Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

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Das zweite Jahr in Fukuoka

von Jakob Neumaier
 

Unter den Augenzeugen des Krieges und der Gefangenschaft ist Jakob Neumaier einer der wichtigsten. Seine Tagebucheintragungen decken den gesamten Zeitraum von den letzten Junitagen 1914 bis zur Rückkehr in die Heimat Anfang März 1920 ab. Er schildert seine Erlebnisse bewusst aus der Perspektive des einfachen Soldaten, ohne »Feldherrnattitüde«, mit guter Beobachtungsgabe und mit viel Liebe zum Detail, vor allem was Japan und seine Menschen betrifft.

Der fünfte Teil aus Neumaiers Bericht schildert die Zeit im Lager Fukuoka von Sylvester 1915 bis zur Verlegung ins Lager Oita (Oktober 1916).

Die hier benutzte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von dem leider verstorbenen Bochumer Sammler Walter Jäckisch zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in Fußnoten.

Übersicht:

  1. Der Jahreswechsel und die Elsässer
  2. Diszplinprobleme
  3. Frühling und Sommer 1916
  4. Abreise nach Oita

 

1. Der Jahreswechsel und die Elsässer

Fukuoka, 2.1.1916. — Am 28. Dezember abends nach dem Essen ging ich auf unserer langen, schmalen Veranda, wie so oft schon, auf und ab und träumte auf das unter mir bis an die Grundmauer des Hauses heranreichende Wasser der Flussmündung und auf die dunkle Meeresbucht hinaus. Das Wasser flimmerte von dem Scheine einiger elektrischer Lampen, die auf der Veranda die ganze Nacht brannten, damit die Posten sehen konnten, ob kein Gefangener ins Wasser sprang und über den Fluss zu schwimmen versuchte. Drinnen im Speisesaal, dessen weiße Papierwände geschlossen waren, sodass nur ein gelblicher Schein auf die Veranda fiel, sangen Kameraden schwermütig Heimatslieder. Einige spielten auch Skat. Man hörte, wie Hände auf den Tisch schlugen, Flüche, Gelächter, Kraftausdrücke. Als ich nach einiger Zeit die Papierwand zur Seite schob und eintrat, kam von der anderen Seite Matrose Markus1 von der 4. Korporalschaft in den Saal, warf missmutig die Mütze in die Ecke und sagte aufgeregt: »So eine Verräterbande! Wisst Ihr's schon? Die ›Franzosen‹ gehen heute nacht weg, wenn sie nicht schon fort sind. Dass auch gerade heute viele von Haus 5 im Offizierslager sein müssen! Unser Straßburger ist auch schon verschwunden, wie niemand in der Bude war. Da hat er seine Brocken ungehindert gepackt und ist zu seinen Komplizen nach Haus 5.«

Wir waren einen Moment sprachlos, dann wurden Stimmen laut: »Stürmt die Bude in Haus 5, jeder nimmt einen ordentlichen Knüppel mit und drauf!« »Ach lasst die Finger davon. Die Kerle haben Schutz von den Japanern.« »Eine Tracht Prügel müssen sie haben.« »Unsere Offiziere sind auch der Ansicht, dass sich keiner von uns die Finger an den Verrätern schmutzig machen soll.« »So? Und die denken dann, wir haben Angst vor ihnen.« »Soll ich mich von so einem Halunken nun totstechen lassen, wenn ich schon bis hierher glücklich durchgekommen bin?« »Feigheit! Lasst sie doch Messer haben. Eine Tracht Prügel müssen sie bekommen, sonst sind wir blöde Hunde.« So schwirrten die Stimmen durcheinander. Es schien doch ernst zu sein mit der Sache der Elsässer. Ich sagte gar nichts, suchte mir im Hofe ein armdickes, etwa ein Meter langes Stück Bambusrohr, das ich schon früher mir für den Fall einer Auseinandersetzung gemerkt hatte, und wartete in der Ecke des Saales auf das Ergebnis der Debatte und auf den Anführer. Mich hervorzutun, dazu war mir die Sache immer noch zu zweifelhaft.

Die Leute wurden sich nicht ganz einig. Ich ging schließlich mit den Angriffslustigen nach der Nordfront des Hauses, wo eine schlecht beleuchtete Gasse zwischen Haus und Bretterzaun zum Lagertor führte, vor dem ein japanischer Posten stand. Wir sagten uns, durch diese hohle Gasse mussten sie kommen, wenn sie nicht über den Fluss an der Südfront ausreißen wollten, was nicht wahrscheinlich war. In ihrer Bude in Haus 5 waren sie nicht mehr, hatte uns schon ein anderer Kamerad gemeldet. Wir warteten eine Stunde, noch eine Viertelstunde, nichts rührte sich. Einige von uns lauerten an der Südfront, auf der Veranda. Von dort her hörten wir plötzlich Geschrei und stürzten alle nach der Wasserseite. Dort hingen vier, fünf unserer Kämpfer über das niedere Holzgeländer. lch sah angestrengt auf den schmalen Sandstreifen, der infolge der Ebbe nahe am Hause freilag, bemerkte aber nichts Verdächtiges. Unser Stubenältester, der dicke Bartsch, sagte: »Unter der Veranda müssen ein paar von den Schuften sein.« In dem Halbdunkel unten waren Felsblöcke, Pfähle, alte Kisten, wie wir wussten, aber nichts war deutlich zu erkennen. In langer Reihe, angestrengt lauschend und spähend, hingen wir über das Geländer, mit Kohleneimern, Feuerhaken, Knüppeln und Steinen bewaffnet, ein äußerst komisches Bild. Einige von uns schienen schon Gespenster zu sehen. »Da ist einer, zwei, drei.« »Da drückt sich einer an die Wand, werft los!« Einige Steine und Kohlenstücke flogen hinunter, aber zu sehen war nichts.

Da kam Markus aus dem Speisesaal gestürzt: »Was wollt Ihr noch da? Die Lumpen sind schon längst fort. Um sechs Uhr sind sie schon über die Brücke, in Begleitung von japanischen Posten. Leute von Haus zwei haben es gesehen. Alle acht sind sie fort.« Nun ging ein Rummel los. Einige suchten in allen Häusern herum. Niemand wusste, wo die acht Elsässer steckten. Sie waren einfach verschwunden. In Haus 2 behaupteten einige, gesehen zu haben, was uns Markus bereits erzählt hatte. Alles stand im Hofe und in den Gängen in Gruppen beisammen. Man fluchte, beriet und schimpfte, bis uns japanische Posten auseinandertrieben. Schließlich kam noch ein Elsässer von unserer Korporalschaft in den Verdacht, den Ausreißern bei der Flucht behilflich gewesen zu sein. An allen Gliedern zitternd wehrte er sich gegen die lautwerdenden Verdächtigungen und Drohungen. Er wurde aber bald in Ruhe gelassen. In ein paar Tagen, als wir Gewissheit hatten, dass die Kerle es fertiggebracht hatten, unbemerkt zu entkommen, war die fatale Sache scheinbar schon vergessen. Niemand regte sich noch darüber auf. Mir schien sogar, als würden die Flüchtlinge von den meisten von uns beneidet.

Am Sylvesterabend war befohlen, wir müssten, wie an allen anderen Tagen, um 9 Uhr zu Bett gehen. Ich ging bald nach dem Abendessen auf meinen Lieblingsplatz, die Veranda, wo man stundenlang ungestört promenieren konnte. Einige Kameraden waren schon schlafen gegangen, andere feierten mehr oder weniger laut in ihren Buden. Es konnte ja jeder tun, was er wollte, da wir uns keine Illusionen machten. Wir wussten, dass an dem Abend der japanische Arzt Offizier vom Dienst war und dass der Doktor es nicht so genau mit der Befolgung der Befehle nahm. Ob man um neun Uhr sohlafen ging oder um zehn Uhr, er würde gewiss ein Auge zudrücken, sagte man sich. Schon beim Abendessen hatte er unsere Stuben revidiert, wo es bereits laut herging, hatte in seiner leutseligen Weise zu verstehen gegeben: »Nicht Krach machen! Wenn ruhig verhalten, können Sie feiern bis zwölf Uhr, wenn Krach machen, müssen Sie schlafen gehen um neun Uhr.« Natürlich wurde ihm alles versprochen, was er wünschte und ihm auch manches Glas Bier angeboten. Er lehnte aber dankend ab, was sonst bei ihm selten vorkam. Er sagte auch, dass die Sache heute abend »nicht gut« sei und die Schutzleute auf ihn nicht gut zu sprechen seien, »weil er mit Deutschen immer gut meinen«. Freundlich und doch etwas sorgenvoll nach allen Seiten lächelnd hatte er nach Besichtigung der Stuben das Haus verlassen, von allen umringt und gefeiert.

Er ist ein altgedienter Stabsarzt, geht schon etwas gebeugt, mit väterlich-freundlicher Miene, ewig lächelndem Munde, ewig nickendem Kopfe und ewig auf dem Rücken verschränkten Armen. Sein Gesicht ist graugelb, von tiefschwarzem Backenbart umrahmt; seine weißen, gesunden Zahnreihen, von einem schwarzen Schnurrbart beschattet, lassen ihn, zumal er immer ein scherzendes Lächeln auf den Lippen hat, jünger erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Wir alle können den Doktor gut leiden, wenn wir auch von seiner ärztlichen Fähigkeit nicht viel halten. Im Weggehen hatte er uns noch aus Gefälligkeit und »im Vertrauen« gesagt, dass um halb ein Uhr nachts vom Garnisonkommando Musterung der Gefangenen auf Vollzähligkeit befohlen war, das heisst »Antreten am Hofe«. Es war in letzter Zeit öfters vorgekommen, dass um Mitternacht plötzlich das Signal zum Antreten geblasen wurde. Nur wenn der Arzt Dienst hatte, waren wir davon immer vorher unterrichtet.

Während ich also auf der Veranda spazierenging, dachte ich darüber nach, wie verschieden die einzelnen Offiziere sich zu den Gefangenen stellten, wie sie sich wohl in der Behandlung und Einschätzung der Deutschen auch nicht ganz einig waren, dass man eigentlich nie recht wusste, ob hinter der seltsamen Höflichkeit nicht irgend eine grausame Rasseneigenart lauerte, die man oft, wenn auch undeutlich, zu fühlen glaubte, oder ob die Japaner uns im Allgemeinen wirklich so wohlgesinnt waren, wie sie oft vorgaben. Ein gewisses gegenseitiges Misstrauen blieb immer bestehen. Ob wir daran schuld waren, sei dahingestellt. Im Allgemeinen gaben wir uns nicht viel Mühe, uns in japanische Art einzufühlen. Missmutig über die lange und unabsehbare Dauer der Gefangenschaft, waren wir gegen japanische Anordnungen oft geradezu trotzig, zum mindesten gleichgültig, ohne uns um etwaige Folgen zu kümmern. Wären wir immer brav gewesen, ich glaube, die Langeweile hätte manchen umgebracht. So aber, wenn unser Missmut sich irgendwie austoben konnte, gab es Abwechslung im Lager, noch wenig genug zwar und meist unangenehme, aber man blieb in Spannung, man hatte für kurze Zeit wenigstens wieder ein Ziel, wenn auch nur das, sich aus einer unangenehmen Lage wieder herauszuwinden.

Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und freute mich, einige Stunden allein sein zu können. In den Stuben feierten die Kameraden mit Gesang, Bier und Musik den Sylvesterabend. Als um neun Uhr der Hornist draußen vor dem Tore Zapfenstreich blies, wurde es einige Augenblicke stiller im Hause, doch die Feiernden dachten nicht daran, schon schlafen zu gehen. Hatte doch der Arzt Dienst, von dem man mit Bestimmtheit wusste, dass er ein Auge zudrücken würde. Da die Nacht mild und sternhell war und um halb ein Uhr doch Antreten sein würde, wollte ich auch meine Abendpromenade bis ins Neue Jahr fortsetzen. Es ließ sich auch so schön dabei von der fernen Heimat träumen. Nur hie und da wurde ich von einem Kameraden, der mich zum Feiern einladen wollte, etwas gestört.

Mit dem Schlage zwölf Uhr kamen dann mehrere aus ihren Buden, und es ging los! »Prost Neujahr!« »Auf baldige Heimreise!« »Prost Neujahr!« Auch in den Buden fingen sie wieder an, lebhafter zu werden. Das Wecklied der Marine ertönte unter Mandolinenklängen: »Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht.« Wie war es vor zwei Jahren bei der Sylvesterfeier in der Iltiskaserne in Tsingtau schön gewesen! Ich dachte, ob die Japaner für unsere Neujahrsbegrüßung Verständnis haben würden. Da kam mein Freund Brusinsky und rief mir durch die Papierwand zu: »Menschenskind, verzieh dich in die Bude! Dicke Luft! Die Wache läuft schon in den Häusern herum und nimmt jeden mit, der nicht in der Bude ist.« Es lockte mich durchaus nicht, zu Neujahr eingesperrt zu werden, drum ging ich in meine Bude, wo es bereits dunkel war und wohl die meisten schon schliefen. Ich hakte die Schiebetür innen zu, schob eine außen mit Holzgitter verdeckte Papierwand etwas auf und sah, wie draußen vor unserem Hause und vor Haus 5 die Posten mit aufgepflanzten Seitengewehren herumstürmten. Die Dunkelheit in der Stube schützte mich vor dem Entdecktwerden.

Vom Haus 5 her hörte ich zornige, wilde Schreie und Befehle der Posten, die bald darauf einige angeheiterte Leute von uns vorbeiführten. Es ging in Richtung zur Wache, die im Haus 2 untergebracht ist. Unsere Zechbrüder mochten sich wohl gegen die Festnahme gewehrt haben, denn die Posten waren wie wild, teilten Kolbenstöße und Ohrfeigen aus, so wie unsere Leute zu erklären suchten, dass der Arzt die Feier erlaubt hatte. Einige Kameraden aus Haus 4 und 5, darunter auch der alte, rotbärtige Obermaat Funke, gingen ahnungslos nach dem im Hofe liegenden Klosett und wurden von den nun einmal gereizten Posten verhaftet, auf die Wache geschleppt und erhielten auf ihr Protestieren hin ebenfalls Schläge und Püffe. Funkes weinerliche Stimme, mit der er sich zu verteidigen suchte, von Beschwerde beim Kriegsgericht sprach, kam mir etwas lächerlich und kindisch vor. Ich musste denken, dass wir nicht Sommerfrischler waren, dass ich mich entweder nicht kitschen lassen würde oder mich lieber schlagen ließe, als das ich auch nur den geringsten Jammerlaut von mir gäbe.

Der Arzt war nach dem Offizierslager gegangen und konnte erst nach ungefähr einer Stunde zurück sein. Das wusste die Wache, die, wie erzählt wurde, von Oberleutnant Muriyama, dem »Deutschenfresser«, Extravorschriften für den Sylvesterabend erhalten hatte. In unserem Hause, im ersten Stock, hörten ein halbes Dutzend Leute nicht auf zu singen, trotz des Tumultes vor dem Hause und trotz verschiedener Warnungen, die von uns hinaufgerufen worden waren. Erst als drei Japaner von der Wache die Treppe hochstürmten, verstummte oben das »Holderie, bald geht's zur Heimat, holderie, wer dieses Schwein hat...« Dann hörte ich das Gekreisch der Posten: »Kurre, kurre... ginko...«, so ähnlich, als wären Wölfe zwischen die Zechbrüder gefahren. Diese hatten zwar, wie ich bemerkte, das Licht ausgeschaltet und verhielten sich mäuschenstill, aber die Posten mussten doch auf ein paar Widerspenstige gestoßen sein, denn ein Japaner rief aufgeregt nach »ehe« (Wache), worauf sofort sechs, acht Posten mit Gewehren, wie eine wildgewordene Hammelherde, die Straße entlang getrippelt kamen und die Treppe hochstürmten. Bald darauf wurden denn auch zwei der Zecher, Noppeney und Mertens, unter Püffen und Stössen zur Wache transportiert. Dann war im Hause Ruhe.

Ich glaubte, dass meine Stubengenossen schon alle in ihren Decken lägen und wollte mich, ohne noch Licht anzumachen, auch eben hinlegen, als heftig an der Türe gerüttelt wurde. Natürlich dachte ich, es wären die Japaner, und machte nicht auf. Erst als der Mann draußen mit gedämpfter Stimme rief: »Mach schnell auf, sie sind mir auf dem Hals«, öffnete ich, und unser dicker Bartsch, der Stubenältester ist, stürzte herein, hakte hinter sich die Türe zu und lachte aufatmend: »Habe ich aber Schwein gehabt!« Vorsorglich verloren wir weiter keine Worte und legten uns in unsere Decken. Von jenseits der am Hause vorbeiführenden Strasse, von Haus 2 her, wo die Wache liegt, hörten wir das erregte Flüstern der Arretierten, das Bellen der wütenden Posten und dazwischen Stimmen unserer im japanischen Büro beschäftigten Ordonnanzen, die beruhigend auf die Posten und die Kameraden einzuwirken versuchten. Endlich kam der Arzt, der, wie wir hörten, sofort mit einer Menge Beschwerden von den Arretierten empfangen wurde. Was er von den erregten Gefangenen, die fast alle betrunken waren, zu hören bekam, waren gerade keine Schmeicheleien für ihn. Im Geiste sah ich, wie er zu all den Klagen nickte und lächelte. Aber er glaubte wohl kaum, dass die Posten alle Schuld hätten, entließ zwar einige Gefangene in ihre Buden, ließ aber die Betrunkenen in den Arrest sperren.

Um halb ein Uhr, beim Antreten, erlaubten sich die Gefangenen, vermutlich als Protest gegen die »Übergriffe« der Posten, einen geradezu kindischen Lärm anzuschlagen. Der Arzt konnte sich nicht mehr anders helfen, als vor den anscheinend blödsinnig gewordenen Gefangenen Posten mit aufgepflanzten Seitengewehren aufzustellen. Dabei ereignete sich an unserem linken Flügel eine komische Szene. Am rechten Flügel und in der Mitte hatte anfangs alles gegröhlt: »Höööö ....« Die Posten hatten Ruhe geschaffen, Da brüllte am linken Flügel in die Stille noch eine einsame Stimme: »Hööö...« Es war unser Michl, der wohl den größten Sylvesterrausch hatte. Ein Posten suchte zornig nach dem Schreier, der im zweiten Glied stand, konnte ihn aber nicht finden und wollte schon fortgehen, als der dämliche Michl in seiner Bierbegeisterung noch einmal anhub: »Hööö... tsauninia.« Und schon hatte ihn der flinke Posten beim Schlawittchen, gab ihm eine Ohrfeige und Michl war mäuschenstill. Das chinesische Wort tsauninia ist ein grobes Schimpfwort, wird fast in ganz Schantung und auch von den Japanern verstanden und heißt etwa: Schlaf bei deiner Grossmutter! Man konnte folglich dem Posten seine Wut nicht übelnehmen. Michl hatte aber noch nicht genug. Als der Arzt herankam, trat Michl vor und meldete, wankend und mit lallender Stimme: »Herr Doktor, der Posten hat mich geschlagen.« Doch der Arzt stiess ihn zornig vor die Brust und sagte nur: »Weg!« Es wurde abgezählt, dann durften wir wegtreten. Ruhig gingen alle in ihre Stuben. Man sagte sich, dass die japanische Wache eigentlich nicht anders handeln konnte, als wie es geschehen war. Überdies sagte der Arzt noch, er wolle dem Oberst nichts von den Vorkommnissen melden.
 

2. Disziplinprobleme

Am Neujahrstage gab es eine neue Sensation. Ein Gefangener von Haus 5 hatte mit einem Hibachideckel über den Bretterzaun hinweg das gegenüberliegende, offene japanische Wachlokal »bombardiert«, wobei ein paar Japaner, die sich gerade in der Flugbahn des etwa drei Pfund schweren Holzdeckels befanden, leicht verletzt wurden. Natürlich wurde die Sache vom Wachhabenden sofort dem Lagerkommandanten gemeldet. Eine sofort eingeleitete Untersuchung blieb erfolglos. Über den hohen Bretterzaun, über den der Deckel geflogen war, hatte kein Japaner den Täter sehen können. Der Attentäter konnte sich ziemlich sicher fühlen, wir von Haus 6 wussten wohl, wer der Täter war und fanden die Tat als sehr dumm, aber doch nicht so schlimm, dass wir den nun verraten hätten.

Am 3. Januar war, wie gewöhnlich, um acht Uhr morgens Musterung. Um neun Uhr aber ertönte schon wieder das Hornsignal zum Antreten. Wir ahnten Unheil, Als wir am Platze standen, kommandierte der diensthabende Leutnant Suzuki, der allgemein als »sehr gut« galt, »Stillgestanden!" und machte bekannt: »Sie müssen solange still stehen, bis derjenige gemeldet wird oder sich selbst meldet, der den Hibachideckel auf die japanische Wache geworfen hat. Wer ist es gewesen?« Es meldete sich keiner. Wir standen still wie eine Mauer. Ein japanischer Unteroffizier und vier Mann mit Gewehren gingen vor den Reihen auf und ab und kontrollierten, ob keiner vor uns sich rührte. Suziki ging unruhig vor uns spazieren. Er war offensichtlich höchst unwillig. Man sah ihm an, dass er auch hart und unnahbar sein konnte. Er ist ein schneidiger Kerl, etwas klein, hat ein flott aufgedrehtes Schnurrbärtchen, eine Brille, schielt zwar ein wenig, hat aber etwas von Vornehmheit an sich. Nach etwa zehn Minuten kam der kleine, bartlose Oberleutnant Muriyama, der schlitzäugige »Deutschenfresser«, von uns nur Oberleutnant Grausam genannt, auf den Hof. Man sagte ihm nach, vielleicht zu Unrecht, dass er uns hasse. Er achtete eigentlich nur streng darauf, dass die japanischen Verordnungen von den Gefangenen beachtet wurden, und das war schließlich sein Recht. Seine kleine, unscheinbare Figur, das dunkelbraune Gesicht, das etwas Bauernmäßiges an sich hatte, und die trockene Art, mit der er seine Befehle gab, alles an ihm schien darauf hinzudeuten, das er nicht gefährlich beziehungsweise nicht besonders intelligent war. Man konnte ihm nichts Unrechtes nachsagen, hielt ihn aber auch nicht für vollwertig und hasste ihn darum, eigentlich eine Gemeinheit von uns.

