Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Lager Ninoshima

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Die Atombombenkuppel und Baumkuchen ––– ENTWURF ––––

Vortrag von Kiyoyuki KOSAKA, Marugame1
 

Hinweis: Dieser Vortrag wurde bei dem 108. Japana Esperanto-Kongreso (18.-20. September 2021 in Hiroshima) auf Esperanto (!) gehalten und nachher ins Deutsche (und Japanische) übersetzt. Der Autor hat freundlicherweise die Übersetzung ins Deutsche zur Verfügung gestellt, wofür ihm herzlich gedankt sei.

Der Vortragsstil wurde nicht verändert, auch nicht die Bildinschriften in der Originalsprache. Der Text wurde geringfügig bearbeitet und formal angepasst; der Redakteur hat einige Anmerkungen hinzugesetzt.




Meine Damen und Herren!

Ich heiße Kosaka. Ich bin in der Stadt Marugame auf der Insel Shikoku geboren und aufgewachsen, wo ich immer noch lebe. Marugame ist in den letzten Jahren dank »Marugame Seimen«* ziemlich bekannt geworden. So vermute ich, dass Sie schon mindestens den Namen unserer Stadt gehört haben. (*Hinweis des Autors: Diese Ladenkette von Udon-Restaurants hat mehr als 1.000 Shops, einschließlich ca. 220 in 14 Ländern außerhalb Japans. Im Ausland heißt sie »Marugame-Udon«.)

In der Nähe unseres Hauses in Marugame gibt es einen ziemlich großen Tempel namens Honganji Shioya Betsuin, in dem vor mehr als 100 Jahren etwa 330 deutsche Soldaten zweieinhalb Jahre lebten (Foto unten links). Sie waren Kriegsgefangene des Deutsch-Japanischen Krieges, die aus Tsingtau (Qingdao) in China dorthin transportiert worden waren (Karte unten rechts).

Das Foto links ist eine Szene aus dem deutschen Dokumentarfilm »Feinde|Brüder« von Frau Brigitte Krause2, in dem auch ich etwa zehn Minuten lang auftrete. Im Foto sehen Sie ein Plakat mit dem deutschen Text: »Freundlichst, mitleidvoll empfangen!«3 Als die deutschen Soldaten zum Kriegsgefangenenlager Marugame (d.h. zum Tempel) marschierten, wurden sie von einigen Zuschauern am Straßenrand mit solchen Plakaten begrüßt. Das hat sie natürlich sehr gefreut.

In fast allen Gefangenenlagern Japans waren die Soldaten sehr aktiv in verschiedenen Tätigkeiten. Sie trieben z.B. Musik oder Sport, und auch kulturelle Aktivitäten wie das Erlernen von Fremdsprachen, Bücherlesen, Schauspiele aufführen usw.

Das Foto oben links zeigt ein kleines Orchester in Marugame, die »Marugamer Kurkapelle« genannt. Der Dirigent heißt Paul Engel. Vor dem Krieg lebte er in Shanghai und arbeitete als professioneller Geiger im dortigen Orchester. Die Person ganz links in demselben Bild heißt Siegfried Berliner. Er war Professor für Betriebswirtschaft an der Kaiserlichen Universität Tokyo (gegenwärtige Universität Tokyo). Er hatte ursprünglich Physik studiert und war in Physik promoviert worden. In diesem Zusammenhang war er einer der Bekannten von Albert Einstein. Sein Onkel Emil Berliner (oben rechts) ist vor allem als Gründer der Deutschen Grammophon-Gesellschaft bekannt. Siegfried stammte also aus einer sehr angesehenen (jüdischen) Familie.

