Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Reisevorbereitungen

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Gefangene, die nach ihrer Entlassung nicht in die Heimat zurückkehren wollten
 

I. Befragungen der Gefangenen 1919

a) Befragung durch die japanische Verwaltung

Am 05.11.2012 wurde eine Statistik unseres Korrespondenten Prof. MATSUO vorgestellt mit den Namen der Gefangenen, die nach der Entlassung in Ostasien bleiben wollten. Das japanische Kriegsministerium hatte im Herbst 1919 eine entsprechende Befragung veranlasst. Die Statistik listet 333 Personen auf.

b) Befragung durch den Hilfsausschuss Tokyo

Unabhängig davon erfasste auch der Hilfsausschuss Tokyo, die wichtigste Einrichtung der Gefangenenhilfe in Japan, die Reisewünsche der Gefangenen. Dabei wurde die Fragestellung offenbar weiter gefasst war: Wer will nach der Entlassung nicht nach Deutschland zurückkehren, sondern in Japan bleiben oder in ein anderes Land seiner Wahl ausreisen?
Die bis Ende März 19201 fortgeschriebene »Liste der ins Ausland entlassenen deutschen und österreichischen Tsingtau-Kriegsgefangenen« enthielt ursprünglich 523 Deutsche (Nr. 1 bis 524, Nr. 478 unbesetzt) und 6 Personen aus dem früheren Österreich-Ungarn. Ein anderes Exemplar der Liste enthält 22 handschriftlich hinzugesetzte Namen von Deutschen. Von den insgesamt 551 Personen kehrten zwischenzeitlich 7 nach Deutschland zurück, eine verstarb.
Zur Auswertung nach dem »Land«, in welches die Befragten zu reisen wünschten, siehe Tabelle 1.
 
Tabelle 1: Angegebenes Land nach der Statistik des Hilfsausschusses Tokyo
ZeileLand (gewünschtes Ziel)Personen
1Japanisches Kernland (= heutige Grenzen)145
2Korea (von Japan annektiert)2
3Tsingtau (japanisch besetzt)81
4Mandschurei (japanisch kontrolliert)15
5 Zwischensumme (Z. 1 bis 4): Japanischer Machtbereich243
6China (soweit außerhalb des japanischen Machtbereichs)42
7Niederländisch-Indien244
8Argentinien6
9Chile1
10Mexiko1
11Philippinen2
12Russland1
13USA1
14unklar2
15   SUMME (Z. 5 bis 14) 543

c) Zahlenvergleich

Die Befragungsergebnisse des Kriegsministeriums und des Hilfsausschusses Tokyo unterscheiden sich vor allem durch die große Zahl derjenigen, die nach Niederländisch-Indien ausreisen wollten. Auffällig ist auch die Differenz bei den Tsingtau-Reisenden; siehe im Übrigen Tabelle 2.
 
Tabelle 2: Vergleich der Befragungsergebnisse
ZeileGewünschtes Land/ZielMinisteriumHilfsausschuss
1Japanischer Machtbereich (ohne Tsingtau) 174162
2Tsingtau13281
3 Zwischensumme (Z. 1+2)306243
4China (soweit außerhalb des japanischen Machtbereichs)042
5Niederländisch-Indien0244
6Andere außerdeutsche Länder012
7Unbestimmt (jedenfalls nicht mit dem Gros heimkehren)272
8   SUMME (Z. 3 bis 7) 333543

 

II. Nachträgliche Veränderungen

Das Ergebnis der Befragungen durch die Verwaltung und den Hilfsausschuss enthält »nur« Absichtserklärungen (Optionen) der Gefangenen. Bis zur tatsächlichen Entlassung und Abreise verging noch einige Zeit, in der Gelegenheit bestand, die Reisepläne zu überprüfen und zu ändern.

Spürbaren Einfluss hatte insbesondere das Angebot, nach Niederländisch-Indien zu gehen und dort im Staatsdienst oder in privaten Unternehmen Beschäftigung zu finden.2 Wie erfolgreich diese Werbeaktionen waren, geht aus einer Liste hervor, die 1922 von der Zeitung »Deutsche Wacht« in Batavia veröffentlicht wurde. Danach haben sich im Frühjahr 1920 sogar 345 ehemalige »Tsingtau-Kämpfer« nach Niederländisch-Indien begeben hatten, also 101 mehr, als die Liste des Hilfsausschusses (Tabelle 2, Zeile 5) enthält.3

Zu berücksichtigen ist ferner, dass eine größere Zahl von Gefangenen entweder nicht befragt worden war oder zum Zeitpunkt der Befragung keine Option nennen wollte/konnte. Bei einigen von diesen konnte anhand andere Quellen ermittelt werden, wohin sie sich nach der Entlassung wandten.
 

III. Nachweisbarer Verbleib der Gefangenen 1920 und später

Wo die ehemaligen Gefangenen nach ihrer Entlassung tatsächlich ihren ständigen Aufenthalt genommen haben, ist nur teilweise bekannt. Ein Hauptproblem dabei ist, dass die »Passagierlisten« der sechs Heimkehrerschiffe, die von Dezember 1919 bis März 1920 nach Deutschland führen, verloren gegangen sind; nur die ungefähren Zahlen sind bekannt.

In der Literatur werden verschiedentlich scheinbar genaue Zahlen genannt. So heisst es bei Burdick/Moessner (S. 99): »119 [Gefangene] gingen zurück nach Tsingtau und 171 blieben in Japan.« Aus einer Reihe von Gründen sind solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen:

Um festzustellen, welche Personen tatsächlich nach der Entlassung ihren Wohnsitz in Japan, in Tsingtau, im (unbesetzten) China oder sonstwo nahmen, muss auf einschlägige Adressbücher zurückgegriffen werden, für Ost-/Südasien insbesondere – neben dem »Deutsche Wacht«-Artikel – auf

Freilich kann man bei den Adressbüchern nicht davon ausgehen, dass darin alle in Ost- bzw. Südostasien lebenden Deutschen erfasst sind oder wenigstens ein hinreichend großer Prozentsatz. Bei den Übersichten für die einzelnen Entlassungslager (Aonogahara, Bando, Kurume, Nagoya, Narashino, Ninoshima) ist mithin eine große »Dunkelziffer« anzunehmen.
 

Anmerkungen

1. Aus der Spalte »Bemerkung« in der Liste des Hilfsausschusses ergibt sich, dass mehrere Personen mit dem Dampfer Nankai Maru in die Heimat zurückgekehrt sind.

2. Wann genau diese Angebote in den Lagern bekanntgemacht wurden und welche Organisationen/Personen hierbei tätig waren, ist noch kaum erforscht.

3. Von den 345 Personen kamen 2 aus chinesischem Gewahrsam, und 13 weitere können derzeit keinem Herkunftslager eindeutig zugeordnet werden.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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