Muriyama ging also mit Amtsmiene und hochgezogenen Schultern an unseren Reihen entlang, blieb plötzlich stehen, und rief mit krächzender Stimme: »Hand hoch, wer es gewesen ist!« Natürlich rührte sich nichts in unseren Reihen. Es war gut, dass die Sonne so schön warm auf den Platz schien. Da konnte man das Stillstehen schon noch eine Weile aushalten. Ab und zu griffen die Posten doch einen Gefangenen heraus, der gelacht oder sich bewegt hatte. Leutnant Suzuki selbst zog so einen Sünder aus der Reihe und ließ ihn in den Arrest abführen, ohne ein Wort zu verlieren und ohne mit den Wimpern zu zucken. Nach etwa einer halben Stunde fielen ein paar Mann um, ob aus Schwäche oder mit Absicht, sei dahingestellt. Dann liess Muriyama sich wieder hören: »Sehen Sie, wegen eines Mannes müssen Sie alle leiden! Ich lasse Sie sofort wegtreten, wenn der Schuldige gemeldet wird.« Es meldete sich aber niemand. Nach etwa zwei Stunden, gegen elf Uhr, kam der Lagerchef, Oberstleutnant Kamato. Die beiden Feldwebel von uns, die nicht stillzustehen brauchten, und die Hausmeister wurden zum Lagerchef gerufen, der ihnen durch den Dolmetscher sagen ließ, sie sollten uns noch einmal ins Gewissen reden, dass wir den Schuldigen meldeten. Sie redeten uns auch zu, aber es war zum Scheine, wie wir merkten. Wir schwiegen hartnäckig. An ein Mittagessen war nicht zu denken, denn auch die Köche standen seit neun Uhr mit uns still. Mein linker Nebenmann, ein Reservist, flüsterte mir zu: »Pass auf, ich falle gleich um, fang mich auf!« »Maski« (schon gut), flüsterte ich zurück und hatte Mühe, das Lachen zu verbeissen. Es konnte uns nur lieb sein, wenn möglichst viele Leute umfielen und gut mimten. Mein Nebenmann schien es sich noch zu überlegen.

Die Unteroffiziere wurden nochmal zur Besprechung zum Oberstleutnant gerufen, und man hoffte, dass darauf die Erlösung folgen würde. »Wollen warten, bis sie zurück sind«, flüsterte mein Nebenmann. Sie kamen zurück, aber es folgte kein »Rührt euch!« Dafür hielt uns Feldwebel Rosner nun eine heftige Rede, in der er den Schuldigen aufforderte, sich zu melden, nicht seine Kameraden leiden zu lassen. »Wer es getan hat, soll auch die Courage haben, sich zu melden!« sagte er. Es nützte nichts. Man blieb krampfhaft stehen. Die Kniekehlen schmerzten und die Schultern wurden schwer und wackelig. Die Sonne schien immer wärmer, Mittag musste schon vorüber sein. Mein Nebenmann sank plötzlich mit geschlossenen Augen zurück. Ich hielt ihn am Arme, mein Hintermann am Genick, dann trugen wir ihn ins Revier nah Haus zwei, wo der japanische Sanitätssoldat, verschmitzt lächelnd, bereits mit einem Dutzend »Ohnmächtiger« beschäftigt war. Als ich wieder in Reih und Glied stand, fielen am rechten Flügel wieder ein paar Mann um. Die japanischen Offiziere gingen nicht weg, was uns in der Hoffnung ließ, sie würden die Komödie bald abbrechen lassen. Stundenlange mit leerem Magen stillzustehen, war gerade nicht angenehm. Vor mir war eine Wasserpfütze, deren Spiegel mir die Sonnenstrahlen grausam ins Gesicht warf. Das wurde mir fast unerträglich. Wenn mich aber auch alle Glieder schmerzten, so freute ich mich doch, als die Aufsichtsoffiziere immer wieder zusammentraten und sich offensichtlich etwas verlegen berieten, wie sie dieser Dickköpfigkeit der Deutschen gegenübertreten sollten. Nach unendlich scheinenden Beratungen unternahm Muriyama einen letzten Versuch, mit dem überraschend sein sollenden Rufe: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« Das klang wunderlich, aber wir hörten weiter nichts und sagten nichts. Der Versuch war erfolglos, wie alle vorhergegangenen Versuche gewesen waren.

Etwa eine Viertelstunde darauf ließ der Oberstleutnant vier früher schon bestrafte Leute rufen und ließ uns wegtreten. Die Erleichterung muss man gefühlt haben, um sie verstehen zu können. Um halb drei Uhr waren wir wieder auf den Buden und gewissermassen frei. Das Mittagessen fiel ganz aus. Dafür schmeckte uns abends die Reissuppe noch besser als sonst. Die vier verdächtigen Leute hatte man wieder freigelassen, da auch aus ihnen nichts herauszubringen war. Wir fühlten in allen Gliedern noch die fünf Stunden »Stillgestanden«, da wurde, am gleichen Tage abends, ein neues »Verbrechen« der Gefangenen bekannt.2 Unserem Kumamoto, der als Zahlmeister die Materialverwaltung für das Lager inne hatte, waren etwa hundert Paar Schuhe aus einer Kiste in der Nähe der Wache geklaut worden. Es waren zwar deutsche Militärschuhe, die die Japaner aus Tsingtau mitgenommen hatten und von denen die Gefangenen Ersatz für ihr schlecht gewordenes Schuhwerk bekommen sollten, aber immerhin nun japanische Kriegsbeute. Kumamoto ging sehr sparsam damit um, gab für uns nur Schuhe dann aus, wenn man ein dutzend Mal nachgesucht hatte und fast schon auf bloßen Füßen lief. Sehr oft hatte Kumamoto auch »keine Zeit«, selbst dringende Gesuche um Schuhaustausch zu berücksichtigen. Da hatten sich eben einige Gefangene selbst mit Schuhen versorgt, hatten die grosse Kiste aufgespürt und, nach Wegreißen einiger Bretter, Schuhe shanghait, wie es in der Marinesprache bei uns schon in Friedenszeit hieß.

Kumamoto war außer sich, hieß es. Natürlich wurde uns durch Tagesbefehl sofort vorgehalten, wie diese Handlung sich mit der deutschen Ehre vereinbaren lasse. Zwei Gefangene kamen auch bald in Untersuchung und gaben zu, einige Schuhe entwendet zu haben. Die Unglücksmenschen können sich wohl auf einige Wochen Gefängnis gefasst machen. Da immer noch etwa hundert Paar Schuhe fehlten und alle weiteren Nachforschungen erfolglos blieben, kam uns Kumamoto höflich entgegen, ließ uns sagen, er wolle die Sache nicht weiter verfolgen, aber wir sollten soviele Schuhe ihm bringen, dass er die Stückzahl wie auf der Liste wieder habe. Es brauchten nicht gerade die entwendeten Schuhe zu sein, und wir könnten unsere alten, aufgebrauchten Schuhe, seinetwegen heimlich bei Nacht, über den Zaun werfen, damit keiner in Verdacht käme. Schon am nächsten Tage hatte Kumamoto mehr Schuhe erhalten, als er brauchte, was er uns höchst erfreut bekannt geben ließ. Nun ist wieder Ruhe im Lager. Ich glaube aber, dass die Japaner diese Kleinigkeiten nicht so rasch vergessen und sich noch rächen werden, solange wir noch hier sind, Es sind Kleinigkeiten, aber für uns waren es unerhörte Sensationen. So langweilig ist es hier im Lager.

Fukuoka, 7.1.1916 — Heute nachmittags ging der Oberstleutnant durch die Stuben und erwischte in Haus 3 zwei Mann, die einen Hibachi (japanischen Holzkohlenofen) geheizt hatten. Es ist verboten, Öfen in die Stuben zu stellen und sie zu heizen. Wir hielten die kleinen Öfen auch immer gut versteckt. Welches Verbot ist hier nicht schon übertreten worden! Die zwei Mann bekamen je dreißig Tage Arrest. Als wir das hörten, wurde es uns doch ungemütlich, und man sah heute abend aus den Buden viele Hibachis über die Veranda ins Wasser fliegen. Es ist uns ja bekannt, dass die japanischen Arrestlokale noch unbeqemer sind als die deutschen.

Fukuoka, 10.1.1916 — Die Japaner lassen uns anscheinend fühlen, dass sie verstimmt sind. Heute sollte das Liebesgabengeld, 1,30 Yen, ausbezahlt werden, auf das jeder schon mit Schmerzen wartete. Die Hausmeister kamen aber mittags vom Rapport mit leeren Händen zurück. Es gab auch keine Post. Wir könnten sie auch nicht beantworten, da wir vorläufig, weiss der Teufel, wie lange, auch kein Briefpapier bekommen.

Fukuoka, 11.1.1916 — Es ist andauernd schönes, klares Wetter und so warm, wie man es in Deutschland um diese Zeit nicht gewöhnt ist. Heute mittags war unser Kompagnieführer, Kapitänleutnant von Saldern, in Begleitung des Kapitänleutnants Wittmann bei uns im Lager. Beide hatten von den Japanern die Einladung und wohl auch die Aufforderung erhalten, über die unangenehmen Vorkommnisse der letzten Wochen mit uns zu sprechen. Es war nach eineinhalb Jahren das erste Mal, dass unser Alter wieder zu uns sprach. Was er sagte, war klar und derb ausgedrückt:

»Kameraden! Wir müssen gehorchen, wie in Tsingtau. Es ist dasselbe wie früher, nur die Vorgesetzten haben gewechselt. (»Hört hört«-Rufe.) Kein Missverständnis! Machen wir den Vorgesetzten Schwierigkeiten, so schneiden wir uns ins eigene Fleisch. Wir sind in den Händen der Japaner und können uns ihren Übergriffen gegenüber höchstens was denken. Widerstand hat keinen Sinn. Trinkt nicht mehr, als ihr vertragen könnt! Das habe ich euch immer schon in Tsingtau gesagt, Die besseren Elemente unter euch sollen sich darum kümmern, dass die Rowdys keine Dummheiten machen. Dann – sind hier Stiefel geklaut worden. Das geht gegen die deutsche Ehre. Bedenkt, dass solche Geschichten nicht damit erledigt sind, dass die Japaner euch einsperren. Die Schuldigen werden eventuell nach Friedensschluss noch in der Heimat gefasst für solchen Blödsinn. Und einmal wird Friede sein! Dann ist mir geradezu Schauderhaftes zu Ohren gekommen. Einige Leute sollen Katzen und Hunde hier geschlachtet und gegessen haben. Das ist eine Schweinerei. Ich möchte das nicht wieder hören. So schlimm ist das Essen von der Küche nicht, wenn es auch etwas knapp ist, wie ich weiss. Nach Hunde- und Katzenfleisch braucht ihr noch nicht zu greifen. – Nun, ich hoffe, dass ihr alle gesund und brav bleibt. Adieu, vierte Kompagnie!«

Von den Hunde- und Katzenschlächtern hatte ich etwas gehört. Es waren nur ein paar Sonderlinge, die mit den Leckerbissen geprahlt hatten. Unser Alter hatte recht, wenn er über die Schweinerei schimpfte.

Fukuoka, 13.1.1916 — Morgens Kleidermusterung. Eigenartig war, dass die Japaner besonders scharf darauf achteten, dass kein Gefangener mehr Kleidungsstücke besaß, als auf ihren Listen stand. Wer zu wenig hatte, konnte sich leicht rausreden. Schwierigkeiten gab es, wenn einer nachweisen sollte, woher er ein vorgefundenes überzähliges Stück hatte. Während Leutnant Suzuki anfing, bei jedem Gefangenen die Kleider nachzusehen, begann Muriyama mit einigen Unteroffizieren in Haus sechs, die Stuben nach verstecktem Zeuge abzusuchen. Die Musterung und Haussuchung war sehr überraschend gekommen. Es dauerte auch nicht lange, da brachten die beim Suchen helfenden Posten allerlei nicht auf den Kleiderlisten verzeichnete Bekleidungsstücke ans Tageslicht, die dann ins Büro gebracht wurden. Wer von uns, die wir am Hofe angetreten waren, noch ein böses Gewissen hatte, lief schnell ins Haus, um nicht angegebene Sachen noch zu verstecken. Doch der Posten am Hause hielt jeden an. Als Muriyama dann einige Gefangene rufen ließ, damit sie ihre Kisten aufsperrten, nahm man die Gelegenheit zu einem kleinen Schwindel wahr und rannte unter wilden Gesten, einen Schlüssel vorzeigend, am Posten vorbei ins Haus, und der Posten traute sich keinen mehr aufzuhalten, besonders wenn man noch drohend »Muriyama« sagte. Die Musterung dauerte bis ein Uhr. Suzuki hatte wirklich die Geduld gehabt, bei jedem der 350 Gefangenen die Kleider nachzusehen und die Listen danach zu prüfen, ohne eine Pause zu machen. Inzwischen waren auch die sechs Häuser durchsucht, wo viel, aber nicht alles versteckte Zeug gefunden wurde.