Die deutschen Soldaten, die im Deutsch-Japanischen Krieg in Tsingtau kämpften, waren nicht nur reguläre Soldaten. Darunter waren auch Reservisten, die aus ostasiatischen Ländern (hauptsächlich aus China und Japan) einberufen waren. Etwa ein Drittel der Kriegsgefangenen waren solche Reservisten. Vergessen Sie bitte nicht die Tatsache, dass eine beträchtliche Anzahl der Kriegsgefangenen über besondere Fähigkeiten, Technik oder hohes Bildungsniveau verfügte.

Wie Sie wissen, brach im Juli 1914 in Europa der Erste Weltkrieg aus. Japan trat als Verbündeter Großbritanniens in den Krieg ein und griff den deutschen Stützpunkt in Tsingtau an, der damals von Deutschland gepachtet war. Im November desselben Jahres eroberten die Japaner das Gebiet, und etwa 4.400 deutsche und 300 österreichisch-ungarische Soldaten wurden als Kriegsgefangene nach Japan geschickt und in 12 Kriegsgefangenenlagern inhaftiert. Zu den zwölfen gehörten z.B. Kurume (in Kyushu), Tokyo, Osaka, Marugame usw.
Die Lager wurden nach verschiedenen Veränderungen schließlich zu sechs großen Lagern zusammengefasst. Die nachstehende Tabelle zeigt z.B., dass die Kriegsgefangenen aus Osaka auf die Insel Ninoshima in der Präfektur Hiroshima und diejenigen aus den drei Lagern in Shikoku nach Bando (Naruto, Präfektur Tokushima) verlegt wurden.4
 

Das berühmteste Lager ist natürlich das Lager Bando in der Stadt Naruto, in dem 1918 Beethovens 9. Sinfonie erstmals in Japan aufgeführt wurde. Der Film mit dem Titel »Baruto no Gakuen« (Ode an die Freude) thematisiert die Freundschaft zwischen den deutschen Kriegsgefangenen und den japanischen Lagerverwaltern. Einige von Ihnen müssen den Film schon gesehen haben.


Ich möchte jetzt ein bisschen ausführlich über die Lager in Osaka und auf der Insel Ninoshima sprechen, da sie für unser heutiges Thema von Bedeutung sind.

Im Lager Osaka wurden etwa 500 Soldaten interniert. Die als Internierungslager benutzte Einrichtung war ursprünglich eine Isolierstation für angesteckend Kranke. Zu dieser Zeit aber waren ansteckende Krankheiten noch nicht so sehr verbreitet in Osaka, so dass die Armee vom Bürgermeister von Osaka die Erlaubnis erhalten konnte, sie als Kriegsgefangenenlager zu benutzen. Zwei Jahre später jedoch wurde die Stadt Osaka von Pest und Cholera bedroht, und deshalb mussten alle dortigen Soldaten auf die Insel Ninoshima in Hiroshima verlegt werden.

Vom Hafen Hiroshima (Ujina) zur Insel Ninoshima braucht man etwa 20 Minuten mit dem Schiff.
Im Foto links sehen Sie viele Streifen rund um die Insel. Das sind Flöße für Austernzucht. Austern sind ja eine regionale Spezialität von Hiroshima.

Das Lager auf der Insel Ninoshima war ursprünglich eine Quarantänestation, die während des Japanisch-Chinesischen Krieges für die aus China zurückgekehrten Soldaten errichtet wurde. Im Jahre 1905, also während des Japanisch-Russischen Krieges, wurde eine zweite Quarantänestation gebaut, die später als Kriegsgefangenenlager genutzt wurde. Die dritte Quarantänestation war für Kriegspferde. Die deutschen Soldaten aus Osaka wurden in die zweite Quarantänestation verlegt und interniert.

Das Foto unten links zeigt das Lager Ninoshima. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit besonders auf den hohen undurchsichtigen Zaun. Sehen Sie zum Vergleich einen anderen Zaun im Lager Narashino (unten rechts). Solche durchsichtigen Stacheldrahtzäune waren in anderen Lagern üblich. Der Zaun auf der Insel Ninoshima war dagegen völlig anders. Warum dies? Warum war der Zaun um das Lager Ninoshima so hoch und undurchsichtig?

