und drückten das erhitzte Gesicht gegen die feuchte Erde. Als uns dann der Spaß zu lange dauerte, gingen wir in Sprüngen vor und erreichten glücklich das nicht weit vom Dorfe Tschanschan liegende Blockhaus.
Du lieber Gott, was hatten wir da oben auf unserem Adlernest alles leisten wollen! Und nun konnten wir uns glücklich schätzen, mit Mühe und Not der Gefangenschaft entgangen zu sein.6 Schlimmer noch war es unsern andern Kameraden dort oben ergangen. Ein Teil war gefallen, der Rest musste, teils verwundet, den harten Weg in die Gefangenschaft antreten.7
 

[4] Ergänzende Hinweise des Redakteurs

I. Zum Scheitern der Unternehmung

Dass das die Unternehmung »Adlernest« praktisch gescheitert war, verhehlt der Verfasser nicht. Er macht es sich jedoch leicht, was die Gründe für das rasche Ende waren: »Die verdammten Chinesen hatten uns verraten...«8

Bereits 1919 hielt jedoch Vollerthun (S. 109) in seinem Kriegstagebuch fest, dass der Beobachtungsposten im Adlernest – also in erster Linie der kommandierende Offizier – am 27.09.1914 einen entscheidenden groben Fehler gemacht hatte, indem er in das Gefecht unterhalb des Postens »in völliger Verkennung seines Zwecks [...] mit eingegriffen hat« und infolgedessen »Gegenstand besonderer feindlicher Aufmerksamkeit« wurde; da das Adlernest »völlig isoliert« war, war seine Einnahme am 28.09. nicht aufzuhalten.

Spätere Darstellungen haben diese Sichtweise bestätigt:
(a) Nach Klehmet (S. 38) bedingte der Auftrag des Vorpostens, dass die Leute »sich vor den Japanern zu verbergen hatten, was bei ihrer Stärke schon recht schwierig war. Verführt durch eine gewisse Gefechtslage und die für ihren Zweck zu große Kopfzahl griffen die Trupps aber mit Gewehrfeuer in den Kampf ein.«
(b) Nach Aßmann (S. 64) ließ es die Besatzung des Adlernestes »anscheinend an der nötigen Vorsicht fehlen, zeigte sich zu offen auf den Spitzen der Berge und griff – anstatt sich auf möglichst geräuschloses Beobachten und Melden zu beschränken – selbst durch ihr Feuer [...] in das Gefecht [...] ein. [...] Lähmend scheint auch auf die Besatzung, die sich auf dem Hochplateau für beinahe unangreifbar hielt, die sehr geschickt ausgeführte, völlig unbemerkt gebliebene Annäherung der Angreifer während der Nacht gewirkt zu haben.«
(c) Schließlich Schoen (S. 48): »Die Posten auf dem Adlernest verlieren die Nerven beim untätigen Zusehen und greifen selbst von oben ein. [...] Nunmehr steht das ›Adlernest‹ völlig isoliert da, vom Feind umgeben. Es hat sich ja selbst verraten.«

II. Besatzung des ›Adlernests‹

In einer maschinenschriftlichen Aktennotiz9 wird die Besatzung wie folgt beschrieben (insgesamt 74 Mann):

A. Beobachtungsstand

  1. Oberleutnant Grabow
  2. Fähnrich Sarnow, Obersignalgast Trautmann, Kanonier der Reserve Langjahr
  3. Der Signaltrupp: Sergeant Huse, die Seesoldaten Born, Muttelsee, Schulz, Weber II, Winterscheidt, Zenkert
  4. Die Gefreiten der Reserve Detjens und Zöllner

B. Besetzung der Posten 1 bis 5:

III. Verluste der Verteidiger

Unterm 18.10.1914 wurden vom Stabschef, Kapitän zur See Saxer, in einem Aktenvermerk10 folgende Zahlen festgehalten: "in Gefangenschaft geraten: 2 Offiziere, 2 Feldwebel, 7 Unteroffiziere, 43 Mann. [...] Es sind demnach 4 Mann gefallen.«
Ergänzende Schlußfolgerung: Von ursprünglich 74 Mann konnten 16 die eigenen Linien erreichen.
 

Anmerkungen

1.  Das Infanterie-Werk IV war von der 2. Kompanie des III. Seebataillons benannt (Kompaniechef: Hauptmann Lancelle, Kompaniefeldwebel: Feldwebel Bautz). Das genaue Datum der Entsendung ist nicht bekannt, dürfte jedoch in der 39. Woche (21.-27.09.) liegen.

2.  Die Idee zu dieser Maßnahme kam in der zweiten Septemberhälfte auf; vgl. die entsprechenden Erwägungen bei Vollerthun und bei Klehmet (S. 38), der von einer »Versuchung« (der Entsendung) schreibt, der man nicht hatte wiederstehen können.

3.  Führer der Abteilung war Oberleutnant Grabow; den Abmarsch kommandierte offenbar der zweite Offizier, Leutnant der Reserve Boesler.

4.  Siehe dazu den ergänzenden Hinweis am Ende des Berichts.

5.  Zu den Getöteten gehören jedenfalls Malitz, Scheib und Thamm.

6.  Von diesen ist namentlich nur Pauly (siehe oben) bekannt.

7.  Die 54 Gefangenen wurden Anfang Oktober ins Lager Kurume gebracht. Siehe dazu den Bericht von Ernst Kluge.

8.  Diese (Sündenbock-)Version wurde auch von Gottberg (S. 104) verbreitet: »Wahrscheinlich Chinesen hatten die Postierung den Japanern verraten«.

9.  Bundesarchiv/Militärarchiv, Bestand RM 16/28.

10.  Bundesarchiv/Militärarchiv, Bestand RM 16/03; vgl. Anmerkungen 5 bis 7.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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