Fukuoka, 17.1.1916 — Es hieß heute, dass der Dolmetscher wieder vier Tage beurlaubt sei. Das heisst für uns, dass wir wieder acht Tage lang keine Post bekommen, da sonst niemand im japanischen Büro die Sachen zensiert. Heute erhielt ich von Tante Therese aus München noch einen Brief. Sie schreibt, dass alles zuhause wohlauf sei, dass viele Sachen furchtbar teuer geworden seien, das aber dank der Einteilung und Ausgabe von Brot-, Mehl-, Reis- und Fleischkarten noch reichlich Lebensmittel vorhanden seien und dass es im Hofbräuhause noch genügend und gutes Bier gäbe. Der Humor von ihr freut mich besonders. – Nachmittags war ärztliche Untersuchung im Revier, d.h. wir wurden, wie allmonatlich einmal, nackt gewogen. Das genügt den Japanern wie auch uns.

Fukuoka, 21.1.1916 — Schönes klares Frühlingswetter am Tage und nachts sehr kalt. Vom Kriege wird erzählt: Montenegro habe Friede geschlossen. Italien will mit der Türkei Frieden haben. 600 000 Mann deutsche Truppen mit schwerer Artillerie seien auf dem Wege nach Calais. »Das ist selbstverständlich«, sagte Gleixner etwas bitter.

Fukuoka, 27.1.1916 — Die Japaner erlaubten uns, des Kaisers Geburtstag zu feiern. Wir zogen unsere besten Klamotten an, sodass um neun Uhr, beim Antreten, die Reihen der Gefangenen ziemlich gleichmäßig angezogen, in Marineblau, dastanden. Ein wundervoller, klarblauer Himmel lag über dem grauen Häusermeer der Stadt, über den grünen Bergen und der spiegelglatten Bucht. Es war ein nüchternes Bild, trotzdem. Nur die Luft war wie zu Hause im Mai. Wir standen am Hofe. Unsere Offiziere waren nicht gekommen, Vermutlich auf Grund eines Verbotes von den Japanern. Unser Feldwebel und das Sängerkorps brachten es in schlichter Weise, durch Ansprache und Gesang (»Deutschland, Deutschland über alles«) fertig, unsere Gedanken über den Alltag zu erheben.

Fukuoka, 28.1.1916 — Maat Klaus von Haus 4 hat eine große Bücherkiste von daheim geschickt bekommen und versprach mir, mich ständig mit guten Büchern zu versorgen. Er ist ein ernster, stiller Schleswiger. Dass die Bücher gut sind, habe ich schon gesehen bei flüchtiger Musterung der Kiste. Theodor Storm, Wilhelm Raabe, Hermann Hesse, Knut Hamsun, Fritz Reuter, Ludwig Thoma sind bei der Sammlung. Da freue ich mich schon.

Heute nachmittags 2 Uhr war Antreten, da sich der neue Lagerkommandant, der angeblich ein deutschfreundlicher Herr sein soll, vorstellte. Er wolle uns Anweisungen geben, hieß es. Vor Haus zwei im Hofe wurden wir von Suzuki und Muriyama so im Viereck aufgestellt, dass nur ein kleiner Platz in der Mitte frei blieb. Suzuki ging dann, um dem Oberst unsere Bereitschaft zu melden. Darauf erschien unser neuer Herr und machte in Begleitung der beiden Offiziere und des Dolmetschers einen Rundgang vor unseren Reihen. Er ist ein großer, schlanker Herr mit braunem Gesicht, kalten, geschäftsmäßigen Zügen, geschnittenem Schnurrbart und außergewöhnlich klaren, hellbraunen Augen, die er scharf, wie drohend, über uns schweifen ließ. Seine gelbgraue Uniform sass tadellos, und auf der Brust hatte er ein paar Ordenssterne. Mit sicherem, elegantem Schritte ging er an unseren starren Mienen vorüber, wortlos und sich schneidig ein paarmal umsehend, als wäre ihm hier und dort etwas aufgefallen. Weder Güte noch Strenge konnte man aus seinem an einen Engländer erinnernden Gesichte lesen. In der Mitte des Platzes blieb er dann stehen und begann, von einem Zettel ablesend, seine Rede, bald langsam, wie singend, bald in hohem, raschem Kommandotone fortfahrend. Natürlich verstanden wir kein Wort, und es war etwas komisch, dass er sich so anstrengte. Wahrscheinlich sollten wir wenigstens seine Stimme hören. Die Rede dauerte kaum fünf Minuten. Suzuki übersetzte den Vortrag darauf folgendermaßen: »Anweisungen für Kriegsgefangene. Ich übernehme das Gefangenenlager und werde nach derselben Methode wie mein Vorgänger, Qberstleutnant Kamato, das Lager beaufsichtigen. Die Gefangenen müssen vor allem dafür sorgen, dass die Ehre des deutschen Soldaten auch hier hochgehalten wird. Sie müssen sich gegenseitig ermahnen, dass die Anordnungen des Aufsichtspersonals befolgt werden und keine Verstöße vorkommen, Alle Übertretungen der ausgegebenen Befehle werde ich strenge bestrafen. Sie müssen bedenken, dass Sie den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechend gehorchen müssen, bis die Friedensglocken erschallen werden.« Nach dem trockenen Anfang der Rede soviel Poesie in den letzten Worten! Das gefiel uns. Nach dem Wegtreten ging der Oberst durch die Häuser. Er soll auch deutsch sprechen, doch hat niemand ein deutsches Wort von ihm gehört. Bei der Abendmusterung schritt er noch einmal unsere Reihen ab, stumm und ganz Oberst.

Fukuoka,12.2.1916 — Der neue Lagerchef musterte in Begleitung von Muriyama und Suzuki die Häuser. Wir von Haus sechs hatten zufällig unseren kleinen Hof sauber hergerichtet, um die japanische Steinsäule kleine Akaziensträuche gepflanzt und überall weißen Sand gestreut, auch die Buden extrafein aufgeräumt. Nach der Besichtigung sagte uns denn auch Suzuki, der Oberst habe sich über Haus 6 sehr lobend ausgesprochen. – Es ist seit einigen Tagen eisig kalt, es regnet und schneit. Die umliegenden, etwa tausend Meter hohen Berge sind strichweise mit Schnee bedeckt. Bei uns auf der Ebene bleibt kein Schnee liegen. Das Meer ist unruhig. Über das dunkle Wasser jagen weiße Schaumschnörkel. In der letzten Nacht brannte drüben in der Vorstadt Hakata eines der grauen Häuser, und die Feuerglocke, die rostbraun, von seltsamer, länglicher Form, am Rande der senkrecht aus dem Häusermeer aufragenden Leiter hängt, schlug die ganze Nacht hindurch langsam und misstönend,

Fukuoka, 26.2.1916 — Am 15. wurde wieder einmal Gottesdienst im Lager abgehalten von einem katholischen Geistlichen. Es war ein klarer Tag. Um 1 Uhr traten wir am Hofe vor Haus 2 an. Etwa zehn von unseren Offizieren kamen, darunter auch der Kommandant des in Tsingtau versenkten österreichischen Kreuzers Kaiserin Elisabeth, Linienschiffskapitän Makoviz. Der Geistliche, ein etwas gebeugtes Männlein mit dünnem, rotblondem Vollbart, kam in Begleitung von Muriyama. Nachdem der Feldwebel uns bei unseren Offizieren vollzählig zur Stelle gemeldet hatte, wurden Zettel mit Kirchenliedern verteilt, und die Feier begann mit dem Segen des Priesters und dem Liede »Hier liegt vor deiner Majestät im Staub die Christenschar«. Muriyama, während der Messe sich immer dicht neben dem Priester aufhaltend, verfolgte aufmerksam die Handlungen desselben. Ein Matrose funktionierte als Ministrant. Nach der Messe und dem Gebet hielt der Geistliche eine kurze Predigt, deren Sinn war, dass all unser Tun und Lassen in guter Meinung, das heißt, zur Ehre Gottes geschehen soll. Nach dem Amen der Predigt sprach der Geistliche – und sein Gesicht ging in ein äußerst freundliches Lächeln über: »Es hat mich sehr gefreut, dass ich einmal zu meinen Landsleuten im Gefangenenlager sprechen konnte und besonders, dass die Lieder so frisch und gläubig gesungen wurden. Ich danke euch für euer zahlreiches Erscheinen (Lachen bei uns), und sollte der Friede noch lange auf sich warten lassen, so hoffe ich, noch öfter hier Gottesdienst abhalten zu können.«

[Fehlstelle im Text] ... abschnitte überraschend, durchzustossen. Mein Freund Gleixner, der in militarischen Dingen, auch soweit sie feindliche Festungen betreffen, auffallend bewandert zu sein scheint, sagt, dass Verdun das Sedan des WeltKrieges werden müsse, sonst seien wir verloren. Verdun sei die stärkte Festung der Welt, da sei nur mit Umgehung und Aushungerung was zu machen. Wir geben Gleixner nicht recht, schon um ihn anzureizen, sein stragisches »Genie« weiter leuchten zu lassen. Aber er hat wirklich, weiß Gott woher, immer schlagende Gegenbeweise bei der Hand, wenn wir ihm klar machen wollen, dass er so wenig wie wir von der Kriegslage wissen könne.
 

3. Frühling und Sommer 1916

Fukoka, 19.3.1916 — Am 9. war ein amerikanischer Gesandtschaftssekretär [Welles] im Lager, um sich die Zustände anzusehen.3 Man wusste einige Tage vorher schon, dass er kommen wurde und hatte sich vorgenommen, dem neutralen Herrn einmal richtig auseinanderzusetzen, woran es uns fehlte, Man hoffte, dass er auch bei den Mannschaften, nicht nur bei den Unteroffizieren und Offizieren, gründlich nachfragen würde. Die Stuben sind ja sauber, aber verflucht windig, die festen Wände teilweise baufällig, zwischen den Schiebern der Papierwände pfiff den ganzen Winter fürchterlich der Wind hindurch. Jeder Mann hatte nur fünf fadenscheinige Decken, und wir froren in den Papierhäusern auf den Matten nachts oft, als lägen wir im Freien. Und der Winter war lang. Im Speisesaal stand ein japanischer Ofen mit einem Häufchen Holzkohlenglut, an dem man sich, wenn man Glück hatte, die Finger wärmen konnte. Man fand überhaupt selten ein Plätzchen, wo nicht fürchterliche Zugluft herrschte. Man versuchte durch Turnen, Laufen, Spielen sich im Hofe zu erwärmen, aber ein immer hungriger Magen verträgt das nicht. Bei jeder größeren Anstrengung kommt man, anstatt in angenehme Wärme, in geradezu jämmerliche Mattigkeit. Das Essen genügt ja, um nicht zu verhungern, zum Vegetieren. Morgens gibt es ein Brot pro Mann und mittags einen oder zwei Teller Suppe, abends wieder ein Brot und Suppe. Man verlässt den Tisch nach jedem Essen immer mit einem Gefühl im Magen, als könnten einen alle Speisen der Erde nicht mehr sättigen. Man denkt allerdings schon bald nicht mehr daran, dass es besser sein könnte. Wenigstens bekommen wir zweimal in der Woche, freitags und sonntags, mittags Kartoffeln und pro Mann 25 Gramm Fleisch. Tee gibt es immer genügend, ganze Kübel. Man trinkt ihn zu jeder Tageszeit, mehr des Hungers als des Durstes wegen.