Dazu muss man sich die Lage der Insel anschauen: Auf dem Foto links ist die Insel Ninoshima ungefähr in der Mitte zu sehen. Darunter (im Süden) liegt die Insel Etajima, wo sich die berühmte Marineakademie befand, und rechts (östlich) von Etajima liegt die Stadt Kure, wo sich der Flottenstützpunkt befand. Das Militär wollte, dass militärische Geheimnisse vor dem Feind absolut geheim gehalten werden. Aus demselben Grund war es auch völlig verboten, außerhalb des Lagers Spaziergänge zu machen. Mit anderen Worten: Das Lager-Ninoshima war eine völlig abgeschlossene Welt. Dies steht ja im klaren Gegensatz z.B. zum Lager-Bando. In Bando durfte man außerhalb des Lagers arbeiten, einen Besuch bekommen (z.B. von der Ehefrau), außerhalb des Lagers spazierengehen, im Meer schwimmen usw., natürlich unter bestimmten Bedingungen.

Die Zeichnung links zeigt das Lager Ninoshima. Die grünen Baracken links sind die Unterkünfte für die Soldaten. Rechts davon befinden sich die Baracken (rosa, orange) für die Offiziere, für verschiedene Arbeiten (Kochen, Waschen usw.) einschließlich Werkstätten. Rechts davon sehen Sie auch die Quarantänestation (dunkelbraun).

Trotz der Einschränkungen und Unbequemlichkeiten im Lager durften die Soldaten in den Werkstätten Kuchen und Brot backen, Würste und Schinken herstellen. In der Kantine konnten sie Bier, Zigaretten und andere lebensnotwendige Dinge kaufen.
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Nun, das Thema meines heutigen Vortrags lautet: »Die Atombombenkuppel und Baumkuchen«. Ich fange zuerst an, etwas über Baumkuchen zu sprechen. Wenn der Kuchen angeschnitten wird, sieht das Innere wie die Jahresringe eines Baumes aus, daher der Name »Baumkuchen«.

Heutzutage kann man in Japan in jedem Supermarkt oder sogar in Konbini* Baumkuchen kaufen. (*Das Wort »Konbini« stammt aus dem englischen Ausdruck: Convenience Shop, wo man 24-Stunden Lebensmittel kaufen kann. In Japan gibt es ca. 60.000 solche Shops.) Wenn man jedoch nach Deutschland fährt und versucht, Baumkuchen zu finden, ist es nicht so einfach. Ich habe vor langer Zeit drei Jahre in Deutschland gelebt, aber damals nie einen Baumkuchen gesehen. Seltsam, nicht wahr? Warum war das so?

In Deutschland wird Baumkuchen hauptsächlich im Norden des Landes und zwar fast nur bei besonderen Gelegenheiten gegessen, wie zu Weihnachten oder Hochzeiten. Echter Baumkuchen, der auf traditionelle Weise gebacken wird, war in Deutschland ein sehr luxuriöses und teures Gebäck. »Der im späten 18. Jahrhundert noch vielfach von Adeligen auf Prunktafeln präsentierte Baumkuchen wandelte sich im 19. Jahrhundert zu einer Speise des gehobenen Bürgertums« – so lautet es in Wikipedia.
Im Foto unten links zu sehen, wie ein handgefertigter Baumkuchen nach traditioneller Art gebacken wird. Das Bild unten rechts zeigt die Massenproduktion in einer der Baumkuchenfabriken in Japan; solcher Baumkuchen ist sehr billig.


Der Baumkuchen oben links aus einem Konbini kostet nur 181 Yen. Natürlich ist das kein echter Baumkuchen. Der Baumkuchen oben rechts ist von der Firma Juchheim gebacken und kostet über 2.000 Yen. Das ist ein echter Baumkuchen, könnte man sagen.