Der Amerikaner kam zu uns in den Speisesaal und ließ sich von unserem Hausmeister, Obermaat Kreuzarm, über die Verpflegung berichten. Ein Rudel japanischer Offiziere stand dabei, mit gestreckten Halsen und offenen Mündern lauernd. »Bekommen die Leute auch Gemüse?« fragte der Amerikaner. »Jawohl, jawohl.« Bei Kreuzarm gibt es nur »Jawohl«. Wir waren baff, zu erfahren, dass wir auch Gemüse bekämen und murrten drohend, worauf Kreuzarm hinzufügte: »Das Gemüse ist nämlich schon in der Suppe enthaltenl« Selbst der Amerikaner lächelte, Er war ein großer, noch junger freundlicher Herr. Er sagte nur wenig, sah sich überall scharf um und hatte, nach seinen kurzen Fragen, wohl bald bemerkt, woran es fehlte. »Andere Öfen haben Sie nicht?« »Die Wände sind anscheinend nicht sehr dicht.« »Sind die Leute gesund?« Der Hausmeister redete und redete, aber er brachte keine von den Klagen vor, die wir alle auf der Zunge hatten. Uns fragte der Amerikaner nicht. Nur im Weggehen, schon unter der Haustüre, fragte er den Matrosen Kunz, der mit blauem Gesicht im Gange stand: »Frieren Sie?«, und Kunz sagte: »Plenty, plenty, alle Tage und Nächte.« Ob von anderen Übelständen gesprochen wurde, ist mir nicht bekannt, und ich hörte nur, dass der Amerikaner versprochen hatte, er wolle dafür sorgen, dass wir mehr Gemüse bekamen. Hätte er uns gefragt, so hätte er gehört, dass viele schlechte Kleider haben und keine besseren bekommen, dass unsere Post oft wochenlange im japanischen Büro liegen bleibt, weil der Dolmetscher zum Zensieren selten Zeit hat, dass wir nur zwei Briefe und eine Karte im Monat schreiben dürfen, dass die Kranken erst behandelt werden, wenn sie schon halb tot sind und noch mehr derartiger »Kleinigkeiten«. Selbstverständlich wäre mancher Übelstand auch übertrieben groß dargestellt worden, aber zeitweise war unsere Lage schon so schlimm, dass man, hätte man nicht schon von Natur aus ein dickes Fell gehabt, manchmal hätte verzweifeln können.

Im Sommer wird es jedenfalls wieder besser. Man kann wenigstens wieder lesen und schreiben, ohne mit den Zähnen zu klappern. Am 10. und 11. war ich krank, hatte Kopfschmerzen und Fieber. Nachher kam ein böser Husten. Es ist noch eisig kalt. Die Holzkohlen sind zu Ende, und so bietet auch der Ofen im Speisesaal keinen angenehmen Zufluchtsort mehr. Dem Hausmeister, der für die Unteroffiziere noch einen Kohlenvorrat hatte, wurden gestern Kohlen geklaut. Er schimpfte fürchterlich. Vielleicht versucht er herauszukriegen, in welcher Mannschaftsbude die Kohlen verheizt werden. Das gibt eine Gaudi... Rumänien soll gegen die Mittelmächte kämpfend. Es wird immer trauriger.

Fukuoka, 31.3.1916 — Gott sei Dank war die Meldung vom Eintritt Rumäniens in die Front der Feinde eine Falschmeldung, wie wir heute hörten. Uns wurde aber erzählt, zwischen Deutschland und Frankreich herrsche Waffenstillstand, in unserer Lage findet man nicht den Mut, solche Gerüchte zu belächeln, wenn sie auch noch so zweifelhaft scheinen. Schon die bloße Vorstellung der Möglichkeit von Friedensverhandlungen lässt den Sinn freudig aufleben, und man glaubt plötzlich ein anderer Mensch geworden zu sein. Letzte Woche haben wir noch sehr gefroren. Jetzt ist warmes Frühlingswetter. Auf dem Hofe des Lagers leben Sport und Spiel wieder auf.

Fukuoka, 10.5.1916 — Wir haben ein Wett- und Schauturnen im Lager fertiggebracht, wobei wirklich schöne turnerische Leistungen zu sehen waren. Auch unsere Offiziere waren eingeladen und freuten sich, dass wir noch so lebenslustig sind. Die Luft ist warm, doch kommt von Zeit zu Zeit ein kalter Wind und macht der Frühlingssonne die Herrschaft streitig. Die Temperatur wechselt oft und unheimlich schnell. Die Folge davon ist, dass viele Leute mit starkem Schnupfen, roter Nase und aufgesprungener Gesichtshaut im Lager herumlaufen, Seit einigen Wochen lerne ich, mehr um die Gelegenheit nicht ungenützt vorbeigehen zu lassen als aus Interesse an der Sache, Französisch. Wir haben eine Menge Lehrbücher für fremde Sprachen und Mittelhuber, ein ehemaliger Fremdenlegionär, der die französische Sprache gut beherrscht, gibt mir und einigen Kameraden Unterricht.

Der englische General Townsend ist mit 13000 Mann in Mesopotamien gefangen worden.

Fukuoka, 22.5.1916 — Die Österreicher haben an der Südtiroler Grenze 23000 Italiener, 188 Geschütze und 40 Maschinengewehre geschnappt. Bei derartigen Meldungen lebt in uns die Hoffnung gewaltig auf.

Fukuoka, 1.6.1916 — Gottesdienst im Lager. Auch unsere Offiziere waren anwesend und schienen in besserer Stimmung zu sein als früher. Der österreichische Kapitän soll sich unbändig über die Meldungen von den österreichischen Erfolgen gefreut haben. – Nach dem Gottesdienste spielte auf dem Hof unsere Kapelle, die seit einigen Wochen jeden Tag übt und sich schon an Opernstücke macht, an schwere Sachen, die wohl der größte Teil von den Mannschaften nicht mehr ganz zu würdigen weiß. Wenigstens kann jeder dabei auf seine Art träumen. Für uns passt jede Melodie, ich lese sehr viel, Klassiker und sonstige schöne Literatur. Dabei vergesse ich manchmal für Stunden, dass ich Gefangener bin. Und wenn dann die wahre Lage mir wieder recht schmerzlich zum Bewusstsein kommt, bleibt mir der Trost, dass ich mich hier zum Literaturkenner ausbilden kann, wenn der Krieg noch Jahre dauern sollte, Ein Ziel ist es wenigstens.

Fukuoka, 2.6.1916 — Heute gegen 4 Uhr nachmittags lief der kleine japanische Depeschenbote mit seiner Glocke durch die Straßen, auch am Lagertor vorbei. Im Arm hatte er einen Stoß Extrablätter. Er schwang seine Glocke heftig, und wir witterten große Neuigkeiten vom Kriege. Dem Posten am Tore gab er ein Blatt, das dieser uns gab. Wir lieferten es, da das Japanische keiner von uns lesen konnte, an die Reservisten ab, von denen einige Japanisch können. Es ging denn auch wie der Blitz die Nachricht von Mund zu Mund: »Große Seeschlacht bei Jütland. Sechs englische Kreuzer gesunken, drei deutsche.« Kurz darauf kamen neue Telegramme, Der japanische Arzt und der Kantinenwirt erzählten: »Zehn englische Kreuzer und sieben Torpedoboote vernichtet, die deutschen Kreuzer Wiesbaden und Frauenlob gesunken. Großer Sieg der deutschen Flotte.« Die Freude leuchtet jedem von uns aus den Augen. Wir sind von der Schlagfertigkeit unserer Kameraden vom Geschwader uberzeugt. Nun würde endlich die Entscheidung im Weltkriege kommen, sagten wir. – Abends, während ich dies schreibe, kommt die japanische Patrouille in den Speisesaal, wo ich allein in der Ecke sitze. Die beiden Posten nicken mir grinsend zu und der eine spreizt zweimal die fünf Finger der linken Hand, während er mir auf Englisch" erklärt: »Ten english battleship ... kaputo, Deutsche plenty bumm bumm, Deutsche nicht kaputo...«

Fukuoka,10.6,1916 — Von der Seeschlacht haben wir seltsamerweise in den letzten Tagen nichts weiter mehr gehört, doch sind nachts einige Male japanische Studenten am Lager vorbeigezogen, die sangen »Deutschland, Deutschland über alles«. Das scheint uns ein gutes Zeichen. Der japanische Oberst soll unseren Offizieren gegenüber geäußert haben, England habe diese Seeschlacht verloren, und in Japan glaube man, dass nun Deutschland den Krieg noch gewinnen werde. Das glauben wir auch.

Fukuoka, 15.6.1916 — Nun wissen wir, wie die Seeschlacht ausging, und sind begeistert von unserer Flotte. Eine Menge falscher Meldungen über die Verluste in der Seeschlacht und den Verlauf der Schlacht sind zu uns gekommen. Aber nun geben auch die englischen Zeitungen zu, dass die englische Flotte »Pech« hatte und die deutsche verhältnismäßig gut wegkam. Wir wünschen nur, dass unsere Geschwader noch stark genug sind, bald einen weiteren Schlag, wie den letzten, gegen die Engländer zu führen. Doch wir, weit vom Schuss, können leicht reden.

An Pfingsten durften wir, unter strenger Bewachung natürlich, einen kurzen Ausflug nach dem Ostpark von Fukuoka machen. Schattiger Strand. Japanische Tempel. Auf dem Rückmarsche waren einige Gefangene betrunken. Zwei Elsässer, die es vermutlich nicht verwinden können, dass sie mit ihren Kollegen seinerzeit nicht ausgerissen sind, ließen auf dem Marsche in benebelter Stimmung Worte fallen »Wir werden Frenschsoldaten« und wurden dann im Lager von den Hausgenossen verprügelt.

Fukuoka, 24.6.1916 — Die Hitze nimmt täglich zu, und man schläft auf den blanken Matten, ohne sich zuzudecken. Wir haben wohl Moskitonetze, doch sind diese sehr schadhaft. Man kann nicht soviel daran flicken, dass keine der lästigen Stechfliegen mehr hindurchfände. – Von der Seeschlacht hörten wir noch, dass der deutsche Schlachtkreuzer Lützow und der kleine Kreuzer Rostock gesunken seien.

Fukuoka, 1.7.1916 — Das deutsche Große Hauptquartier berichtet: Große Erfolge vor Verdun. Fort Thiaumont erstürmt. Das bayerische 10. Jägerbataillon und das Leibregiment sollen an der Spitze der Stürmenden vor Thiaumont gewesen sein. – Ebert von Haus 2 und ich plagen uns seit einiger Zeit mit Algebra. Für was man sich hier nicht alles interessieren kann! – Von irgendwoher sind viele nagelneue Bücher in schönen Einbänden ins Lager gekommen. Durch auffallende Titel, wie Weltgericht und Weltgeschichte, Die Zeit der Erfüllung, Das neue Zeitalter usw. neugierig gemacht, fing ich in einem dieser Bücher zu lesen an, kannte mich aber bald vor lauter Bibelsprüchen nicht mehr aus. Immerhin, so stumpfsinnig sind wir noch nicht, dass wir die nächstbeste »Religion« als den Strohhalm ergreifen, von dem wir Rettung erhoffen.