Warum ist der Baumkuchen vor allem in Japan so beliebt, und warum wird er in Japan viel mehr gegessen als in Deutschland, dem Geburtsland des Kuchens? Damit Sie die Gründe dafür verstehen können, gebe ich Ihnen jetzt einen kleinen Einblick in die Geschichte des Baumkuchens in Japan.

Einer der Kriegsgefangenen auf der Insel Ninoshima hieß Karl Juchheim, der war Konditor.

Juchheim wurde auf einem Bauernhof in der Nähe der Stadt Kaub in Westdeutschland geboren, die nur 5 bis 10 km von der berühmten Loreley entfernt ist. Diese wunderschöne Mittelrhein-Region gehört heute zum Weltkulturerbe.

Doch als Juchheim zwei Jahre alt war, zog seine Familie auf die Insel Rügen in Norddeutschland. Danach machte er die Lehre bei einem Konditor in der Stadt Stralsund. Diese beiden Orte, die Insel Rügen und Stralsund, liegen in Norddeutschland, nicht sehr weit entfernt von Salzwedel, der Heimatstadt des Baumkuchens. Hier, also im Norden Deutschlands, lernte Juchheim die Technik des Baumkuchenbackens.

Im Alter von 22 Jahren ging Juchheim nach Tsingtau, um dort in einem Café als Konditor zu arbeiten. Schließlich wurde er Konditormeister und eröffnete im Alter von 27 sein eigenes Café in Tsingtau. Er heiratete Elise Ahrendorf, die er bei einem Zwischenaufenthalt in Deutschland kennen gelernt hatte. Die Hochzeit fand in Tsingtau statt, und gerade an diesem Tag der Trauung brach in Europa der Erste Weltkrieg aus.

Als die japanische Armee die militärische Basis in Tsingtau angriff, wurde Juchheim, obwohl er kein Soldat war, gefangen genommen.5 Er wurde nach Japan gebracht, zuerst nach Osaka und später auf die Insel Ninoshima. Wie ich bereits gesagt habe, war das Leben der Soldaten im Lager Ninoshima sehr eingeschränkt und stressig. Jedoch im November 1918 einigten sich die beiden Kriegsparteien auf einen Waffenstillstand. Erstens, weil der Krieg zu lange gedauert hatte, und zweitens, weil die »Spanische Grippe« genannte Pandemie die ganze Welt bedrohte.

Nach dem Waffenstillstand wurde den deutschen Kriegsgefangenen in ganz Japan viel mehr Bewegungsfreiheit gewährt als zuvor, wenn auch immer noch nicht vollständig. So wurde z.B. zwei Monate nach dem Waffenstillstand ein Fußballspiel zwischen den »Ninoshima Eleven« und einer japanischen Mannschaft durchgeführt (Foto links). Dies war das erste internationale Fußballspiel in Japan!

Und noch zwei Monate später, d.h. im März 1919, fand in der Stadt Hiroshima* eine Verkaufsausstellung der Waren statt, die von den Soldaten im Lager hergestellt wurden. Das Gebäude, in dem die Ausstellung stattfand, hieß »Ausstellungshalle der Präfektur Hiroshima«, die nach dem Atombombenabwurf »Atombombenkuppel« (Friedensdenkmal in Hiroshima) genannt ist. (Hiroshima bedeutet zweierlei: Die Stadt Hiroshima, »Hiroshima-shi«, mit ca. 1,2 Million Einwohnern ist die Hauptstadt der Präfektur Hiroshima, »Hiroshima-ken«, mit ca. 2,8 Million Einwohnern. Zur Zeit des Atombombenabwurfs hatte die Stadt ca. 350.000 Einw., davon kamen ca. 140.000 ums Leben, sofort oder bald danach.)

Die Ausstellung dauerte neun Tage. Während dieser Zeit wurde die Ausstellung von einer sehr großen Anzahl von Menschen besucht, etwa 20.000 pro Tag. Etwa 130 Soldaten stellten ihre Werke aus: Kunsthandwerke, Gemälde, Miniaturschiffe und -züge sowie Esswaren. Die beliebteste und meistverkaufte Ware war der Baumkuchen von Juchheim. Dies war der erste Baumkuchen, den die Japaner gegessen haben.

Links ist der Umschlag der Ausstellungsbroschüre abgebildet. Sie sehen auch das Bild von der Ausstellungshalle, und darunter können Sie den Bestätigungsstempel des Zensors sehen.


Oben mitte ist die Speisekarte der »Lager-Bäckerei und Konditorei« in der Broschüre abgebildet. Da können Sie ein Bild von einem Baumkuchen sehen, nicht wahr? Links davon sehen Sie die Speisekarte der »Lagerschlachterei« von Wolschke.

Juchheim und Wolschke waren gute Freunde, und beide blieben nach dem Krieg in Japan, wo sie gemeinsam in einem Café in Ginza* namens »Café Europe« arbeiteten. Dieses Café existiert übrigens heute noch in Ginza. (*Ginza ist das »Hauptgeschäfts- und Vergnügungsviertel in Tokyo mit einer Vielzahl von Restaurants, Theatern, Kaufhäusern, Luxus-Boutiquen, Ausstellungsräumen, Kunstgalerien, Nachtclubs und Hotels« – Wikipedia.)

Übrigens fanden solche Verkaufsausstellungen auch bei anderen Gefangenenlagern statt. Das große Modellschiff und das Modellflugzeug unten wurden in Marugame hergestellt, das Flaschenschiff in Narashino.

Elise Juchheim, die nach der Versetzung ihres Mannes nach Japan in Tsingtau geblieben war, zog bald nach dem Krieg zu ihm nach Tokyo. Nach dem Großen Kanto-Erdbeben 1923 zogen die Juchheims jedoch nach Kobe. In den 1930er Jahren florierte ihr Geschäft (unten links) und wurde recht groß und berühmt. – Der Name »Juchheim« taucht in den Romanen von Junichiro TANIZAKI und Tatsuo HORI auf, und auch in der Erzählung »Hotaru no Haka« (Das Grab der Leuchtkäfer) von Akiyuki NOSAKA.

Später litt Karl Juchheim aber mehrere Jahre lang an einer psychischen Erkrankung. Er hatte einen Sohn, der aber in einer Schlacht in Europa fiel (am 6. Mai 1945, d.h. einen Tag vor der Kapitulation). Im Juni 1945 wurde sein Geschäft durch einen amerikanischen Luftangriff zerstört. Gerade einen Tag vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs hauchte Juchheim tief verzagt sein Leben aus (am 14. August 1945). Es war ein dramatisches Leben, könnte man sagen. Nach dem Krieg strengte sich Elise zusammen mit den Gesellen ihres verstorbenen Mannes an, um die Firma aufrechtzuerhalten und zu erweitern, und so wurde der Baumkuchen in ganz Japan bekannt. Das Gebäude oben rechts ist der heutige Hauptsitz der Firma Juchheim in Kobe.



Nun möchte ich Ihnen hier ein Buch empfehlen, das vor etwa einem Jahr erschienen ist. Es handelt sich um ein Kinderbuch mit dem Titel »Baumkuchen und Hiroshima – die Geschichte von Juchheim, einem deutschen Kriegsgefangenen«, geschrieben von Frau Hiromi SUYAMA, ansässig in Hiroshima. Ich habe eben gesagt, es sei ein Kinderbuch, aber es ist ein lesenswertes Buch auch für Erwachsene, das möchte ich betonen.