Fukuoka, 27.7.1916 — Ein Bündel »Münchener Neueste Nachrichten« habe ich vor einigen Tagen aus der Heimat erhalten. Sie sind zwar schon zwei Monate alt, doch suche ich gierig, daraus ein Bild von den Zuständen in der Heimat zu bekommen. Es ist geradezu rührend, wie man auffallend stark in der Zeitung die Notwendigkeit des Weiterkämpfens betont. Ob das die Feinde nicht hellhörig macht? Rührend, wie für die gerechte Verteilung der Lebensmittel geschrieben wird, die daheim schon sehr knapp zu sein scheinen. Aus dem lokalen Teile der Zeitung findet man ein klareres Bild der Lage als aus den grossen politischen Leitartikeln, in denen soviel wissenschaftlich geschrieben und bewiesen wird, dass man misstrauisch werden könnte.

Fukuoka,13.8.1916 — In den Abendstunden bis 3 [?] Uhr spielt fast jeden Tag unsere Kapelle im »Pavillon«, einer alten, halbverfallenen Bretterbude am Hof, die von den Japanern für die Musik zur Verfügung gestellt wurde, Wir gehen stundenlange vor der Musik am Hofe spazieren. Es ist doch nicht so öde wie sonst tagsüber. Unsere Kapelle macht sich gut. Ich glaube, sie könnte sich in jeder Großstadt öffentlich zeigen. Sogar die Japaner bleiben oft auf den Straßen stehen und lauschen, anscheinend ergriffen, der Musik und denken vermutlich, die Deutschen da drinnen haben ein schönes Leben. – Vom Kriege hörten wir sehr wenig. Die große englische [Somme-] Offensive scheine erfolglos für die Engländer beendet zu sein. Die Russen gehen stark gegen die Karpathen vor. Auf keiner Front kann der Feind einen entscheidenden Stoß machen, und das ist immer noch erfreulich. Wir bekommen seit Monaten keine Post mehr von Deutschland, und das scheint uns vorläufig das schlimmste Übel. Es kostet unter diesen Umständen doppelte Mühe, an irgend einem Fache zu lernen oder auch nur ein Buch zu lesen. Es bleibt einem aber nichts anderes zu tun übrig, als weiter zu arbeiten und zu hoffen.

Fukuoka, 21.8.1916 — Vom Kriegsschauplatz viel Neues, aber nichts Erfreuliches. Da interessiert uns auch kein Lagertratsch und keine schöne japanisehe Landschaft. Die Russen sind in Galizien vorgekommen bis in die Karpathen. Die Italiener sind in Görz einmarschiert. Die Hoffnung auf den Sieg der Mittelmächte geben wir deswegen noch lange nicht auf.

Fukuoka, 27.8.1916 — In der Einteilung meiner Tagesarbeit habe ich wieder einmal einen neuen Stundenplan aufgestellt. Schöne Literatur, Französisch und Mathematik. Ich weiß im voraus, dass ich mich nicht daran halten werde, aber einige Zeit geht es wieder. Algebra macht mir Schwierigkeiten, da ich der Sache kein Interesse entgegenbringen kann. Das hängt wohl mit meinem Spleen zur Literatur zusammen. – In Osaka soll die Cholera ausgebrochen sein, und auch im nahen Kokura sollen schon Fälle dieser gefährlichen Seuche in den letzten Tagen vorgekommen sein. Manche Leute im Lager haben schon »Fahrt« (Ausdruck in der Marinesprache für Angst). Mich lässt die Choleragefahr ganz gleichgültig.

In der letzten Nacht sollen Englander bei uns hinter Haus 2 versucht haben, eine Sprengung an der Hausmauer vorzunehmen. Wir erfuhren es von unseren Offizieren, die es aus der Zeitung oder sonst woher haben. Die Japaner schweigen uns gegenüber hartnäckig. Von uns wurde in der Nacht nur bemerkt, dass die japanische Wache alarmiert wurde, wie einige Posten von Haus 2 aufgeregt nach der Wache riefen und wie die Schutzleute außerhalb des Zaunes Krach machten. – Soeben wird erzählt, dass Mackensen mit eineinhalb Million Mann frischer Truppen an der Westfront eingetroffen sei und dass die Deutschen an der Somme die feindlichen Stellungen durchbrochen hätten. Das U-Boot Deutschland soll glücklich aus Amerika in die Heimat zurückgekommen sein.

Fukuoka, 3.9.1916 — Unser schon in Friedenzeit wegen seiner dummstolzen Strenge gehasster Maat Kuklinski kam beim Antreten seiner Korporalschaft mit einigen Reservisten in Streit. Die Richtung und Haltung der Leute war ihm nicht gut genug. Er brüllte sie an und wurde natürlich ausgelacht. Darauf lief er sofort zum diensthabenden Offizier und meldete: »Die Leute wollen nicht antreten.« Der Japaner denkt natürlich: Meuterei und Totsch [?] lässt alle Leute von Haus 6 am Hofe antreten und fragt dann den Hausmeister Kreuzarm, warum die Leute nicht angetreten sind bei Maat Kuklinski. Kreuzarm weiß nichts von der Sache und fragt Maat Kuklinski, was los war. Dieser bringt vor, die Leute hätten sich unmilitärisch verhalten, Schwierigkeiten gemacht. Er weiß offenbar nicht recht, was er sagen soll, und Leutnant Suzuki schüttelt verständnislos den Kopf. Ein Reservist lacht. Suzuki springt auf ihn zu, stubst ihn vor die Brust und faucht: »Warum lachst du?« Dieser sagt: »Weil der Maat spinnt« und deutet auf die Stirn. Suzuki lacht auch, fragt aber wieder strenge: »Wissen Sie nicht, dass Sie jeden Befehl des Unteroffiziers ausführen müssen?« »Das schon, aber wir lassen uns nicht schikanieren«, sagt der Reservist. Suzuki verstand anscheinend die Antwort nicht und ordnete an, dass wir von Haus 6 nun alle Tage auf dem Platze antreten müssten, nicht mehr im Speisesaal, wo sonst die Abendmusterung stattfand. Das sollte unser Strafe sein, Wir werden es mit stiller Wut machen, aber wir wollen bei jeder Gelegenheit zeigen, dass wir uns keine Schikanen gefallen lassen, weder von unseren Vorgesetzten noch von Japanern, Und wenn wir immer den kürzeren ziehen. Wenn wir frei sein werden, hoffen wir, dem Maaten etwas zurückzahlen zu können. – Vom Kriege hörten wir, dass die Meldung vom Durchbruch der Deutschen an der Somme falsch war. Schwere Kämpfe an der Ost- und Westfront. Rumänien hat nun doch Krieg gegen die Mittelmächte begonnen.

Fukuoka, 17.9.1916 — Die Cholera ist in Fukuoka. In der Stadt ist schon ein Todesfall in dieser Krankheit vorgekommen. In unserem Lager wurden sofort alle möglichen Vorsichtsmaßregeln ergriff: die Klosetts desinfiziert, Schüsseln mit Lysollösung aufgestellt, am Tore wurde eine Quarantäne-Station eingerichtet, vor der die gelbe Flagge mit japanischer Aufschrift weht. Vor jedem der beiden Lagereingänge steht ein breiter, niederer Holzkasten mit desinfizierender Flüssigkeit, in die jeder ins Lager kommende Japaner – sonst kommt niemand herein – seine Füße zu stecken hat. In der Quarantänestation werden alle Japaner, die im Lager zu tun haben, auch ihre Waren und Werkzeuge untersucht, bevor sie ins Lager kommen, die Lieferanten der Küche, der Kaufmann mit seinen Waren, die Handwerker und die Klosettkulis. Alle, die den Tag über hier arbeiten, müssen ihre Kleider in der Station ausziehen, in einen Kasten legen und erhalten zur Arbeit lange, weiße Kittel. Sogar die Räder und Achsen der mitgebrachten Karren werden am Tore mit Lysollösung abgewaschen. Die Japaner sind da wirklich besorgt um unsere Gesundheit.

Gestern kam Kapitänleutnant Wittmann ins Lager und hielt uns einen Vortrag über Verhaltungsmaßregeln dieser Krankheit gegenüber, betonte, man soll nicht zu ängstlich, aber auch nicht zu gleichgültig sein, und wir sollten nichts von der Cholera nach Hause schreiben, damit sich unsere Lieben nicht unnötige Sorgen machten. Wittmann sprach dann auch von der Sache des Maat Kuklinski und der Bestrafung wegen Nichtausführung gegebener Befehle: »Es ist traurig, dass sowas vorkommt, aber gut, wenn die Japaner mal mit einem Donnerwetter dazwischenfahren. Jeder Befehl wird gefälligst ausgeführt, und es wird der Schnabel gehalten!" Wir machten lange Gesichter. Im Allgemeinen gaben wir ja Wittmann recht, doch hatten wir mehr Verständnis für unsere Lage von ihm erwartet. Zufrieden waren wir erst, als wir hörten, wie Wittmann sich auch die Unteroffiziere vornahm und ihnen ins Gewissen redete, sie sollten mehr versuchen, mit den Leuten im Guten auszukommen und nicht wegen jeder Bagatelle zu den Japanern laufen. Die meisten Leute hätten doch guten Willen, und wenn einzelne gleichgültig und verbittert seien, so soll man das nicht gleich tragisch nehmen. Die Unteroffiziere sollten als Vorbildienen und keine Waschweiber sein. – Wir waren so begeistert von Wittmanns gerechtem Sinn, dass wir Kuklinski fast bedauerten.

Fukuoka, 27.9.1916 – Große Freude! Ich habe überraschend viel Heimatspost bekommen, darunter auch eine Geldsendung vom Frauenverein vom Roten Kreuz in München mit einer Karte, auf der außer der »geschäftlichen« Mitteilung der Sendung auch »Herzliche Grüße aus dem Heimatlande« geschrieben stand. Als Gefangener achtet man besonders auf solche Aufmerksamkeiten, die sonst in Geschäftsschreiben nicht üblich sind. – Vom Kriege hören wir viel Neues. An allen Fronten ist der Feind in der Offensive. Nur die Rumänen sind auf dem Rückzuge. – Die Luft wird kühler, es herbstelt.
 

4. Abreise nach Oita

Oita, 27.10.1916 — Große Veränderung unserer Lage. Am 11. Oktober in Fukuoka kam unser Hausmeister Kreuzarm vom Büro zwar ohne Post, wie so oft, brachte aber die aufregende Nachricht: »Alles kommt weg in ein anderes Lager. In den nächsten Tagen schon wird umgezogen.« Wohin, das wusste er nicht. Bald kamen auch die Befehle: »Man soll nicht viel Zeug zusammenpacken. Kisten dürfen nicht mitgenommen werden. Das Gepäck befördert die japanische Behörde. Sie liefert auch Matten zum Einpacken der Sachen für die Gefangenen, die keine Koffer oder Kleidersäcke haben. Handgepäck ist auf das Notwendigste zu beschränken.« Alle im Lager schienen vor Freude außer Rand und Band zu kommen. Dass niemand wußte, wohin die Reise ginge, machte die Sache noch interessanter, und die tollsten Gerüchte gingen um. Die Japaner verrieten nichts, so viel man auch fragte. 12. Oktober morgens begannen auch schon die Musterungen des Inventars. Sämtliche Bänke wurden an das Büro abgegeben, die Tische in den Speisesälen aufeinander geschichtet und andere Sachen zur Abgabe bereit gestellt. Die Leute räumten ihre Sachen von den Wänden und aus den Wandkästen. Ein neuartiges Leben begann im Lager. Es war das erste große Ereignis in unserem Gefangenenleben nach fast zweijähriger Einförmigkeit. Abends ging alles in aufgeregten Gesprächen am Hofe spazieren. Man munkelte, dass wir in drei andere Lager verteilt würden. Haus 6 sollte nach Oita, Haus 2 nach Narashino, die anderen nach Osaka, Aonagahara oder Nagoya kommen, doch bestimmt wusste es niemand. Die Musikkapelle würde aufgelöst werden, hieß es. Noch spielte sie fast jeden Abend. Einige Male gab es noch Heimatspost, doch ich hatte nichts dabei.

Drei Burschen aus dem Offizierslager, ein Landsmann von mir aus Oberbayern und zwei Elsässer, kamen am 12. mit Sack und Pack zu uns ins Lager. Sie wussten noch kein Wort von unserer bevorstehenden Abreise, an der sie, wie sie nun erfuhren, teilzunehmen das Vergnügen hatten. Leutnant Chizuki hatte die beiden Elsässer gefragt, ob sie nicht in die französische Fremdenlegion eintreten wollten, da Deutschland in drei Monaten doch kaputt sein würde. Doch die Elsässer hatten dankend abgelehnt: Sie seien Deutsche, keine Franzosen. Die Fragen des Japaners an die Elsässer gaben zu denken. Auch die Geheimtuerei mit der Versetzung fanden wir seltsam. Die unglaublichsten Gerüchte gingen um und wurden, je nach der »Ruhe« des einzelnen, ernstlich besprochen oder belacht. »Wer weiß, wo sie uns hinschleppen? Vielleicht zu den Franzosen nach Indochina oder nach Sibirien«, argwöhnte der immer misstrauische Markus. »Nach Australien kommen wir. Ich weiß es bestimmt vom japanischen Büroboy«, sagte ein Alleswisser. Uns war alles recht, wenn wir nur fortkämen, nur eine Veränderung erlebten. Unsere Offiziere wussten von dem ganzen Bummel noch nichts, bis wir in den letzten Tagen einen Weg gefunden hatten, ihnen unauffällig die Nachricht von unserem bevorstehenden Umzuge mitzuteilen. Der japanische Boy, der mittags und abends von unserer Lagerküche Proviant für die Offiziersburschen holte, bekam zwischen die gekochten Kartoffeln ausgehöhlte rohe Kartoffeln mit Briefen, unauffällig für die Japaner kam auf demselben Wege prompt die Antwort von den Offizieren: »Nachrichtendienst funktioniert tadellos. Viel Vergnügen und besten Dank!«

Am letzten Tage vor der Abreise bekam jeder Gefangene noch eine Postkarte zum Schreiben nach der Heimat. Nach einem Befehle durfte der Gefangene die Karte nur mit der Adresse des Empfängerlagers und dem Namen des Absenders versehen, während die Mitteilung der neuen Adresse des Gefangenen später im Büro von den Japanern auf die Karte geschrieben werden sollte, damit ja keiner von uns vorzeitig erfahren konnte, wohin er käme. Dieser Befehl erregte neue Aufregung bei vielen Gefangenen. Einige fürchteten sogar, was die Japaner darauf schreiben würden, könne ein Kontrakt für die Fremdenlegion sein. Mancher traute sich die Karte nicht abzugeben. Für die Mehrzahl aber war es klar, dass die Japaner nur darum so geheimnisvoll schwiegen, weil sie wussten, dass von den Gefangenen Hunderte von Wünschen und Gesuchen im Büro vorgebracht worden wären, wenn jeder gewusst hätte, wohin er käme. Da hätten sich die Japaner vor Sonderwünschen nicht retten können. Wir von Haus 6 verschafften uns auf die einfachste Art am vorletzten Tage vor unserer Abreise Gewissheit über unser Reiseziel. An unsere größeren Gepäckstücke wurden von den Japanern Zettel geheftet, für die Eisenbahn, wie man vermutete. Mit einem dieser Zettel lief unser Bertold zu dem japanischen Kantinenwirt und fragte diesen mit der harmlosesten Miene: »Osaka heißt das, nicht wahr?« »Nein, nein«, sagte der Japaner, der längst schon Deutsch konnte und überall gerne Auskunft gab, »das nicht Osaka, das heißen Oita.« Da wussten wir's.

Das Wetter war am Morgen unserer Abreise wunderbar, Wir von Haus 6 sollten zuerst abfahren, alle anderen am nächsten Tage. Da hielt uns die Kapelle am Morgen, als wir zum Abschied am Hofe antraten, noch ein Abschiedskonzert, spielte den Flaggenmarsch. Nur wenige summten mit. Wir waren seltsamerweise nicht so sehr begeistert. Gerade unser Flaggenmarsch erinnerte daran, dass wir nun nicht heim kamen, sondern nur in anderes Lager, wo es nach kurzer Zeit wieder ebenso langweilig sein würde, wie es hier war. Im Hofe standen unsere nicht mit uns gehenden Kameraden um uns. Mein Freund Mittelhuber ging nicht mit uns, und manchen guten »Spezi« von hier würde ich in Oita vermissen. Wenigstens kam Gleixner mit. – Der Lagerchef und drei andere japanische Offiziere standen vor der Front. Endlich hieß es: »Die Unteroffiziere an den rechten Flügel! Zu dreien abzählen!« (In der japanischen Gruppenkolonne gehen drei Mann nebeneinander, nicht vier wie in der deutschen.) Chizuki gab in seltsamem Deutsch noch Verhaltungsmaßregeln für die Reise: "Man darf nicht lärmen. Man muss den Aufsichtshabenden gehorsamen...« usw. Wir kannten diese schon zur Genüge und hörten kaum hin. Noch eine kurze Besprechung der Offiziere folgte, dann trat Chizuki wieder zu uns: »Stillgestanden! Das Lager, in welches Sie kommen, heißt Oita. (Wir zeigten uns gar nicht überrascht.) Ich hoffe, dass es Ihnen dort gut gehen wird und Sie alle gesund und munter bleiben. Ich wünsche allen das Beste und grüße herzlich.« Wir sagten, Chizuki sei doch immer ritterlich. Ganz blass war er geworden bei der Rede, ob vor Rührung oder Anstrengung! Ruckweise und jedes Wort betonend, wie immer, sehr deutlich sagte er dann noch: »Sie müssen nach zwei Stunden Fahrt umsteigen. Die Station heißt Kokura. Man hat wenig Zeit. Also müssen Sie sich beeilen.« Dann ging es los: »Alle Gruppen links schwenkt, marsch!« Lebhaftes Winken von und nach unseren zurückbleibenden Kameraden.

Es war ein sonniger Morgen, als wir, etwa 60 Mann, von fünf Posten, zwei japanischen Unteroffizieren, dem Leutnant Chizuki und dem Dolmetscher begleitet, zum letzten Male durch die Straßen von Fukuoka marschierten. Wie vor zwei Jahren bei unserer Ankunft liefen auch jetzt an allen Ecken die Einwohner zusammen, um uns zu sehen, Geschäftsleute, Laufjungen, Studenten, Kinder. Die Straßenbahnen fuhren langsam an unseren Zuge vorbei; in den Kaufhäusern, Schulen, Barbierläden und Werkstätten drängte sich alles an Türen und Fenster. Am Bahnhofe mussten wir fast eine Stunde warten, bis unser Zug kam. Seit zwei Jahren hatten wir keinen Bahnhofsbetrieb mehr gesehen. Es kam uns uns ganz seltsam vor: Wartesäle, Züge, Reisende, Eisenbahnbeamte, freie Menschen, die einen Beruf, ein Ziel hatten, die wussten, wofür sie arbeiteten. Ein unbändiger Freiheitsdrang erfasste mich und wohl jeden von uns. War es wirklich schon zwei Jahre her, dass wir von der Welt abgeschlossen hausten? Zwei verlorene Jahre, dachte man. Am Bahnhofplatz hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. Stumm, wie träumend, sahen die gelben Gesichter auf uns. Das Bahnpersonal bewegte sich geschäftig, wichtigtuend, beachtete uns wenig. Nur zwei junge Damnen, Bürofräulein oder Telephonistinnen, mit putzigen schwarzen Kimonos und Bleistift im üppigen Haar, lebhaft wie Quecksilber, steckten neugierig ihre zarten, hübschen Gesichtchen aus einem Fenster, kamen schließlich auf unser Winken heran an die Bahnsteigsperre, zeigten kichernd und miteinander lebhaft plaudernd offensichtlich große Lust, sich auch mit uns näher zu unterhalten, getrauten sich aber doch nicht näher heran und verschwanden mit bedauerndem Zunicken wieder in ihr Büro, nicht ohne uns noch verstohlen zuzuwinken.

Unser Zug fuhr vor. Die japanischen Eisenbahner tragen dasselbe Phlegma zur Schau wie die deutschen. Wir stiegen in die sauberen Wagen mit ihren zierlichen, mit leichten Polstern versehenen Bänken. Vor unserem Fenster standen der Dolmetscher und der im japanischen Büro angestellte Professor. Beide schienen etwas traurig zu sein über unseren Abschied. Als der Zug sich in Bewegung setzte, zog jeder der beiden Japaner mit tiefer Verbeugung gegen uns seinen Hut. Sanft, wie auf Gummirädern lief der Zug aus dem Bahnhof. Wir öffneten sofort alle Fenster. Zwei Posten, Oberleutnant Muriyama und ein japanischer Sergeant waren bei uns im Abteil. Die Fahrt versprach eine wahre Vergnügungsreise zu werden. Frischer Wind, blauer Himmel und Sonnenschein. Die armseligen Holzhäuschen der Vorstadt mit ihren Strohdächern hatten wir bald hinter uns. An jeder Bahnüberfahrt, wo bei uns in Deutschland eine Schranke und ein Schrankenwärter ist, stand hier eine Frau mit grüner Flagge. Als letztes Gebäude von Fukuoka sahen wir links, in einer Lichtung des Kiefernwaldes, den massigen, roten Backsteinbau der Universität. Dann ging es über eine lange Holzbrücke, von der aus man kurz Ausblick auf die Meeresbucht hatte. Rechts breiteten sich Reisfelder aus, von wildbewachsenen Hügelzügen umsäumt. So dicht sind hier Wildnis und kultivierte Felder und Gärten beisammen, dass die Beschreibung der Landschaft schwer wird, Es sind soviele kleine, kahle und auch mit wildem Pflanzenwuchs verschwenderisch gesegnete Anhöhen, Miniaturgebirge, auf der weiten Ebene der Reisfelder, dass diese eintönigen braunen Flächen sich wie Sümpfe ausnehmen, deren »Ufer« meist aus steilen, grauen oder rötlichen Fels- oder Lehmwänden bestehen. Über diese Wände hängen, wie aus übervollen Blumenvasen, dunkelgrüne, helle und in allen Farben schillernde Büsche.

An kleinen Föhrenwäldern ging die Fahrt vorüber. Die schiefgewachsenen Stämme mit ihren weitausgreifendem Astwerk scheinen, überall in Japan, wie von einer unsichtbaren Macht gekrümmt, niedergedrückt. Vielleicht tragen die vielen kleineren und größeren Erdbeben, die meist etwas lockeren Strukturen des japanischen Bodens dazu bei, dass die Baumwelt oft ganz groteske Stammformen zeigt. Wir sahen aber auch wieder dichte Bambushaine, deren schlanke, feine Stämme sich ständig im leisesten Luftzug bewegten, dann wieder zerklüftete Anhöhen, die wie Kreidefelsen schimmerten, über denen, aus dichtem Buschwerk aufragend, einzelne Palmen mit breiten Kronen im Sonnenlichte zitterten. Kleine Dörfer lagen im Buschwerk bis an die Dächer versteckt, auf einem Hügel leuchtete aus dem üppigen Grün, wie ein zierliches Schnitzwerk, ein Sommerhäuschen mit kunstvollen Holzgalerien, weißen Papierwänden und geschwungenen Dachfirsten und Giebelverzierungen hervor. Dann tauchten plötzlich hohe Berge auf, mit klaren Grasflächen an den Abhängen, und graue, gigantische Felswände. Sie erinnerten an bayerische Alpenlandschaft, machten das Bild fast anheimelnd. Doch am Fuße der Bergwelt, wo unser Zug vorüberglitt, wuchert die fremde Wildnis. Wie Urwald zieht sich mehrere Kilometer weit das dichteste Gestrüpp hin. Hecken und Schlingpflanzen von gewaltigem Wuchs überwuchern abgestorbene Baumriesen und verfaulendes Astwerk. Keines Menschen Fuß kann diese Wildnis noch betreten haben, denn ein Durchkommen ohne Axt, Säge und Messer ist hier unmöglich.