Die wichtigste Figur in dieser Geschichte ist, neben Karl Juchheim, ein 12-jähriger Schuljunge namens Sota (Sota) in Hiroshima, der sehr gerne Baumkuchen isst. Um zu lernen, wie man Baumkuchen backt, besucht er mit seinen Freunden die Insel Ninoshima, den Geburtsort des Baumkuchens in Japan. Dort erfährt er nicht nur die Geschichte über die deutschen Soldaten und Baumkuchen, sondern auch die Geschichte der Insel Ninoshima. Er lernt, dass nach dem Atombombenabwurf viele der Überlebenden auf diese Insel gebracht wurden. Mehr als 10.000 Menschen wurden hierher gebracht, aber natürlich gab es nicht genug Platz, um so viele Menschen unterzubringen.

In dem berühmten Manga »Barfuß durch Hiroshima« wird geschildert, wie die Überlebenden mit dem Boot nach Ninoshima gebracht wurden. Das farbige Bild rechts von dem Manga, das von einem Augenzeugen am Tatort dargestellt wurde, ist sehr drastisch.

Viele der Überlebenden liegen in den Baracken, wo vor mehr als zwanzig Jahren deutsche Soldaten lebten. Die Leute schreien oder stöhnen »Wasser, bitte!«, »Mutti, Mutti!«, »Ich habe großen Schmerz!«

Es wird vermutet, dass die meisten der hierher gebrachten Menschen aus Mangel an Medizin und Pflege gestorben sind. Die Toten wurden am Strand verbrannt.

Zehn Jahre nach dem Atombombenabwurf wurden hier die sterblichen Überreste von 2.000 Menschen exhumiert und in das Atombomben-Hügel-Denkmal im Friedenspark Hiroshima (Bild links) eingesetzt.

Nun zurück zu dem Buch über Sota. Nachdem er die Geschichte der Insel Ninoshima gelernt hat, besucht er seinen geliebten Opa. Als Kind wohnte der Opa in der Nähe der »Ausstellungshalle der Präfektur Hiroshima« (gegenwärtige Atombombenkuppel), und deshalb verlor er seine gesamte Familie und seine fast alle Verwandten. Er selbst aber blieb als evakuiertes Kind unverletzt. Als Sota von den Erlebnissen seines Großvaters zum ersten Mal hörte, brachen aus ihm Fragen heraus. Er fragte ihn: »Gab es denn niemanden, der den Krieg stoppen wollte? Hat niemand gesagt, ›Machen wir endlich dem Krieg ein Ende, sonst werden wir auch die Kinder in die Greuel einbezogen?‹ So was könnte sich ja sogar ein kleines Schulkind ausdenken!«

Das, was Sota wissen wollte, war folgendes: »Warum kann der Mensch so grausam werden; warum kann er so etwas tun, was er nie tun dürfte?« Die einfachen und direkten Fragen der Kinder sind oft sehr tiefsinnig und schwierig. Ihre Fragen können ja manchmal sogar philosophisch sein. In diesem Sinne wirft dieses »Kinderbuch«, meiner Meinung nach, auch für uns Erwachsene wichtige Fragen auf.


Schließlich kann ich nicht umhin, noch etwas von Pandemien zu sprechen. Wir befinden uns ja mitten in einer Pandemie-Ära, und das hat auch etwas mit dem Thema meines heutigen Vortrags zu tun.

Die greulichste Pandemie in der Menschengeschichte war wohl die als »Schwarzer Tod« bekannte Pestepidemie im Mittelalter, der ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel. Es gibt auch die Ansicht, dass sogar die Hälfte der Bevölkerung ums Leben kam.
Bisher sind wegen »Covid-19« ca. 5 Millionen Menschen umgekommen, aber Experten schätzen, dass wegen der »Spanischen Grippe« vor 100 Jahren etwa 50 Millionen Menschen gestorben sind, d.h. ungefähr zehnmal so viele. Diese Anzahl ist umso erstaunlicher, weil die Weltbevölkerung zu jener Zeit nur ein Viertel der heutigen betrug. Wie bereits erwähnt, wird behauptet, dass die »Spanische Grippe« das Ende des Weltkriegs beschleunigt hat. Die Zahl der Todesopfer der »Spanischen Grippe« war fünfmal höher als die Zahl der Kriegstoten, was die Kampfwilligen demoralisiert haben müsste.

In Japan, und natürlich auch in den Kriegsgefangenenlagern, wurden viele Menschen infiziert. Etwa zwei Drittel der deutschen Soldaten waren infiziert. Und in Narashino z.B. starben 25 Menschen wegen der »Spanischen Grippe«.
Unter ihnen war auch der Kommandant des Lagers, Torataro SAIGO. Einige von Ihnen mögen schon seinen Namen gehört haben. Er war der Stammhalter von Takamori SAIGO.* Er studierte 13 Jahre lang an der Potsdamer Militärakademie und wurde während seines Aufenthalts dort sogar Offizier in der preußischen Armee. Kommandant SAIGO, der vom deutschen älteren Offizier im Lager als »warmherziger Gentleman« beschrieben wurde, bemühte sich, die Situation der deutschen Kriegsgefangenen zu verbessern.6 (*»SAIGO Takamori, *1828 †1877, war einer der einflussreichsten Samurai in der japanischen Geschichte. Viele Samurai revoltierten unter der Führung von Saigo in der Satsuma-Rebellion (1877) gegen die Regierung, die die Rechte der Samurai stark beschnitten hatte und ihnen unter anderem auch das Recht genommen hatte, Schwerter zu führen. Da die Meiji-Regierung nicht imstande war, die Zuneigung des Volkes zu diesem Kämpfer für die Tradition zu brechen, erkannte sie 1889 offiziell seinen Mut an und begnadigte ihn postum« – Wikipedia.) Im US-Film »Last Samurai« basiert der letzte Samurai auf SAIGO. Sein Sohn Torataro wurde nach dem Seppuku seines Vaters anfänglich wie der Sohn eines Rebellen behandelt. Aber durch die besondere Gnade des Kaisers durfte er 1884 mit 18 Jahren nach Deutschland zum Studium fahren.

Auch im Lager-Ninoshima starb ein 27-jähriger Soldat namens Schürmann an dieser Krankheit. Unten Sehen Sie auch ein Foto bei seinem Begräbnis auf der Insel Ninoshima. Seine Asche wurde ein Jahr nach seinem Tod an seine Familie in Deutschland geschickt. Er war Mitglied der Fußballmannschaft »Ninoshima Eleven«. So muss er Bekannter von Karl Juchheim gewesen sein, denn auch Juchheim war früher Mitglied der Fußballmannschaft. Es könnte auch möglich sein, dass die beiden sogar Freunde waren.

Damit ist mein Vortrag für heute beendet. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
 

Anmerkungen des Redakteurs

1.  Kiyoyuki Kosaka ist Mitglied der Kriegsgefangenen-Forschungsgruppe in Marugame und gibt seit 18 Jahren deren Newsletter heraus. Genau so lange dauert bereits die sehr ertragreiche und angenehme Zusammenarbeit mit ihm.

2.  Der Film wurde in Japan und Deutschland gedreht und 2012 uraufgeführt.

3.  Das Foto zeigt neben Herrn Kosaka – links – ein weiteres Mitglied der Forschungsgruppe, Herrn Akagaki.

4.  Das Lager Fukuoka, anfangs das größte, war bereits ab 1915 nach und nach auf andere Lager verteilt worden.

5.  Juchheim hatte keine militärische Ausbildung, war aber wehrpflichtig und trug die deutsche Uniform.

6.  Insofern besteht eine interessante Parallele zu Toyohisa MATSUE, dem Lagerkommandanten von Bando: Auch dessen Vater war in Bürgerkriegs-Wirren verwickelt gewesen (Seinan-Krieg, 1879).
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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