Durch mehrere Tunnels ging es. Fast jede Viertelstunde kamen wir an eine Haltestelle, meist ein kleineres Dorf. An den größeren Stationen bemerkte man Industrieanlagen, Mühlen, Holz- und Kohlenlager, Steinbrüche, Fabriken und Bergwerke. Dass die Industrie und dementsprechend der Verkehr in Japan stark aufblüht, zeigen schon die vielen von unserer Bahn abzweigenden Geleise, Kleinbahnen und die vielen Landstraßen. Die Dörfer machen alle den gleichen ärmlichen Eindruck. Die kleinen grauen Holzhäuser stehen dicht beisammen. Die mit schmutzigweißem Papier beklebten Schiebetüren sind nach der Straße zu fast immer offen. Auf dem kleinen Hof ist in buntem Durcheinander der Wirtschaftskram, Wasserfässer, Bretter mit Fruchtschalen, getrockneten Fischen und aufgespannten, gewaschenen oder ungewaschenen Kleidern und Stoffstücken, Rechen und Harken von seltsamen Formen, zierliche Körbchen und irdene Schüsseln und Töpfe. Zwischen Ziehbrunnen und Dunggruben treiben sich Kinder in leichten, grauen Kimonos, recht ärmlich aussehend, herum. Alte Weiblein, mit Körben an beiden Enden des über die Schultern gelegten Bambusstockes, trippeln die Strasse entlang, pausbäckige Mädchen waschen, an lehmigen, nackten Ufern kniend, in dem gelblichen Wasser eines Dorfgrabens. Männliche Einwohner sieht man selten in diesen idyllischen Höfchen beschäftigt.

Gegen Mittag fuhren über über eine große Ebene; unabsehbare Reisfelder zogen sich zu beiden Seiten der Bahn hin. Auf den Feldern waren die Landleute bei der Arbeit, meist Frauen und Mädchen. Sie alle tragen große pilzförmige Strohhüte, Strohschuhe und meist graue Kimonos, hochgebunden bis über die nackten Knie arbeiteten sie geschäftig, in gebückter Stellung, schnitten Reisbüschel, legten sie in Reihen auf den etwas feuchten, schwärzlichen Boden. Da und dort auf einem kleinen Acker sah man auch ein altes Ehepärchen Reis schneiden. Manche der niedlichen Frauen und auch manches Mädchen, fast selbst noch Kind, trug bei der Arbeit ein Kind am Rücken, sodass nur das kahle braune Köpfchen aus dem Kimonokragen hinter dem Kopf der Arbeiterin herauslugte und hin und her pendelte. Manches wettergebräunte Gesicht der Reisschnitter und Schnitterinnen wandte sich dem vorbeirollenden Zuge zu und blieb zumeist in heller Verblüffung wie erstarrt, als es merkte, dass aus allen Zugfenstern fremde weiße Gesichter lächelten.

Ungefähr in der Mitte der großen Ebene liegt die Station Onagagawa, ein Städtchen, wo unser Zug längere Zeit hielt. Die Japaner schienen von unserer Durchfahrt verständigt gewesen zu sein, denn viele Bewohner standen mit erwartungsvollen Gesichtern am Bahnhofe, der ganz nach deutschem Muster angelegt zu sein scheint. Der Bahnsteig ist durch eine Schranke nach dem Geleise hin abgegrenzt; um das Stationsgebäude liegen saubergepflegte Gemüse- und Blumenbeete. An den Ausgängen standen Beamte in sauberen Uniformen, mit vielen Abzeichen an Mützen, Kragen und Ärmeln, auch Schutzleute mit ihren schwarzen Uniformen, weißen Handschuhen und kurzen, krummen Seitengewehren, die nickelblank im Sonnenschein glänzten. Es sah hier alles beinahe nach einem festlichen Empfang aus, und wir glaubten fast, dass sich alles uns zu Ehren besser angezogen habe. Es durfte aber keiner von uns den Zug verlassen. – Kurz nach Mittag kamen wir nach Kokura, wo wir den Anweisungen zufolge, die uns in Fukuoka gegeben waren, umsteigen sollten. Unser Zug wurde jedoch auf ein anderes Geleise geschoben, die Lokomotive kam an das andere Ende der Wagenreihe, und wir konnten sitzenbleiben. Am Bahnhofe hatten sich mehrere japanische Offiziere eingefunden, mit denen unser Muriyama eine Weile plauderte. Zwei dieser Militärärzte, die als solche an ihren blauen Krägen und den weißen Knöpfen erkenntlich waren, schienen mit ihren feisten, gutmütigen Gesichtern und den listigen Äuglein besonders gemütlich. Bahnhofsarbeiter, nur mit Kimonos, doch sauber bekleidet, brachten in großen Blechkannen heissen Tee an unseren Zug und boten das Getränk unter vielem Kopfnicken an. Wir füllten unsere Feldflaschen mit dem Tee, der zwar sehr dünn war, aber mit größter Höflichkeit gereicht wurde und uns schon darum gut schmeckte.

Von Kokura aus fuhr der Zug eine kurze Strecke auf dem vorher passierten Damm zurück und bog dann in großem Bogen nach Süden ab. Vor uns tauchten wieder grüne Berge und seltsam verwilderte Täler auf. Immer neue Naturschönheiten zogen an unseren Augen vorüber. Ich dachte an die schönsten Landschaftsbilder, die ich auf der Reise nach Tsingtau, auf Ceylon und auf der Fahrt durch die Malakkastrasse gesehen hatte, fand aber die japanischen Landschaften oft noch schöner, bunter, niedlicher. Aus einem breiten Tale, das von üppig grünenden Hängen umgrenzt ist, ragt da eine Berginsel auf, mit steil abfallenden Wänden, die wie rötliche Mauern leuchten. Aus dem Buschwerk der Insel zeigen vier einsame Palmen mit weit ausladenden Blätterarmen zum hellblauen Himmel. Im Hintergrunde erheben sich riesige, weißliche Berge, von der Herbstsonne an den Rändern wie vergoldet. Auf der Ebene sind Felder und Baumschulen angelegt, in deren Nähe wieder Urwald wuchert. Zwischen zerrissenem Miniaturgebirge, Steinwänden und Ravinen liegen niedliche, gepflegte Blumenbeete, feine Sommerhäuschen und Tempelchen. Da und dort auf einer scheinbar unzugänglichen Bergwand leuchtet aus dem grünen Dickicht eine Tafel in schreienden Farben, preist mit englischen und japanischen Reklameschriftzeichen ein Zahnputzmittel, Bier oder eine Speisenwürze an und erinnert wieder an den »Segen« der Zivilisation. Sogar auf die ärmlichen grauen Dächer einsamer Holzhäuschen und Dörfchen hat eine rührige Geschäftswelt schon mehr oder weniger schöne, aber immer auffallende Reklametafeln gesetzt. Aber diese stören das Auge kaum, sie werden als so nebensächlich in der wunderbaren Eigenart der gesamten Landschaft empfunden wie kleine andere Schönheitsfehler, die man an der Gegend bemerken mag.

Am Spätnachmittag erblickten wir zur Linken die Meeresbucht, an der Oita liegt. Der Zug kroch langsam an grünen Berghängen entlang. Es tat ordentlich wohl, das Auge wieder auf das Meer richten zu können, Wie ein Symbol der Freiheit schien mir immer das Meer. Und in Gefangenschaft besonders. Nach dem Städtchen Oita, wo ein anderer Käfig uns erwartete, mochte kaum einer von uns neugierig Ausschau halten. Das Land wurde ebener; weite Felder, auf denen einzelne Ziehbrunnen ihre langen Zieharme zum Himmel reckten, erinnerten an ungarische Steppen, auch die kleinen, runden, mit Stroh gedeckten Häuschen, die vereinzelt auf der Ebene verstreut lagen, erinnerten irgendwie an heimatliche Landschaften. Alles was auch nur an eine »europäische« Landschaft erinnerte, mutete uns schon heimatlich an. Dennoch gewann man auch an japanischen Eigenarten wieder großes Interesse. Am Fuße eines mächtigen Berges pflügte ein japanisches Bäuerlein. Wie Spielzeug sah er mit seinem Pfluge aus. Solches Gerät zum Pflügen mochte bei uns daheim der Bauer der Urzeit gebraucht haben: Zwei starke, glatte Baumäste bilden einen Widerhaken, an dessen Ende eine Pflugschar angebracht ist, die von einem mageren Kuli durch die ohnehin lockere, aschengleiche Erde gezogen wird, während der Bauer das schräg hochstehende Ende des Astes fest in der Hand hält. Auch Eggen sah ich, Holzwalzen mit Eisenzähnen, wie man sie auch daheim haben mag. In den japanischen Dörfern bemerkte ich auch, dass man anscheinend überall einen gemeinsamen freien Platz, harten, glatten Lehmboden, als Tenne in dem Dorfe benützt wie in Chinesendörfern. Die Japaner bearbeiten auf diesen Tennen ihre Feldfrüchte. Auf einer Bank mit hochstehenden langen Eisenzähnen, einer Art Kamm, dreschen sie ihre Reisbüschel in der Weise, dass sie dieselben auf den Kamm schlagen und durchziehen. Kurz bevor wir nach Oita kamen, sah ich auch, wie eine Frau auf ihrem mit altem Gerümpel und Strohhaufen umgebenen Hof mit einem vierkantigen Dreschflegel, den sie an einem langen Stiele bewegte, auf die Reisbüschel einschlug. Das Werkzeug hatte viel Ähnlichkeit mit der alten heimischen »Drischel«, die in meines Großvaters Scheune noch im Gebrauche war, als ich noch ein Kind war.

Wir fuhren dicht am Strande entlang, an Fischerhütten und Bootswerften vorüber. Es roch nach Transiedereien. In Beppu, einem Badeort mit heissen Quellen, sahen wir zwischen den grauen japanischen Häusern auch einige europäisch aussehende villenartige Gebäude. Ein weißer Dampfer lag an der Mole. Eine breite Fahrstraße, deren Rand durch Quadersteine nach der Wasserseite hin befestigt ist, zieht sich am Strande entlang. Auf der Strasse, die nach Oita führt, verkehrt die elektrische Straßenbahn zwischen Beppu und Oita.
 

Anmerkungen

1.  Unbekannter Name. Dieses Problem kommt im Folgenden häufiger vor, wobei es nicht klar ist, ob der Verfasser für einige Leute Spitznamen statt Klarnamen verwendet hat oder schlicht ein Schreibfehler vorliegt. Der Redakteur verzichtet deshalb auf weitere Anmerkungen in solchen Fällen.

2.  Das folgende »Verbrechen« wird, mit einigen Variationen, auch in einer Anekdote aus dem Lager Kurume berichtet – Zufall?

3.  Vergleiche den Besuchsbericht!
 

© Jakob Neumaier: für diese Fassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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